Wahlsieg der Union: Kann Merz Kanzler?

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Es ist ein bemerkenswerter Zeitpunkt, zu dem im Konrad-Adenauer-Haus am Sonntagabend besonders kräftiger Jubel aufkommt: als der Moderator auf dem Großbildschirm verkündet, die Wahlbeteiligung habe bei 84 Prozent gelegen. Es ist wie ein Befreiungsmoment, zu dem die christdemokratische Gemeinde hemmungslos jubeln darf. Denn was der Moderator vorher verkündet hat, ist die Hängepartie, die den Abend prägt. Die CDU muss hoffen, dass der frühere Dauer-Regierungspartner FDP es nicht wieder ins Parlament schafft, damit man selbst bessere Chancen hat, mit nur einer Partei – der SPD – eine Regierung zu bilden.

Doch es dauert nicht lange, und die Christdemokraten im Foyer der Parteizentrale und auf den Balkonen ringsum fangen wieder an zu jubeln: Kanzlerkandidat Friedrich Merz ist um 18.35 Uhr auf die Bühne gekommen und fasst die Ereignisse prägnant zusammen: „Wir haben die Bundestagswahl gewonnen.“ Sofort schiebt er den für ihn offenbar ersten Grund hinterher: Weil CDU und CSU gut zusammengearbeitet hätten.

Zur Rechten von Merz steht Markus Söder auf der Bühne, der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident. Merz dankt Söder. Kurz darauf dankt Söder Merz. Im Namen der CSU überbringt er Glückwünsche. Die Welt sei in Unordnung, nun müsse wieder Ordnung geschaffen werden. Die Menschen trauten das einer Partei und einem Mann zu: Friedrich Merz. Vom Bildschirm erklingt kurz darauf die Stimme von Kanzler Olaf Scholz. Er gratuliert zum Sieg. Merz weiß, dass die Kanzlerschaft in greifbarer Nähe ist. In welcher Koalition? Das ist die Frage, die noch eine Weile offen bleibt. Deswegen ist die Freude im Adenauer-Haus trotz des Sieges zunächst gedämpft.

Die Union hatte sich ein besseres Ergebnis erhofft. Ersten Hochrechnungen zufolge lag sie unter 30 Prozent. Damit hatten CDU und CSU jedoch besser abgeschnitten als die SPD in der Wahl 2021; sie erlangte damals 25,7 Prozent.

Aus welchem Holz ist Merz geschnitzt?

Eine Wahl dürfte Friedrich Merz aber sicher sein. Selbst wenn CDU- oder CSU-Politiker am Ergebnis der Union bei der Bundestagswahl herummäkeln sollten, dürften sich die Ereignisse des Jahres 2002 nicht wiederholen. Damals war Merz auch als Fraktionsvorsitzender in die Bundestagswahl gegangen. Kaum war diese vorüber, ließ sich eine gewisse Angela Merkel gegen den Willen des bisherigen Amtsinhabers zur Chefin der Abgeordneten von CDU und CSU wählen. Dieses Mal ist niemand zu erkennen, der Merz die Wiederwahl als Fraktionschef am Dienstag streitig machen wollte.

Die Frage nach der Bundestagwahl lautet nun: Ist Merz aus Kanzlerholz geschnitzt? Hat er genug Kampfeswillen und Durchhaltevermögen, um nicht nur ganz nach oben zu kommen, sondern sich dort auf Dauer zu behaupten? Nachdem Merkel und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber beschlossen hatten, einen gemeinsamen Vorschlag für den Vorsitz der Unionsfraktion zu machen, und dieser Vorschlag Merkel hieß, war für lange Zeit das Licht ausgegangen über der politischen Karriere von Joachim-Friedrich Martin Josef Merz, geboren am 11. November 1955 in Brilon im östlichen Sauerland.

Merkel schüttelte den sehr knappen Wahlausgang rasch aus dem Blazer und fasste so erfolgreich Fuß im neuen Amt, dass Platz eins in der CDU und in der Union auf nicht absehbare Zeit besetzt war

Friedrich Merz und die damalige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel am 17. Februar 2000 im Bundestag
Friedrich Merz und die damalige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel am 17. Februar 2000 im BundestagPicture Alliance

Merz blieb zwar noch bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, machte durch Vorschläge wie den für eine Steuererklärung, die auf einen Bierdeckel passt, auf sich aufmerksam. Aber schon 2004 zog er sich vom stellvertretenden Fraktionsvorsitz zurück. Bald darauf wurde er als Anwalt tätig. Nicht erst mit dem Ausscheiden aus dem Parlament, aber vor allem danach übernahm er Aufsichtsratsmandate, unter anderem beim amerikanischen Vermögensverwalter Blackrock in Deutschland. Anders als etwa sein Freund und Mentor Wolfgang Schäuble, der nach Attentat, geplatzten Kanzlerträumen und dem Ende der Hoffnung, ins Schloss Bellevue einziehen zu können, immer weiter in der politischen Kampfarena durchhielt, zog Merz sich aus dieser zurück.

Was blieb, war die Sehnsucht seiner Anhänger in- und außerhalb der CDU, für die Merz der Inbegriff einer konservativen CDU wurde, die sie unter der Führung Merkels allmählich verschwinden sahen. Doch für viele Jahre mussten sie sich mit gelegentlichen Interviewäußerungen von ihm trösten. Beispielsweise als Merkel 2011 nach dem Reaktorunglück in Fuku­shima auf dem Bierdeckel keine Steuerreform, sondern eine Kehrtwende in der Atompolitik machte und Merz dies mit den Worten kritisierte, das breche der CDU das Rückgrat. Es bog sich, aber brach nicht. Um Friedrich Merz blieb es still.

Auch seine Rückkehr auf die große politische Bühne im Oktober 2018 ließ noch Fragen aufkommen zu seinem Kampfeswillen. Denn er hatte seinen Hut erst in dem Moment in den Ring geworfen, als Merkel angekündigt hatte, nicht wieder für den CDU-Vorsitz zu kandidieren und auch kein weiteres Mal als Kanzlerkandidatin anzutreten. Er hat sie also nicht herausgefordert, sondern gewartet, bis sie geht, bevor er im Alter von damals fast 63 Jahren den Kampf um ihre Nachfolge begann.

Entschlossenheit kann man Merz nicht absprechen

Seither kann man ihm die Entschlossenheit nicht absprechen. Zweimal bemühte er sich vergebens um den CDU-Vorsitz. Im dritten Anlauf wurde er Anfang 2022 gewählt. Es konnte den Eindruck haben, auch die CDU hatte erst dann den Mut, Merz zu ihrem Vorsitzenden zu wählen, als die Königin wirklich vom Thron gestiegen war und das Kanzleramt an Olaf Scholz übergeben hatte. Die erste Hürde war genommen.

Die zwanzig Jahre zuvor entstandene Scharte, den Fraktionsvorsitz an Merkel verloren zu haben, konnte er auswetzen, indem er seinem nordrhein-westfälischen Parteifreund Ralph Brinkhaus ohne großes Aufheben den Posten des Chefs der Abgeordneten wegnahm, den dieser gegen den ausdrücklichen Willen der da schon schwächelnden Kanzlerin errungen hatte. Es war der zweite und schnellste Schritt im Anlauf auf das große Ziel. Der nächste, bis dahin schwierigste, brauchte mehr Zeit.

Merz und Söder am 22. Februar in München
Merz und Söder am 22. Februar in Münchendpa

Erst als der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Bauch verstanden hatte, dass er auch bei dieser Bundestagswahl nicht als Kanzlerkandidat der Union zum Zug kommen würde, war der Weg für Merz frei. Sein Biograph Volker Resing erinnert daran, wie der damalige Fraktionsvorsitzende sich 2002, als auch Merkel es vergebens versuchte, als Kanzlerkandidat ins Spiel brachte. Chancen hatte er nicht. Von der CSU erntete er nur Spott: „Ich bin von dem physikalischen Phänomen überrascht, dass zum ersten Mal in der Weltgeschichte das Echo vor dem Ruf kommt“, kommentierte damals CSU-Generalsekretär Thomas Goppel den Vorgang.

Nun könnte es also bald so weit sein. Es ist zwar schon passiert in der Geschichte der Bundesrepublik, dass der Kandidat mit dem besten Ergebnis anschließend nicht Regierungschef wurde, wie Helmut Kohl 1976. Aber das ist die große Ausnahme. Friedrich Merz hat gute Aussichten, in einigen Monaten Bundeskanzler zu sein. Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion und einer derjenigen, die im engsten Kreis um Merz den Wahlkampf gesteuert haben, ging einen Schritt weiter und sagte kurz vor dem Wahltag im Futur I: „Es wird einen Kanzler geben, der wird Friedrich Merz heißen.“

Zuvor jedoch – siehe oben – wird er als Fraktionsvorsitzender bestätigt. Am Montag nach der Wahl kommen zunächst die Partei-Führungsgremien zusammen und sprechen über das Wahlergebnis. Am Dienstag treffen sich erst die Mitglieder der Fraktion aus der endenden Legislaturperiode. Dann wird die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU erneuert. Anschließend sollen Merz als Fraktionschef und Alexander Dobrindt als Vorsitzender der CSU-Landesgruppe von den Mitgliedern der neuen Fraktion wiedergewählt werden.

Merz wird eine Koalition bilden müssen

Gelingt es Merz, eine Koalition zu bilden, wird er also Regierungschef, müssen die Abgeordneten sich einen neuen Vorsitzenden ausgucken. Da vieles dafürspricht, dass Dobrindt in einem Kabinett Merz einen Ministerposten bekäme, müsste auch ein neuer Landesgruppenchef gefunden werden.

Der Traum einzelner Optimisten in der CDU, wenn genügend von den kleinen Parteien es nicht in den Bundestag schafften, gäbe es eine minimale Chance auf eine absolute Mehrheit, war immer ein Traum und blieb es. Merz wird eine Koalition bilden müssen. Er hat zwar vom Zerfall der Ampel unter Olaf Scholz profitiert, weil früher als geplant ein neuer Bundestag gewählt wurde. Aber die Erosion des Dreierbündnisses geriet für die Union zur Mahnung, ein möglichst stabiles Bündnis zu bilden. Wird ihm dieses Gesellenstück gelingen, bevor er Meister werden kann?

Der skeptische Hinweis auf fehlende Erfahrung – Merz hat noch nie regiert – hat dabei mit jedem Tag des Verfalls der Ampel ein bisschen an Kraft verloren. Denn gerade die brachte Scholz mit: lange Regierungserfahrung in Bund und Ländern. Das frühe Ende seines Bündnisses konnte er dennoch nicht verhindern.

Die Neujustierung von Deutschlands Rolle in Europa als Aufgabe

Inhaltlich muss sich die nächste Regierung zunächst um die Neujustierung von Deutschlands Rolle in Europa in einem sich dramatisch wandelnden transatlantischen Gefüge kümmern, und das am Wendepunkt des Krieges der Atommacht Russland gegen die Ukraine. Unmittelbar vor dem Wahltag hatte Merz seine Forderung bekräftigt, Deutschland müsse stärker als bisher zur Führungsmacht in Europa werden. So leichtsinnig zu sagen, wer bei ihm Führung bestelle, bekomme sie auch – ein Satz, über den Scholz mehrfach gestolpert ist –, war er nicht. Die Botschaft ist jedoch ähnlich.

Der nächste Kanzler muss schnell klären, wie Europa und Deutschland mit der Sicherung eines möglichen Friedens in der Ukraine, den Amerika und Russland allein aushandeln, umgehen. Merz hat durch seine Zeit im Europaparlament und seine langjährige berufliche Verbindung mit den Vereinigten Staaten internationale Erfahrung. Erfahrung hat er auch mit ökonomischen und finanziellen Themen, obwohl er nie ein großes Unternehmen geführt hat. Das wäre für ihn das zweite Feld, auf dem angesichts eines wirtschaftlich schwächelnden Deutschlands rasch ein neuer Kurs hermuss.

Zur Beruhigung der politischen Debatte und um die eigene Glaubwürdigkeit zu demonstrieren, muss er aber vor allem etwas tun zur weiteren Verringerung des Zuzugs von Migranten nach Deutschland. Wie gut er das mit einem linken Partner, sei es die SPD, seien es die Grünen oder sogar beide, hinbekommt, wird sich zeigen. Als er wenige Tage vor der Wahl eine seiner fünf Forderungen zur Verschärfung der Migrationspolitik, denen die AfD im Bundestag zu einer Mehrheit verholfen hatte, sang- und klanglos in einer Fernsehdebatte wieder einsammelte, reagierte die SPD erfreut über diese Wende.

Als er dagegen beim Wahlkampfabschluss von CDU und CSU in München verkündete, dass es keine linke Politik mehr in Deutschland gebe, und das mit der Ankündigung verband, er wolle Politik für diejenigen machen, die „noch alle Tassen im Schrank haben“, reagierten führende Sozialdemokraten verärgert. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil warf Merz vor, auf den letzten Metern des Wahlkampfes die „Gräben in der demokratischen Mitte“ tiefer zu machen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich nannte Merz einen „Mini-Trump“. Die Regierungsbildung dürfte jedenfalls nicht einfach werden.