Außenpolitische Fragen haben in deutschen Wahlen immer wieder eine Rolle gespielt. Man denke nur an Gerhard Schröders Wahlkampf gegen eine deutsche Beteiligung am Irakkrieg im Jahr 2002. Aber als wahlentscheidend gelten sie normalerweise nicht.
Unterschiede zwischen den Parteien gibt es da immerhin, sogar große: AfD und BSW wollen letztlich einen Ausgleich mit Putin, andere Parteien die Eindämmung Russlands. Und auch da gibt es Unterschiede, etwa hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine. Umfragen zu dem Thema ergaben kein schlüssiges Bild. Mal lagen „Frieden und Sicherheit“ vorne bei der Frage nach den wichtigsten Problemen, mal nicht. Die Wirtschaft und natürlich vor allem die Migration spielten im Wahlkampf bisher eine größere Rolle.
Historisch nie da gewesene Lage
Spätestens nach der Bildung einer neuen Regierung dürfte die Außenpolitik aber wieder mit Macht auf die Tagesordnung zurückkehren, weil sich die Bundesrepublik in einer historisch nie da gewesenen Lage befindet: Es gibt wieder eine Bedrohung aus dem Osten, aber anders als im Kalten Krieg ist sie diesmal „heiß“. Noch gravierender ist, dass der Fortbestand des amerikanischen Schutzschildes ungewiss ist. Entscheidend ist dabei nicht einmal, ob das viel zitierte Zwei-Prozent-Ziel der NATO erfüllt oder hochgesetzt wird. Schon allein die Tatsache, dass Trump Zweifel an seiner Bereitschaft geweckt hat, die Verbündeten zu verteidigen, schwächt die Abschreckung der Allianz. Putin kann es in sein Kalkül einbeziehen.
In einer Demokratie sagt meist die Verfassung, was ein Land außenpolitisch tun kann, zumindest in groben Zügen. Ein Blick ins Grundgesetz offenbart zunächst, dass die Bundesrepublik auch in der Außenpolitik ein Gegenentwurf zur Nazizeit sein sollte. Das deutsche Volk sei „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, heißt es gleich in der Präambel.

In Artikel 24 wird genauer beschrieben, wie das geschehen soll: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“ Schließlich wird in Artikel 26 dargelegt, was auf gar keinen Fall geht: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“
Diese drei Vorgaben (Friedenswahrung, internationale Zusammenarbeit, Verbot des Angriffskriegs) haben die deutsche Haltung zur Welt immer wieder geprägt, erst für die alte Bundesrepublik und nach dem Beitritt der ostdeutschen Länder die des wiedervereinten Deutschlands. In der Praxis waren sie allerdings nicht immer leicht zu befolgen, wie die Debatte über Auslandseinsätze der Bundeswehr in den Neunzigerjahren zeigte. Das Bundesverfassungsgericht musste die Frage klären, und es erfand dabei den sogenannten Parlamentsvorbehalt, von dem im Grundgesetz nichts steht.
Jeder ist sich selbst der Nächste
Hilft das weiter im 21. Jahrhundert, das vermutlich von einer scharfen Machtkonkurrenz zwischen einzelnen Großmächten und mehreren Mittelmächten geprägt sein wird? (Deutschland gehört zu letzteren, wenn auch nicht militärisch.) Die Antwort lautet wohl Jein. Einen Angriffskrieg sollte Deutschland sicher auch heute nicht führen. Aber das wichtigste „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“, dem es beigetreten ist, die NATO, geht einer unsicheren Zukunft entgegen. Überhaupt nimmt der Wille zur Kooperation ab. „In die Beschränkung seiner Hoheitsrechte“ will kaum noch ein Land einwilligen, noch nicht einmal in Europa.
Was also tun? Die deutsche Gesellschaft wird nicht darum herumkommen, sich erst einmal einen besseren Begriff davon zu machen, in welcher Welt sie lebt und was darin die Ziele der Außenpolitik sein sollten. In der Politikwissenschaft gibt es mehrere Theorieschulen zur Internationalen Politik, von denen die älteste am besten zur heutigen Zeit passt: der sogenannte Realismus. In seiner modernen Form geht er verkürzt gesagt davon aus, dass es einen grundlegenden Unterschied gibt zwischen der Innen- und der Außenpolitik: Die Innenpolitik ist in den meisten Staaten, vor allem in den westlichen, von einer Regierung gekennzeichnet, die Gesetze durchsetzen und die Ordnung wahren kann. Das gibt es in der Weltpolitik nicht, es gibt keine Weltregierung und keine Weltpolizei. International müssen sich die Staaten nach realistischer Auffassung in einer „Anarchie“ behaupten, man spricht auch von einem „Selbsthilfesystem“. Umgangssprachlich ausgedrückt: Jeder ist sich selbst der Nächste.
Diese Modellierung heißt nicht, dass in der Weltpolitik Chaos herrscht, auch wenn die täglichen Nachrichten das oft nahelegen mögen. Es gibt das Völkerrecht mit all den Institutionen, die es hervorgebracht hat, vor allem die Vereinten Nationen, und es gibt viele andere zwischenstaatliche Übereinkünfte, vom Kulturaustausch bis zu Handelsabkommen. Der springende Punkt ist, dass es im anarchischen System keine übergeordnete Instanz gibt, die diese Regeln im Streitfall durchsetzen kann. Das gilt selbst für die internationale Gerichtsbarkeit, die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurde. Die Ukraine klagte vor dem Internationalen Gerichtshof erfolgreich gegen den Überfall durch Russland, aber Putin ignorierte das Urteil einfach.

Deshalb verweisen Realisten auf die überragende Bedeutung, die Macht in der Weltpolitik hat. Ob ein Land seine Ziele erreicht, ob es überhaupt friedlich leben kann, hängt davon ab, wie stark es ist, und zwar in erster Linie, wie stark es militärisch ist. Wirtschaftliche Stärke ist dafür eine Voraussetzung, aber sie bewirkt am Ende nie so viel wie Gewehre oder Panzer. Das ist eine der ältesten Lehren der Geschichte.
Das wichtigste Prinzip, nach dem die Weltpolitik funktioniert, ist nach dieser Schule deshalb die sogenannte Machtbalance. Kein Land war je so stark, dass es die ganze Welt kontrollieren konnte, auch wenn es immer wieder welche versuchen. In der Praxis tun sich schwächere Länder zusammen, um ein Gegengewicht gegen stärkere Länder aufzubauen (sogenanntes „balancing“), oder sie werden Mitläufer eines starken Staates (sogenanntes „bandwagoning“). Auch wenn die Übergänge fließend sein können, kann man die EU als ein Beispiel für Ersteres sehen. Die europäischen Mittelmächte sind hier zusammengeschlossen, um sich gegen mächtigere Staaten wie China oder (zumindest in Handelsfragen) auch Amerika zu behaupten. Die NATO kann man als Beispiel für Letzteres betrachten, weil die vor allem nuklear schwachen Europäer sich hier mit einem starken Land wie Amerika verbündet haben, um Sicherheit zu gewinnen, früher gegen die Sowjetunion, heute gegen Russland.
Die realistische Theorie war in Deutschland nie besonders populär. An den politologischen Lehrstühlen wurde sie unterrichtet, aber man bevorzugte Theorien, die stärker auf Zusammenarbeit ausgerichtet waren. Das entsprach lange dem Zeitgeist und letztlich auch dem Grundgesetz. Von Macht ist darin nicht die Rede, es geht um universelle Ziele wie Frieden und Völkerverständigung.
Ein Verständnis für Machtpolitik
Davon wird man sich heute nicht verabschieden müssen, aber eine Dosis Realismus braucht die deutschen Außenpolitik ohne Zweifel. Was wir heute täglich beobachten, ist ja eine Folge von Veränderungen in der Machtbalance: China steigt auf, vielleicht auch Indien; es entstehen neue Gegengewichte zum Westen wie die BRICS-Gruppe. Amerika verliert Macht, zumindest relativ, Europa noch mehr. Deutschland trifft diese Veränderung besonders stark, weil es eine Mittelmacht mit mäßiger militärischer Ausstattung ist. Allein wäre es nicht in der Lage, in der gegenwärtigen Konstellation des anarchischen Systems zu überleben. Es braucht vor allem Partner für seinen militärischen Schutz. Mit der Wiederaufrüstung der Bundeswehr ist es allein nicht getan, auch wenn sie überragend wichtig ist: Verbündeten muss man auch was bieten.
In der öffentlichen Debatte kommen diese Aspekte bisher allenfalls abgeschwächt vor. Die Ampel war nicht die erste Bundesregierung, die als außenpolitisches Ziel die Schaffung einer „regelbasierten Ordnung“ ausgab, und das sogar weltweit. Im Grunde stellt man sich in Deutschland die Außenpolitik immer noch als eine Verlängerung der Innenpolitik vor. Unsere Werte sollen global verankert werden, vom Klimaschutz bis zu den Frauenrechten. Realisten schütteln da nur den Kopf.
Was heißt das konkret? Aus einer Theorie kann man kein Regierungsprogramm ableiten, dafür ist sie zu abstrakt. Aber sicher muss unser Land lernen, ein Verständnis für Machtpolitik zu bekommen. Oft scheitert die deutsche Außenpolitik schon an der Analyse: Man kann nicht gleichzeitig „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ sein, wie es in der deutschen Chinastrategie heißt. Entweder man schafft ein Gegengewicht zu dem Land, oder man verbündet sich mit ihm. Aus genau diesem Grund ist die deutsche Russlandpolitik so kläglich gescheitert, Deutschland wollte beides. Bei der Wahl seiner Partner sollte man also vorsichtig sein, und bewährte Verbündete sollte man pflegen. Auch wenn er es uns nicht leicht macht: Das gilt auch für Amerika unter Trump.