Europa berät, wie die Ukraine ohne Amerika gesichert werden kann

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Der „Albtraum der Allianzen“ hat Europa schon zu Bismarcks Zeiten geplagt. Der „cauchemar des coalitions“, wie der erste Kanzler des Deutschen Reiches es nannte, bezeichnet damals wie heute eine der zentralen Sorgen aller Außenpolitiker: Die Angst vor dem plötzlichen Verrat entscheidender Partner, vor ihrem Wechsel zum Feind mit katastrophalen Folgen.

Seit einigen Tagen lebt Europa in einer Realität, die diesem Albtraum gleicht: Amerika, der wichtigste Verbündete gegen die russische Kriegsdiktatur, scheint die Seiten zu wechseln. Präsident Donald Trump spricht nach einem Telefongespräch mit Wladimir Putin wie eine Bauchrednerpuppe des russischen Herrschers. Er nennt das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, einen „Diktator“ und verbreitet die Falschmeldung, dieser werde in seinem Land nur noch von vier Prozent der Wähler unterstützt. In Wahrheit sind es wohl fünfzig Prozent. Außerdem hat Trump die Moskauer Story übernommen, der zufolge die Ukraine den Krieg, in dem Russland sie seit drei Jahren verwüstet, selbst begonnen habe.

Gegen den russisch-amerikanischen Diktatfrieden

Bei der EU in Brüssel hatte man mit vielem gerechnet, nicht aber mit diesem Schwenk. In dieser Woche fielen hinter verschlossenen Türen Sätze, die man noch nie gehört hat. Etwa dieser: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass die USA als neuer Schurkenstaat agieren.“ Ein Gesprächspartner dieser Zeitung brachte die neue Lage auf diese Formel: Bisher habe man die Ukraine unterstützt, damit sie sich gegen Russland verteidigen könne. Jetzt aber müsse man sie so stark machen, dass sie einem amerikanisch-russischen Diktatfrieden widerstehen könne.

In seinem Golfclub in Mar-a-Lago wirft Präsident Donald Trump der Ukraine vor, den Krieg, in dem Russland sie verwüstet, selbst begonnen zu haben.
In seinem Golfclub in Mar-a-Lago wirft Präsident Donald Trump der Ukraine vor, den Krieg, in dem Russland sie verwüstet, selbst begonnen zu haben.Laif

Noch im letzten Sommer hatte alles ganz anders ausgesehen. Damals waren aus der Umgebung Trumps Töne gekommen, in welche Selenskyj und seine europäischen Partner gewisse Hoffnungen setzten. Trump hatte sich gebrüstet, Russlands Krieg „in 24 Stunden“ beenden zu können, und Keith Kellogg, ein amerikanischer Dreisternegeneral, der schon in Trumps erster Amtszeit zu dessen Team gehört hatte, entwarf einen Friedensplan, der zumindest realisierbar schien.

Sein Konzept mutete der Ukraine zwar einerseits zu, einstweilig auf den versprochenen Beitritt zur NATO zu verzichten und ihre besetzten Gebiete den russischen Eroberern zu überlassen. Andererseits aber machte Kellogg auch unmissverständlich klar, was auf Putin zukommen könnte, wenn er nicht mitmachen würde: „Wenn du nicht an den Tisch kommst, geben wir den Ukrainern alles, was sie brauchen, um dich auf dem Schlachtfeld zu töten.“ Das war die Kellogg’sche Gleichung: Amerikas Härte gegen Moskau ist genauso unerbittlich wie Amerikas Härte gegen Kiew.

Das klang zwar nicht schön für die Freunde der Ukraine, aber immerhin schien dieser Plan zu garantieren, dass man auf lange Sicht vor neuen russischen Angriffen sicher wäre. Als Trump nach seiner Wahl im November ankündigte, Kellogg zu seinem Sonderbeauftragten für die Ukraine zu machen, begann man deshalb in Europa zu überlegen, wie ein Waffenstillstand, der auf diesem Weg erzwungen werden könnte, für die Zukunft gegen neue russische Angriffe gesichert werden könnte.

Bald kreiste die Diskussion um Varianten einer internationalen Friedenstruppe. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte schon Anfang 2024 „Stiefel am Boden“ ins Gespräch gebracht, und Selenskyj nannte später sogar schon Zahlen: 200.000 Soldaten seien nötig, um eine Waffenruhe zu sichern. Noch am vergangenen Montag schrieb der britische Premier Keir Starmer, sein Land sei bereit, „notfalls eigene Bodentruppen einzusetzen“.

Aufkündigung der Wertegemeinschaft

Jetzt scheint diese Idee gerade zu zerplatzen. General Kellogg, ihr Urheber, gehört nicht zum amerikanischen Team um Außenminister Marco Rubio, das Anfang der Woche über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg erste Verhandlungen mit Russland geführt hat. Trump ist zwar ultrahart zu Selenskyj. Er verlangt plötzlich Zugang zu ukrainischen Vorkommen an seltenen Erden im Wert von 500 Milliarden Dollar und droht ihm, er könne bald „kein Land mehr“ haben. Das zweite Element der Formel aber – Härte auch gegen Russland – ist plötzlich aus der Gleichung herausgekürzt worden. Stattdessen ergeht sich Trump in völlig unerwarteten Freundlichkeiten.

Die Außenminister Amerikas, Marco Rubio (zweiter von links) und Sergej Lawrow (rechts), verhandeln in Saudi-Arabien ohne die Ukraine über die Ukraine.
Die Außenminister Amerikas, Marco Rubio (zweiter von links) und Sergej Lawrow (rechts), verhandeln in Saudi-Arabien ohne die Ukraine über die Ukraine.Reuters

Ungefragt schlägt er vor, Russland wieder zu G-8-Treffen einzuladen, und die wechselseitigen Botschaften beider Länder will er „wieder funktionsfähig machen“. Zugleich verkündet sein Verteidigungsminister Pete Hegseth Ukrainern und Europäern, aufgrund „nackter strategischer Realitäten“ in Asien könne Amerika sich nicht mehr auf Europa konzentrieren. Wenn die Europäer die Ukraine schützen wollten, müssten sie das also mit eigenen Truppen tun – allerdings ohne amerikanische Hilfe und vor allem ohne den Schutz durch das Beistandsversprechen der NATO.

Kurz nachdem Hegseth das auf einem Treffen der „Ukraine-Kontaktgruppe“ verkündet hatte, setzte Trumps Vize J. D. Vance noch einen drauf. Bei der Münchener Sicherheitskonferenz behauptete er, Europas Demokratien würden nicht von Russland oder China bedroht – sie bedrohten sich vielmehr selbst, weil Oppositionelle, zum Beispiel Abtreibungsgegner oder Rechtspopulisten, in der EU „zensiert“ oder „ins Gefängnis gesteckt“ würden. Insgesamt sei Europa gerade „auf dem Rückzug von einigen seiner fundamentalen Werte“. Bevor man deshalb über Verteidigung und ihre Finanzierung spreche, müsse man klären, „was wir überhaupt verteidigen“. Europa, so konnte man Vance deuten, ist mindestens so schlimm wie Russland oder China. Das konnte als Aufkündigung der Wertegemeinschaft gelesen werden, welche die Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks seit dem Zweiten Weltkrieg zusammengehalten hat.

Die Europäer sollen Schmiere stehen

Seither kann man europäische Staatenlenker dabei beobachten, wie sie ihre Haltung zur Entsendung von Friedenstruppen ändern. Am Montag hatten mehrere von ihnen sich noch bereit erklärt, zur Sicherung eines Waffenstillstands in der Ukraine Soldaten zu stellen. Dazu gehörten neben Frankreich und Britannien auch die Niederlande, Italien und Schweden. Zu diesem Zeitpunkt war die Hoffnung noch nicht ganz geschwunden, dass die Kellogg-Formel „Härte gegen beide Seiten“ noch gelten könnte.

Dann aber ging es Schlag auf Schlag. Zuerst verdichteten sich die Zeichen, dass Kelloggs Ideen nicht wirklich Trumps Ideen sein dürften. Der General fehlte bei den Gesprächen mit den Russen in Saudi-Arabien. Kurz darauf lancierte Trump seinen Spruch vom „Diktator“ Selenskyj, und ein Verdacht wurde wach: Die europäischen Friedenstruppen, die Amerika für die Ukraine wünschte, sollten vielleicht nicht wirklich einem akzeptablen Frieden dienen. Vielmehr, so scheint es seither, wollen die Amerikaner nur, dass europäische Soldaten bei einem russisch-amerikanischen Raubzug gegen die Ukraine Schmiere stehen.

Aus europäischer Sicht ein unannehmbares Konzept, und Frankreichs Präsident Macron kassierte sein Angebot, Soldaten zu entsenden, denn auch am Mittwoch wieder ein. Seither heißt es, man wolle höchstens ein paar Fachleute losschicken, aber auf keinen Fall „Kampftruppen“.

Wolodymyr Selenskyj (links in schwarz) und J.D. Vance (rechts mit blauer Krawatte) Auge in Auge auf der Münchener Sicherheitskonferenz.
Wolodymyr Selenskyj (links in schwarz) und J.D. Vance (rechts mit blauer Krawatte) Auge in Auge auf der Münchener Sicherheitskonferenz.Sven Simon

Dass die Europäer plötzlich zurückschrecken, hat auch mit einer sehr frischen Erfahrung zu tun: Vor mehr als zwanzig Jahren waren viele von ihnen in den Afghanistankrieg gezogen, nachdem islamistische Terroristen das World Trade Center in New York zerstört hatten. Sie hatten zwei Jahrzehnte an der Seite des angegriffenen Verbündeten Amerika gekämpft, bis zwei aufeinanderfolgende Präsidenten sie im Stich ließen: Zuerst Trump, der 2020 ohne Rücksprache einen Deal mit den islamistischen Taliban schloss, dann Joe Biden, der im Jahr darauf (und wieder ohne Absprache) den sofortigen Abzug befahl.

In Berlin ist diese Erinnerung wach. Quer durch die Parteien fragen sich führende Außenpolitiker, ob es nicht ein Himmelfahrtskommando wäre, den Wünschen Amerikas zu folgen und die Verteidigung der Ukraine zu übernehmen, während Washington ohne Absprachen mit Moskau verhandelt. Sara Nanni, die führende Außenpolitikerin der Grünen im Bundestag, erinnert an die Ereignisfolge vor wenigen Jahren in Afghanistan: Bevor die USA ihre Verbündeten dort im Stich ließen, hätten sie „genau wie heute nur mit dem Aggressor verhandelt“, sagt sie. „Die Regierung in Kabul fiel, und wir als Verbündete standen bedröppelt da.“ So etwas dürfe nicht noch einmal passieren.

„Wir können nicht zu allem Ja und Amen sagen“

Auch Jürgen Hardt, Obmann der Union im Auswärtigen Ausschuss, bekommt ein Störgefühl, wenn er sich an Afghanistan erinnert. „Wir müssen die Möglichkeit mit ins Kalkül nehmen, dass es Trump möglicherweise egal sein könnte, wie es mit der Ukraine und den europäischen Verbündeten weitergeht“, sagt er. Man müsse damit rechnen, dass Trump „erratisch bleibt“.

Warnung für die Europäer: Amerika verlässt Afghanistan und lässt seine Verbündeten im Stich.
Warnung für die Europäer: Amerika verlässt Afghanistan und lässt seine Verbündeten im Stich.AP

In der SPD-Fraktion sehen sie es genauso. In der Ukraine könne „passieren, was in Afghanistan passiert ist“, sagt Nils Schmidt, ihr Obmann im Auswärtigen Ausschuss. „Wenn Amerika mit Russland so leichtfertige Vereinbarungen trifft wie mit den Taliban während Trumps erster Amtszeit, können wir nicht dabei sein.“

Ohne Amerika, so die Folgerung, wäre ein Einsatz in der Ukraine ein unkalkulierbares Risiko. Für Putin, erläutert Ed Arnold vom RUSI, dem „Royal United Services Institute“ in London, wäre es nämlich „kein Problem“, wenn bei so einer Mission mal „versehentlich“ zehn französische Soldaten getötet würden. „Aber wenn er zehn Amerikaner töten würde, müsste er sich sehr ernste Sorgen machen.“ Michael Link von der FDP, der Ampel-Koordinator für transatlantische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt war, zieht daraus einen klaren Schluss: „Wir können nicht zu allem, was Amerika uns vorlegt und fordert, einfach nur Ja und Amen sagen.“ Man könne Amerika keinen „Blankoscheck“ geben.

Angst vor einem russischen Angriff

Allerdings wissen die Fachleute auch: Nichtstun ist keine Option. Dann nämlich, sagt Ed Arnold vom RUSI, werde eine künftige Friedenstruppe vielleicht von anderen gestellt – von Staaten, die man in Europa nicht wirklich haben wolle. „Dann geht China rein, und wir überlassen anderen die Kontrolle.“

Russischer Drohnenangriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew, Februar 2025.
Russischer Drohnenangriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew, Februar 2025.Reuters

In Berlin setzt man deshalb sowohl aufseiten der Noch-Regierung als auch bei der Union darauf, die Ukraine weiter mit so viel Geld und Waffen zu unterstützen, dass sie sich allein wehren kann. „Es gibt keine Alternative“, sagt Nanni von den Grünen. „Einfach nur abwarten heißt: In ein paar Jahren gibt es einen Angriff Russlands auf uns.“ Und „auf uns“ heiße: nicht nur auf Verbündete an der NATO-Ostflanke, sondern auch auf Deutschland selbst, weil es das zentrale Land der NATO ist. Wenn Putin nach einem Sieg über die Ukraine etwa auf den Gedanken komme, „im Baltikum Land zu nehmen“, würden „ab dem ersten Tag auch bei uns Schienen und Brücken angegriffen“.

Auch in Brüssel sehen viele das so, und so versucht der Präsident des Europäischen Rats, António Costa, gerade auch fieberhaft, eine gemeinsame europäische Antwort auf die neue Lage zu finden. Costa hat allen EU-Regierungschefs zwei Fragen gestellt: Wie können sie die Ukraine jetzt noch stärken, mit Geld und Waffen? Und zu welchen Sicherheitsgarantien wären sie bei einem Frieden bereit? Der Portugiese telefoniert mit jedem Regierungschef. Nächste Woche will er entscheiden, ob die Schnittmenge groß genug ist, um einen Europäischen Rat einzuberufen.

Die EU hat noch ein paar Trümpfe in der Hand

Diskutiert werden derzeit zwei Optionen, die das mögliche Spektrum abstecken. Falls sich die Amerikaner komplett heraushalten, wie Hegseth es angekündigt hat, kommt wohl nur das „Stachelschwein“-Modell infrage: die Ukraine so weit aufrüsten, dass sie sich selbst gegen einen weiteren Überfall Moskaus verteidigen kann. Eventuell könnte das Land dann noch Unterstützung aus der Luft bekommen, aber nicht am Boden, auch nicht von EU-Staaten.

Das andere Modell heißt „Stolperdraht“: Greift Russland an, trifft es auf NATO-Truppen – und würde die gesamte Allianz in einen Konflikt hineinziehen, auch die USA. Dazwischen sind Varianten vorstellbar. Allerdings müssten die Amerikaner erst einmal wieder runter von ihren Vorfestlegungen. Und Putin müsste klargemacht werden, dass eine demilitarisierte Ukraine keine Option ist.

Bleibt immer noch das Problem, dass Amerikaner und Russen gerade keine Neigung zeigen, die Europäer überhaupt nach ihrer Meinung zu fragen. Das muss allerdings nicht so bleiben. In Brüssel wird immer wieder darauf verwiesen, dass ein Abkommen über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg schlicht nicht möglich sei, wenn es denn wirklich die Lage befrieden solle. Einige Trümpfe halten die EU-Staaten schließlich noch in der Hand.

Das betrifft nicht nur ein mögliches militärisches Engagement. Da sind noch die europäischen Sanktionen, die eine normale wirtschaftliche Entwicklung Russlands unmöglich machen. Und jene russischen Staatsguthaben in Höhe von mehr als 200 Milliarden Euro, die in Belgien eingefroren sind. Das Geld soll aus EU-Sicht verwendet werden, um die Ukraine für Kriegsschäden zu entschädigen, und so eine Kompensation müsste aus europäischer Sicht Teil eines Friedensvertrags sein.

Und da ist schließlich die Aussicht auf einen EU-Beitritt, der Kiew in Europa verankern würde. Es sei nur eine Frage der Zeit, sagt ein Brüsseler Insider, bis auch Washington verstehe, dass es ohne Europa nicht geht.