Vielleicht ist Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands, am ehesten eine Mahnung: jahrhundertealte Wohnbauten, mit vier oder fünf Etagen und Ladengeschäft im Erdgeschoss, restaurierte Fassaden in unterschiedlichen Farben, die sich aneinanderreihen, davor kopfsteingepflasterte Sträßchen. Es ist ein kalter Wintermorgen, die Innenstadt liegt ruhig da, die Konturen der Gebäude zeichnen sich scharf gegen die weißgraue Himmelstristesse ab. So oder so ähnlich könnte es an vielen Orten in Deutschland aussehen – hätte dieses Land, hätten die Deutschen nicht den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Görlitz, eine Blaupause im Präteritum.
Die unzerstörte Stadt als Mahnung, diesem Gedanken kann Jasper von Richthofen etwas abgewinnen. Der Direktor des städtischen Museums, der Görlitzer Sammlungen, empfängt in einem 450 Jahre alten Kaufmannshaus, die Fassade zieren Reliefs mit Bibelszenen. Über schmale, verwinkelte Treppen erreicht man sein Büro tief im Innern des Gebäudes. Die Görlitzer Architektur, erzählt von Richthofen, sei zwar nicht zerstört worden. „Aber eigentlich hat die Nachkriegszeit in Görlitz nie aufgehört.“ Denn was über Jahrhunderte die östliche Vorstadt von Görlitz war, ist heute eine eigenständige Kommune in einem anderen Land: das polnische Zgorzelec. Dazwischen fließt die Neiße, seit 1945 markiert sie eine politische Grenze. Auch das ist, wie die zerstörten deutschen Innenstädte, eine Folge des Zweiten Weltkriegs.

2025 jährt sich das Ende des Krieges, in dem mehr als 60 Millionen Menschen starben, zum achtzigsten Mal – und damit auch das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Es gibt zahlreiche Gedenkveranstaltungen: zur Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee, zum Tag der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945, zum Kriegsende allgemein. Staatsmännische Reden werden gehalten, Bundeskanzler, Bundespräsident, diverse Staatschefs. Das große Besteck.
Der nationalsozialistische Normalzustand
Wie jedoch kann man im kleineren Rahmen an die NS-Zeit erinnern, abseits der staatstragenden Events? Mit dieser Frage beschäftigt von Richthofen sich schon seit Monaten. Von Mitte März an zeigen die Görlitzer Sammlungen eine Ausstellung über die Stadtgesellschaft während der Nazizeit. Wie kann man ihn zeigen, den nationalsozialistischen Normalzustand? Das Museum hat Geschichten gesammelt von Bürgern, die während dieser Zeit in Görlitz lebten – der Kneipenbesitzer, der Friseur, der Pfarrer. Der junge Abiturient, der sich zur Wehrmacht meldet. Erinnerungen von Menschen aus dieser dunkelsten deutschen Zeit.
Zusammengekommen sind viele Geschichten, rund ein Dutzend werden in der Ausstellung zu sehen sein. Eingesandt wurden sie von Görlitzer Bürgern nach einem Aufruf des Museums. Dieser hatte noch einen anderen Effekt: Als die „Sächsische Zeitung“ im Februar 2024 einen Artikel über die Aktion auf Facebook postete, kamen darunter mehr als 700 Kommentare zusammen. „Kann man das nicht mal nach 80 Jahren gut sein lassen?“ sei da zu lesen gewesen, erzählt von Richthofen; von „Schuldkult“ war die Rede, jemand drohte, eine „neue Regierung“ werde das Projekt stoppen.
Für manche war die NS-Zeit nur ein „Vogelschiss“
Die Frage nach dem Warum, sie ploppte immer wieder auf in der Kommentarspalte. Warum muss man sich überhaupt mit dieser Zeit beschäftigen? Warum sollte man acht Jahrzehnte nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft daran erinnern? Es ist eine Frage, die auch im politischen Diskurs gestellt wird. Mit der AfD sitzt eine Partei im Bundestag, in 14 deutschen Landesparlamenten und in unzähligen Stadträten und Kommunalparlamenten, deren Vertreter die Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus immer wieder infrage stellen.
Die NS-Zeit sei ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte, sagte etwa Alexander Gauland, heute AfD-Ehrenvorsitzender. Und Thüringens AfD-Chef Björn Höcke forderte mit Blick auf die Nazizeit eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ – und wurde im vergangenen Jahr dafür verurteilt, eine verbotene SA-Parole öffentlich verwendet zu haben. Weitere Beispiele gibt es zuhauf.
In Görlitz erreicht die AfD seit Jahren mehr als 30 Prozent. In vielen weiteren Kommunen ist die Partei die stärkste Kraft, in einigen Ländern ebenso, und auch bei der Bundestagswahl dürfte sie erfolgreicher abschneiden als je zuvor. Was bedeutet das für die deutsche Erinnerungskultur, für das Gedenken an die NS-Zeit und den Holocaust? Kippt da gerade etwas?
Er prüft die Radmuttern, bevor er ins Auto steigt
Wenn Jens-Christian Wagner sich im Auto seinem Arbeitsplatz nähert, drehe er die Musik leiser, erzählt er. „Das kommt mir sonst unangemessen vor.“ Sein Arbeitsplatz, das ist das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Wagner leitet die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Hier, in Thüringen, gut 300 Kilometer westlich von Görlitz und in unmittelbarer Nähe zur Stadt Weimar, betrieben die Nazis eines der größten Konzentrationslager auf deutschem Boden. Heute dient der Ort dem Gedenken. Jeden Tag werden Führungen angeboten, Jahr für Jahr besuchen Massen an Schülern Buchenwald.
Bevor sich Jens-Christian Wagner auf den Weg zur Arbeit macht, prüft er, ob die Radmuttern seines Wagens noch fest sitzen. Vorsichtsmaßnahme, ein Tipp der Polizei. Denn der Gedenkstättenleiter wird erkannt, beleidigt, bedroht, er ist zu einer Person des öffentlichen Lebens geworden. Das hat damit zu tun, wie er seinen Job begreift. „Ich war schon immer der Meinung, dass Gedenkstättenarbeit auch eine politische Funktion hat“, sagt Wagner. Der 58 Jahre alte Historiker sitzt an einem Konferenztisch in seinem geräumigen Büro, im Erdgeschoss eines ehemaligen Kasernengebäudes.
Die „politische Funktion“ seiner Arbeit, das heißt konkret: Er mischt sich ein, sucht die Öffentlichkeit, positioniert sich. Vor der Thüringer Landtagswahl im Herbst vergangenen Jahres etwa schickte Wagner Briefe an 350.000 Bürger, in denen er vor der Wahl der AfD warnte. Einer Partei, „die das Leiden der Opfer des Nationalsozialismus auch in den thüringischen Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora aus der Erinnerung tilgen will“, wie es in dem Brief hieß. Und als der AfD-Politiker Jörg Prophet 2023 für die Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen kandidierte, wies Wagner öffentlichkeitswirksam auf dessen geschichtsrevisionistische Aussagen hin.

„Wenn die Würde der NS-Opfer angegriffen wird, wenn die NS-Verbrechen kleingeredet, verharmlost oder sogar geleugnet werden“, sagt Wagner, „ist es unsere Pflicht, uns aus den Gedenkstätten heraus dagegen zu positionieren.“ Die größte Gefahr sieht der Stiftungsleiter in dem, was er „erinnerungspolitischen Klimawandel“ nennt: in der Verschiebung des Diskurses. Die AfD sei „sowohl Motor als auch Symptom“ dieses Wandels, denn sie trage maßgeblich dazu bei, den Diskurs „in Richtung Geschichtsrevisionismus, NS-Verharmlosung bis hin zu NS-Verherrlichung“ zu verschieben. Und auch für die Arbeit der Gedenkstätten hätten die Wahlerfolge der Partei Konsequenzen.
Der „erinnerungspolitische Klimawandel“ äußert sich auch in den Erinnerungsorten selbst. Laut der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten steigt die Zahl der Übergriffe auf die Erinnerungsorte stark an. Hingeschmierte Hakenkreuze, beschädigte Gedenktafeln, Hitlergrüße auf dem Boden ehemaliger Konzentrationslager – auch in Buchenwald nähmen solche Taten seit etwa zehn Jahren kontinuierlich zu, erzählt Wagner. Insbesondere vor der Thüringer Landtagswahl im vergangenen Herbst habe es mehr tätliche Angriffe und verbale Attacken gegeben als sonst. „Dinge, die früher alle paar Monate mal aufgetreten sind, treten jetzt alle paar Wochen auf“, sagt er. „Und zeitweise sogar täglich.“
Die Öfen im Krematorium waren Prototypen für Auschwitz
Wenige Hundert Meter entfernt von dem Kasernengebäude, in dem Wagner sein Büro hat, ragt der ehemalige Hauptwachturm des Lagereingangs auf. Vom Eingangstor aus fällt der Blick auf eine leicht abschüssige Fläche, der eisige Wintertag hüllt sie in Stille. Bordsteine umranden dunkle Geröllfelder, die anzeigen, wo einst die Baracken der KZ-Häftlinge standen. Sie sind nicht mehr erhalten, doch das Krematorium steht noch. In dessen Hof, wo sich vor acht Dekaden ausgemergelte Leichen türmten, steht an diesem Tag ein gutes Dutzend Besucher.
„Hier wurden Menschen wie Abfall verbrannt“, sagt der Guide, der die Gruppe durch die Gedenkstätte führt. Innerhalb von 24 Stunden, erklärt er, konnten hier 300 bis 400 Menschen eingeäschert werden. In Öfen, die Prototypen waren für die Verbrennungsanlagen in Auschwitz. „Unvorstellbar“, sagt ein Teilnehmer halblaut, als der Mitarbeiter der Gedenkstätte die Gruppe durch eine Genickschussanlage neben dem Krematorium führt. „Das waren Menschen wie wir“, sagt ein anderer Besucher, und der Guide ergänzt: „Menschen wie du und ich.“
Die meisten Exponate zur Nazizeit sind langweilige Flachware
Auch Buchenwald ist eine Mahnung. In der Gedenkstätte werden die Schrecken der NS-Zeit sichtbarer, zumindest ein bisschen, das Unbegreifliche wird etwas greifbarer. Doch wie kann das in einem Museum funktionieren?
Die meisten Exponate aus der Nazizeit, sagt Jasper von Richthofen im Görlitzer Museum, seien sogenannte Flachware: Akten, Unterlagen, Parteibücher oder Abzeichen. „Der Schauwert ist übersichtlich.“ Umso wichtiger ist es, den Geschichten Leben einzuhauchen. Mit Exponaten, die die Neugierde der Besucher auf die ausgestellten Biographien lenken: einem Volksempfänger etwa oder dem Ölgemälde eines Görlitzer Unternehmers, der mit seinem Bruder der NSDAP beitrat. Ein anderes Museumsstück ist ein Logenmeister-Stuhl der Freimaurer, die von den Nazis ausgegrenzt und verfolgt wurden.
Im schlesischen Görlitz fokussiere sich das Gedenken häufig auf Flucht und Vertreibung von Deutschen, sagt der Museumsdirektor, auf die Bombardierung Dresdens, auf die Gräueltaten der Roten Armee. Auch das sei wichtig, findet von Richthofen, aber damit verknüpft sei nun mal eher ein „Opfernarrativ“.
Doch Ausgangspunkt für all das, das betont er mehrmals, „ist ein vom deutschen Boden entfesselter Krieg. Punkt.“ Trotzdem sei der Nationalsozialismus in Görlitz „praktisch unerforscht“. Um daran etwas zu ändern, hat von Richthofen Sven Brajer eingestellt – einen Historiker, den er später zum Gespräch in sein Büro hinzuzieht. Brajer und von Richthofen sind ein eingespieltes Team, sie wühlen sich gemeinsam durch das Dickicht an Material, sortieren die Puzzleteile, konzipieren die Ausstellung. Stück für Stück, ein Stöbern durch vergangene Leben.

In seinem Büro dreht der Museumsdirektor nun einen der beiden Computerbildschirme, präsentiert ein Bild. Ein halbes Dutzend Personen vor einem Straßenbahnwagen, schick gekleidet, über den Gesichtern Gasmasken. „Görlitz schützt sich durch die Volksgasmaske“ prangt auf der Straßenbahn. Ein dystopisches Foto in Schwarz-Weiß. Wichtig ist von Richthofen und Brajer, dass das, was sie ausstellen, für sich spricht.
„Wir wollen die Leute nicht mit dem erhobenen Zeigefinger belehren“, sagt von Richthofen, unterbricht sich und fügt an: „Obwohl: Belehren wollen wir sie eigentlich schon.“ „Im wahrsten Sinne des Wortes, genau“, wirft Brajer ein, und von Richthofen führt aus: „Im Sinne einer Bildungseinrichtung wollen wir sie natürlich belehren, was das für eine Zeit gewesen ist. Aber wir werden den Teufel tun und die Leute dahingehend belehren, wo sie zukünftig ihr Kreuzchen auf dem Wahlzettel setzen sollen. Das ist nicht unser Job, und das gehört da auch nicht hin.“

Das Kreuzchen auf dem Wahlzettel, es hat auch Einfluss auf die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik – Stichwort AfD, „erinnerungspolitische Wende“. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die Görlitzer AfD die Ausstellung der städtischen Sammlungen bislang unterstützt. Der Stadtrat, in dem die Partei die stärkste Fraktion stellt, stimmte einstimmig für die Bereitstellung von Geldern. Und als das Museum von allen Stadtratsfraktionen kurze Videos für eine Art Prolog haben wollte, in denen die Parteien ihre Erwartungen darlegen, meldete die AfD-Fraktion sich als erste zurück und sagte zu.
Die Diskursverschiebung ist der größte Schaden – bislang
Also alles doch nicht so schlimm? Hört man Jens-Christian Wagner zu, dem Stiftungsleiter in seinem Buchenwalder Büro, könnte man zu dem Schluss kommen: noch nicht. Das erfolgreiche Abschneiden der AfD bei der Thüringer Landtagswahl, sagt er, könne Folgen haben für die Arbeit der Gedenkstätte Buchenwald. Dass die Partei über den Stiftungsrat Einfluss nimmt, hält Wagner zwar für ausgeschlossen. Denn das achtköpfige Gremium besteht aus mehreren Vertretern von Bundesregierung, Landesregierung und Kommunalpolitik sowie den Präsidenten des Zentralrats der Juden und des Zentralrats der Sinti und Roma. Unvorstellbar, so Wagner, dass die AfD dort eine Mehrheit erringe.
„Die sehr viel stärkere Möglichkeit, Einfluss auf unsere Arbeit zu nehmen, ist der Geldhahn.“ Die Gedenkstätte wird paritätisch von Bund und Land finanziert; verringert das Land seinen Etat, muss auch der Bund die Mittel kürzen. Wagner hält es für nicht unwahrscheinlich, dass das unter einer AfD-geführten Landesregierung passieren könnte. Mit einer Parlamentsmehrheit hätte die Partei sogar die Möglichkeit, die Stiftung ganz abzuschaffen.
Solange die AfD jedoch nicht regiert, sagt Wagner, bestehe der Schaden vor allem in „Obstruktionspolitik“: Kleine Anfragen etwa, die Misstrauen säen sollten in die Gedenkarbeit und die Verwaltung der Gedenkstätte mit dem Zusammentragen von Daten beschäftigt. „Meine Hoffnung ist, dass die Brandmauer hält“, sagt Wagner.
Doch an vielen Stellen sei sie schon sehr brüchig geworden, besonders in der Kommunalpolitik arbeiteten andere Fraktionen mit der AfD zusammen. Und in vielen Regionen Thüringens habe die Partei bereits „kulturelle Hegemonie“ erreicht, die Zivilgesellschaft habe sich zurückgezogen. Auch deshalb betreibt die Stiftung seit vergangenem Sommer gemeinsam mit der Universität Jena eine Website, auf der sie über geschichtsrevisionistische Narrative aufklärt. Denn die Diskursverschiebung, sie geht munter weiter.
Das Problem ist laut Wagner nicht nur die AfD
Das liegt in den Augen Wagners allerdings nicht nur an der AfD. In einem Gastbeitrag für das Blog „Volksverpetzer“, in dem er die geschichtspolitischen Positionen der Parteien für die Bundestagswahl analysierte, kritisierte der Historiker das CDU/CSU-Programm heftig. Die NS-Verbrechen würden dort nicht namentlich erwähnt, stattdessen gehe die Union ausführlich auf Flucht und Vertreibung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ein und auf die SED-Verbrechen. Das Wahlprogramm der Union offenbare einen „geschichtspolitischen Riesenschritt zurück in die 1950er-Jahre“, schrieb Wagner, und „einen drastischen geschichtspolitischen Rechtsruck“.
Der Historiker hob einen weiteren Punkt hervor, der bei allen Parteien fehle: die Auseinandersetzung mit der Täterschaft. „Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen“, sagt der Stiftungsdirektor, „reicht es nicht, nur um die Opfer zu trauern.“ Man müsse fragen, warum sie zu Opfern wurden. Was habe eigentlich der eigene Großvater getan? Wie hing die Familie mit drin? Gedenkstättenarbeit, das ist für Wagner nicht nur der Blick in die Vergangenheit, sondern auch der auf die Gegenwart.
Die Funktionsweise der nationalsozialistischen Gesellschaft verstehen
„Historisch-politische Bildung muss dazu führen, dass wir Schlüsse aus der Geschichte ziehen“, sagt er. Nur zu trauern, sich mit den Opfern zu identifizieren, um sich als „moralisch einwandfreier Mensch“ zu fühlen – „das hat auch etwas von Entlastungsnarrativ“. Als „Post-Täter-Gesellschaft“ müssten wir uns viel mehr mit der Funktionsweise der nationalsozialistischen Gesellschaft beschäftigen, mit ihren Wirkungsmechanismen und Ungleichwertigkeitsdiskursen.
Die nationalsozialistische Gesellschaft verstehen, darum geht es auch Jasper von Richthofen in Görlitz. Warum haben sich die Görlitzer Bürger 1933 die Demokratie aus der Hand nehmen lassen? Es gehe nicht darum, Täter- und Opferperspektiven gegeneinanderzuschneiden, sagt der Museumsdirektor – sondern um die „Grautöne“, die ganz normalen Leute „in ihrer Zerrissenheit“, die Widersprüchlichkeiten und Brüche.
Der Nationalsozialismus, das waren nicht bloß die SS-Schergen und die NSDAP-Parteigänger, die Täter in den Vernichtungslagern und Zwangsarbeitsstätten. Der Nationalsozialismus, das waren auch die Mitläufer und Wegseher, die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Die ganz normalen Menschen.
Auch 2025, im großen Gedenkjahr, werden die Erinnerungsveranstaltungen irgendwann enden, die hochkarätig besetzten Pressekonferenzen vorüber sein, die Artikel abgedruckt. Die AfD ist in Umfragen zweitstärkste Kraft im Bund, die letzten Zeitzeugen der NS-Zeit sterben nach und nach, und eine aktuelle Umfrage der Jewish Claims Conference zeigt, dass das Wissen über den Holocaust schwindet. 40 Prozent der Befragten zwischen 18 und 29 Jahren wussten nicht, dass die Nazis sechs Millionen Juden ermordet hatten. Und dort, wo in Görlitz früher ein KZ-Außenlager stand, ist heute eine Kleingartenanlage.
Wenn der Aufmerksamkeitssturm vorübergezogen ist, werden Jasper von Richthofen in Görlitz und Jens-Christian Wagner in Buchenwald weiter mahnen. Gründe dafür haben sie genug.