Freiwillige holen russischen Drohnen vom Himmel

19

Wenn sich die Drohne nähert, bleiben Puma und Walerij zwei Minuten. Dann springen sie auf die Ladefläche ihres weißen Pritschenwagens, greifen ein zweiarmiges Stativ, das sie auf eine drehbare Plattform stecken, und holen aus einer Holzkiste zwei Maschinengewehre, die sie auf dem Stativ arretieren. Sie befestigen unter jedem Gewehr einen Metallcontainer mit Patronenband, das sie in die Waffen führen, stecken zwischen beide Gewehre das Zielfernrohr inklusive Monitor und holen aus einer weiteren Kiste einen Griff mit zwei kleinen Flugabwehr-Scheinwerfern. Diese hält Walerij in der Hand, der hinter Puma steht, die mit beiden Händen die parallel angebrachten Maschinengewehre gen Himmel richtet.

„Gut!“, ruft Ako, der direkt vor der Ladefläche steht. „Gleich noch mal von vorn!“ Beide bauen flink wieder ab und abermals auf, genau wie die beiden Teams neben ihnen, die sich an einem Samstag Mitte Februar in einem Wald bei Kiew zum Training versammelt haben. Ako ist ihr Instrukteur, der wie Puma nur mit Kampfnamen genannt werden möchte. Der Mittvierziger hat nur zögerlich der Anfrage nach Begleitung des Trainings zugestimmt. Denn die Frauen und Männer dieser Einheit erledigen eine der wichtigsten Aufgaben jenseits der Front, seit Russland die Ukra­ine überfallen hat: Sie holen Nacht für Nacht russische Drohnen und Raketen vom Himmel, die mit tödlicher Fracht bestückt auf die Hauptstadt Kiew und ihre Vororte zufliegen.

Eine Schicht dauert 24 Stunden

Puma ist 52 Jahre alt und von Anfang an dabei. Ihr Mann und ihr Sohn seien seit Kriegsbeginn in der Armee. „Da wollte ich auch hin“, erzählt sie. „Aber es hieß: ‚Nein! Unsere Armee schützt Frauen!‘“ Also habe sie hier angeheuert. Eigentlich würde sie hier lieber jeden Tag Dienst tun. „Aber ich muss Geld verdienen.“ Tagsüber arbeitet sie als Sicherheitskraft in einem Agrarbetrieb. Auch ihr Kamerad Walerij wollte 2022 sofort zur Armee, war aber mit seinen 56 Jahren zu alt, also ging auch er hierher. In seinem Berufsleben arbeitete er als Fahrer und durfte dann früh in Rente, weil er 1986 nach dem GAU im Kernkraftwerk Tschernobyl einem der Aufräumtrupps angehörte.

Puma im Camp der Freiwilligen
Puma im Camp der FreiwilligenYulia Serdyukova

Ihre Einheit, das „Butscha Freiwilligenkorps“, ist Teil der Territorialverteidigungskräfte, die neben Armee und Nationalgarde der dritte Pfeiler im ukrainischen Abwehrkampf sind. Sie besteht aus Freiwilligen und operiert im Norden Kiews, dessen hier gelegene Vororte auch für die materielle Finanzierung aufkommen. Mehrere solcher Einheiten bilden einen Flugabwehrring um die Hauptstadt. Die Männer und Frauen schieben unentgeltlich Dienst, und zwar je eine 24 Stunden lange Schicht, danach gibt es 48 Stunden frei. Und jeden Samstag wird trainiert.

An diesem Morgen hat es frisch geschneit, und es sind acht Grad unter null, als von 7 Uhr an die ersten Frauen und Männer an dem am Rande eines Dorfs gelegenen Stützpunkt eintreffen. Zwei Männer befreien den Appellplatz von Schnee, drei Frauen stehen unter dem Vordach und rauchen erst mal eine Zigarette, dann kehren sie Schnee von den Pick-ups. Alle tragen Tarnfleck, darunter dicke Fleecejacken, Wollmütze und Kapuze. Auf ihren Uniformen stehen ihr Name und die Blutgruppe. Einige haben ein Gewehr am Riemen über der Schulter hängen.

Wertalij hat die Toten von Butscha gesehen

Um 8 Uhr erscheint Andrij Wertalij, Oberst und Kommandeur der Truppe, vor den angetretenen Kräften. 14 Frauen und 25 Männer, die keine Nachtschicht hatten, sind da, knapp die Hälfte der gut 100 Leute, die Wertalij zur Verfügung hat. Eigentlich ist seine Einheit 150 Verteidiger stark, doch es ist wie in diesen Tagen fast überall in der Ukraine: Es fehlt an Personal, und jüngst erst hat die Armee auch noch 20 seiner Männer eingezogen. In ruhigem, aber bestimmten Ton sagt er an, dass er verstehe, wenn sich Leute krankmeldeten oder wegen der Kinder nicht zum Dienst kommen könnten. Doch wer unentschuldigt fernbleibe, könne es auch gleich bleiben lassen. Hinter der Truppe geht jetzt die Sonne auf, es weht ein eisiger Wind. Auf dem See hinter ihnen sitzen die ersten Eisangler auf ihren Klapphockern.

Oberst Andrij Wertalij in seinem Büro
Oberst Andrij Wertalij in seinem BüroYulia Serdyukova

Wertalij ist 51 Jahre alt. Als Russland sein Land überfiel, arbeitete er im Umweltministerium. Er hat drei Kinder, ist deshalb vom Wehrdienst befreit und beschloss, in dieser Verteidigungseinheit zu dienen. Mit seinen Leuten war er dabei, als sie nach dem Rückzug der Russen in Butscha zwei Monate nach Beginn der Invasion aufräumten. Er hat die toten Zivilisten des Kiewer Vorortes auf den Straßen liegen sehen, die von den abziehenden Truppen angezündet worden waren, wohl in dem Versuch, das Kriegsverbrechen zu vertuschen. Fast 500 Menschen ermordeten die Russen hier, sie folterten, erschossen, zündeten sie an. Ihn braucht man zu diesem Dienst nicht zwingen, macht Wertalij deutlich. Er weiß genau, warum er das tut.

Jede Woche wird trainiert

20 Minuten später sind alle zum Aufwärmen im Stützpunkthaus, einem halb fertigen Ziegelbau. Kaffeebecher werden herumgereicht, Witze erzählt, eher rau in Sprache und Inhalt. In Wertalijs Büro hängen die Flaggen seiner Einheit und eine der US-Marines. „Die waren mal hier, um uns zu trainieren“, erzählt er. „Am Ende haben sie gesagt: Wow, eigentlich können wir von euch was lernen.“ Ein Funken Stolz huscht jetzt über sein Gesicht. Zusammen mit drei erfahrenen Kommandeuren hat er die Truppe auf Zack gebracht. Sie arbeiten nicht nur in der Flugabwehr, sondern immer wieder auch an der Front, in der zweiten Verteidigungslinie.

Das Camp der Freiwilligen nahe Kiew
Das Camp der Freiwilligen nahe KiewYulia Serdyukova

Dort helfen sie bei Logistik und Bauarbeiten an Schützengräben, um den ganz vorn kämpfenden Truppen Pausen zu ermöglichen. Zuletzt kehrten sie Anfang Dezember von der Front bei Pokrowsk zurück, einem der am härtesten umkämpften Abschnitte. Fünf Tage später sei die Anfrage eingegangen, ob sie nicht wiederkommen könnten. „Ging leider nicht“, sagt Wer­talij. Viele seien einfach zu erschöpft gewesen. Die Armee versucht, mit Freiwilligen Personallöcher zu stopfen. Bei der Flugabwehr müsse er dann die Arbeit anderer Einheiten mitübernehmen. Aktuell hat Wertalij auch noch die Gebiete zweier benachbarter Einheiten mit abzudecken.

Die Abläufe müssen deshalb sitzen, das trainieren sie jede Woche. Die Drohnen können, so sie durchkommen, immensen Schaden anrichten an Strom- und Heizkraftwerken, sie zerstören Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen. Und sie fordern nahezu täglich zivile Opfer. Jede abgeschossene Drohne sichert Leben. Beim Training im Wald lassen sie keine Drohne fliegen, und es wird auch nicht geschossen. Material ist knapp und wird für den Einsatz gebraucht. „Drohne in fünf Kilometer Ost, Höhe 600 Meter!“, ruft Ako. Puma lenkt das MG in die angesagte Richtung und neigt es ein wenig nach vorn, Walerij richtet die Scheinwerfer aus. Im Einsatz bekommen sie die Flugstrecken meist von Aufklärungseinheiten übermittelt.

Pumas Mann wurde verwundet

Ako fuchtelt jetzt mit den Armen, er erklärt Abschusswinkel und -höhen sowie die Taktik der Russen. Die schicken die aus Iran stammenden Shahed-Drohnen – die Ukrainer nennen sie wegen der knatternden Zweitaktmotoren auch Mopeds – fast immer in Schwärmen, um die Flugabwehr abzulenken und zu überwältigen, um die Chance zu erhöhen, dass eine Drohne oder gar Rakete mit noch größerer Zerstörungskraft durchkommt, die sie meist zeitversetzt hinterherschicken. Für Puma und Walerij heißt das höchste Konzentration und vor allem Schnelligkeit. Nach jedem Einsatz mit Schüssen müssen sie zudem flink ihre Position wechseln, um nicht selbst zum Ziel zu werden. Deshalb das penible Auf- und Abbautraining auf Zeit.

„Ich habe schnell gelernt, mit dem Maschinengewehr umzugehen“, sagt Puma. Ihre Augenbrauen sind mit dickem Stift nachgezogen, in Nase und einer Augenbraue blitzen je ein Stecker. In ihren Brusttaschen stecken zwei Magazine für ihr Gewehr. Sie war nur kurz Assistentin und stieg schnell zum Operator auf. Aber jeder müsse hier alles können, sagt sie. Daheim lebt sie mit ihrer Schwiegertochter und der Enkelin, stets in Sorge um ihre Männer an der Front. Ihr Ehemann war bereits verwundet und ist jetzt wieder im Kampf bei Donezk.

Puma in voller Montur
Puma in voller MonturYulia Serdyukova

Doch auch ihr Job ist gefährlich. Herabfallende Drohnenstücke haben schon Kameraden verletzt. Deshalb sind Helme und Schutzwesten Pflicht. Wie viele Abschüsse sie bereits hatte? „Jede Menge!“, ruft sie. Die erste Drohne holte sie nach zwei Monaten vom Himmel, seitdem ging es Schlag auf Schlag. „Es vergeht kaum eine Nacht ohne.“ Erst vergangene Woche hatten sie es wieder mit einem Schwarm zu tun – gut 70 Stück auf einmal. Die Shaheds flögen eher langsam und seien bei niedriger Höhe auch mit einem normalen Gewehr zu treffen.

„Es ist hart, ja, aber es ist Krieg“

Die Maschinengewehre, die sie hier einsetzen, stammen noch aus der Sowjetunion aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Im Lagerraum des Stützpunkts zeigt Kommandeur Wer­talij ein neues, großes MG. „Können wir leider nicht nutzen“, sagt er. „Ist zu schwer für unsere Pick-ups“. Sie hoffen nun auf ein robustes Fahrzeug, auf dem sie die neue Waffe montieren können. Das Geld in der Gebietsverwaltung ist jedoch knapp, deshalb sammelt die Einheit Spenden – in Sach- und Geldform. Hinter Wer­ta­lijs Schreibtisch liegt ein Haufen eingeschweißter Platten für Schutzwesten. Frisch gespendet reingekommen, sagt er. Und dringend benötigt. Die Platten seien aus leichtem Material und deshalb vor allem für die Frauen seiner Einheit besser zu tragen.

Puma sagt, sie komme kaum noch zu etwas anderem. Ihre Woche bestimmten tagsüber ihr Beruf und nachts die Flugabwehrschicht. „Es ist hart, ja, aber es ist Krieg“, sagt sie. Ihr Sohn wollte verhindern, dass sie auch zum Militär geht, doch ihr Mann habe ihm das ausgeredet. „Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, bin ich wie ein Panzer und ziehe das durch.“ So viele unschuldige Menschen habe sie sterben sehen. „Ich will helfen, das zu verhindern, und ich muss meine Familie und mein Land schützen.“ Dann ruft Ako sie zum Schießstand.

Einsatz bis zur russischen Kapitulation

Die Übungen mit dem Gewehr sind der zweite Teil des Trainings, und hier wird tatsächlich scharf geschossen, im Stehen, kniend, aus dem Lauf auf hundert Meter entfernte Zielscheiben. „Schneller“, ruft Ako und: „Positionswechsel!“ Walerij, Pumas Kompagnon, steht etwas abseits. Er sagt, dass es nicht einfach sei, Drohnen zu treffen. Walerij ist ein nüchterner, leiser Typ, der nicht viele Worte macht. Er ist Russe, geboren und aufgewachsen in der Ukraine. Seine Wehrpflicht hat er noch in der Sowjetarmee absolviert. „Nie“, sagt er, „nie hätte ich mir vorstellen können, noch mal Krieg zu haben.“ Und schon gar nicht gegen Russland.

Walerijs Sohn ist vor einem Jahr gefallen. Er erzählt es fast beiläufig. Jetzt lebt er mit seiner Tochter und deren drei Kindern sowie den beiden Kindern seines Sohnes in einem Haus. 13 Jahre ist das älteste Enkelkind, acht Monate das jüngste. Er blinzelt jetzt ein wenig unter seinem Helm hervor. „Niemand sollte ein anderes Land überfallen“, sagt er. „Niemand kommt uneingeladen in mein Haus.“ Er erscheint deshalb fast täglich zur Schicht. Wie lange noch? „Bis zur russischen Kapitulation. Ich habe gar keine andere Wahl.“ Und wie fest glaubt er daran? „Wäre ich sonst hier?“, fragt er, und erstmals huscht ein Lächeln über sein Gesicht.

Am frühen Nachmittag packt die Einheit zusammen. Ako scheint zufrieden zu sein mit dem Training. Puma steigt mit drei anderen Frauen in einen Pkw, sie fahren zurück zum Stützpunkt. Sie wollen noch etwas ruhen vor der langen Nacht. Während anderswo auf der Welt Menschen am Samstag einkaufen, zu Familienfeiern oder zum Vereinssport gehen, warten die Freiwilligen der Flugabwehr bei Kiew auf ihren Einsatz. Am nächsten Tag wird die Öffentlichkeit dann vor allem zwei Zahlen zu lesen bekommen: wie viele Drohnen und Raketen Russland wieder auf die Ukraine abgeschossen hat und wie viele davon die Luftverteidiger erwischen konnten.