Mit einer Tasse arabischem Kaffee in der Hand steht Ahmad Khanfar auf einem Hügel am Rande von Dschenin und blickt hinab auf die Stadt, als eine Detonation zu hören ist. Eine Rauchwolke steigt über dem Flüchtlingslager im Westen der Stadt auf – vermutlich hat die israelische Armee wieder ein Gebäude gesprengt. Irgendwo dort unten befindet sich auch Khanfars Haus. Er ist mit mehreren Verwandten an den Stadtrand geflohen, um den Kämpfen zu entgehen, die seit Wochen in Dschenin schwelen.
Dort wohnen sie auf Land, das der Familie gehört. Zwei kleine Räume, in einem liegen Decken auf dünnen Teppichen, in dem anderen befinden sich ein kleines Bad und eine Kochplatte. Es ist kalt und regnerisch.
Die Entscheidung, ein Notfallquartier zu schaffen, traf der 55 Jahre alte Palästinenser mit dem grauschwarzen Vollbart schon im September, als die israelische Armee eine Militäraktion durchführte. Eine Rakete schlug damals neben einem seiner fünf Kinder ein. Vier Monate lang habe sein 28 Jahre alter Sohn im Krankenhaus gelegen, erzählt er, aber die Ärzte hätten nicht alle Splitter aus seinem Kopf entfernen können. Auf dem Telefon zeigt er ein Röntgenbild des Schädels, auf dem man mehrere weißliche Stellen erkennen kann.

Seit Mitte Januar ist die israelische Armee wieder im Lager aktiv – und Khanfars Familie lebt wieder auf dem Hügel. „Ich will nicht, dass meine Kinder sterben“, sagt er. Dort unten könnten alle zum Ziel der Scharfschützen werden.
Die längste Militäraktion seit zwei Jahrzehnten
Das Lager ist weitgehend abgeriegelt, sich dem Gebiet zu nähern, ist gefährlich. Dennoch tun Palästinenser es immer wieder. Ahmad Khanfars Schwester Aischa kommt den Hügel herauf. Sie war gerade zusammen mit ihrer Mutter im Haus der Familie, um ein paar Dinge zu holen. Die Straßen seien voller Erde und Trümmer, und die Wohnung sei weitgehend zerstört, berichtet sie. „Meine Mutter hat geweint, als sie das sah.“ Warum habe sie ihrer 80 Jahre alten Mutter den gefährlichen Marsch überhaupt zugemutet, fragt Aischa laut und gibt selbst die Antwort: „Weil ich dachte, dass das die Herzen der Soldaten erweicht und sie uns eher durchlassen.“
Seit mittlerweile fünf Wochen sind die Truppen in dem Lager. Es handelt sich um die umfassendste und längste Militäraktion seit zwei Jahrzehnten. Und sie trifft nicht nur das Flüchtlingslager – und auch nicht nur Dschenin: Das ganze nördliche Westjordanland ist betroffen. Nach Dschenin nahm die Armee sich das weiter westlich gelegene Tulkarem vor, dann Tubas und Tammun im Jordantal.
Kritiker sagen, die Zahl der Toten und Verletzten sei unverhältnismäßig hoch. Seit dem Beginn der Militäraktion Mitte Januar sind mindestens 70 Palästinenser getötet worden, unter ihnen mehrere Kinder. Die Armee gibt an, sie gehe gegen Terroristen vor – tatsächlich gelten die Flüchtlingslager in Dschenin und anderen Orten als Hochburgen bewaffneter Gruppen.
Nicht nur die lange Dauer und die Zahl der Toten heben die gegenwärtige Militäraktion aber von früheren ab. Aus Diplomatenkreisen ist zu hören, das gegenwärtige Vorgehen der Armee habe eine „neue militärische Qualität“. Immer wieder gab es Luftangriffe. Am Sonntag verkündete die israelische Regierung, dass sie zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 auch mehrere Panzer nach Dschenin schicke. Zuvor hatte es einen versuchten Bombenanschlag auf mehrere Busse im Großraum Tel Aviv gegeben – Israel vermutet die Täter im Westjordanland.
Ausländische Beobachter sind der Meinung, die Sicherheitslage in der Region habe sich durch die Militäraktion nicht verbessert – sie sei aber auch nicht der Grund dafür gewesen. Auch viele Menschen hier glauben, Zeitpunkt und Ablauf des Einmarschs seien kein Zufall. „Diese Operation ist zu hundert Prozent politisch“, sagt Mohammad Jarrar, der Bürgermeister von Dschenin. Der 52 Jahre alte Politiker verweist auf den Beginn des Einmarschs am 21. Januar – unmittelbar nachdem das Gazaabkommen zwischen Israel und der Hamas in Kraft getreten war.
„Netanjahu wollte seine Koalition retten“, sagt Jarrar. Sein Koalitionspartner Bezalel Smotrich von der Siedlerpartei „Religiöser Zionismus“ habe als Preis für die Zustimmung zu der Waffenruhe im Gazastreifen gefordert, dass die Armee im Westjordanland tätig wird. Smotrich hat selbst mehrmals für sich in Anspruch genommen, den Anstoß zu der Militäraktion gegeben zu haben, die den Namen „Eiserne Mauer“ erhielt.
Das Lager ist praktisch leer
Besonders erzürnt viele Palästinenser, dass der Einmarsch offenbar mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) abgestimmt war. Die PA ist in Orten wie Dschenin eigentlich für Sicherheitsbelange zuständig. Im Dezember hatte sie eine eigene Militäraktion gegen Milizen im Flüchtlingslager begonnen. Ihre Sicherheitskräfte gingen dabei mit großer Rücksichtslosigkeit vor. Mitte Januar wurde eine Waffenruhe zwischen der PA und dem sogenannten Dschenin-Bataillon vermittelt. Sie brach aber nach kurzer Zeit zusammen, es kam zu neuen Konfrontationen. Dann zogen die PA-Sicherheitskräfte sich unvermittelt zurück – und der israelische Einmarsch begann.
Die meisten Bewaffneten waren rasch geflohen. Dennoch hielt die Militäraktion an. Das führte dazu, dass Tausende Bewohner das Lager verließen, in dem etwa 16.000 Menschen lebten; inzwischen ist es praktisch leer. Israel behauptet, die Bewohner seien freiwillig gegangen. Viele Berichte von Betroffenen legen das Gegenteil nahe. Manche seien gegangen, weil die Versorgung mit Strom und Wasser eingestellt worden sei, andere seien unmittelbar bedroht worden. Auf dem Hügel über der Stadt berichtet Ahmad Khanfar, eine Drohne sei über dem Lager geflogen und habe Durchsagen verbreitet, die zum Gehen aufforderten. „Daraufhin sind wir hierhergekommen.“
Von dort oben konnten sie beobachten, was in den folgenden Tagen und Wochen geschah. Der Einmarsch hatte eine beispiellose Zerstörung der Infrastruktur zur Folge. Vor allem im Flüchtlingslager wurden ganze Straßenzüge dem Erdboden gleichgemacht. Anfang Februar sprengten die Truppen 21 Häuser auf einmal. Khanfars Schwester Aischa sagt, sie hätten geweint und vor Schmerz geschrien, als sie das aus der Ferne sahen. Ihr Vater habe ausgerufen: „Sie zerstören unsere Träume, sie zerstören unsere Erinnerungen.“
Häuser würden abgebrannt oder gesprengt
Ahmad Khanfar beteuert indessen, die Bewohner Dschenins seien unbeugsam. Wenn es das Ziel Israels sei, ihre völlige Unterwerfung zu erreichen, werde tatsächlich das Gegenteil geschehen: „Wir werden uns erheben.“ Die junge Generation sei noch militanter als die vorhergehende, sagt der Palästinenser, der fünf Kinder hat. Zugleich hebt er hervor, die Menschen würden zu dieser Haltung gezwungen, weil es keinen politischen Horizont gebe. „Was glaubt ihr, was junge Leute hier wollen?“, fragt er rhetorisch. „Sie wollen ein eigenes Haus, ein Auto, heiraten. Aber sie haben die Hoffnung verloren.“
Mit Blick auf die Militäraktion äußert Khanfar einen Vergleich, den in diesen Tagen viele Palästinenser ziehen. „Dschenin ist jetzt ein kleines Gaza“, sagt er. Auch Bürgermeister Jarrar glaubt, dass die Armee Taktiken aus dem Gazakrieg anwende. So zerstörten die Truppen im Flüchtlingslager Häuser, um breite Wege zu schaffen. „Das soll künftige Militäroperationen dort erleichtern.“ Daneben gebe es aber auch scheinbar willkürliche Zerstörung: Häuser würden abgebrannt oder gesprengt. Manchmal blieben nur die Hüllen stehen, innen sei alles zerstört.
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All das mache das Leben im Lager unmöglich, sagt der Bürgermeister. Er wäre nicht überrascht, wenn die Armee im Lager bleiben, den Bewohnern aber irgendwann erlauben würde, dorthin zurückzukehren. „Wenn die Leute dann sehen, dass dort kein Stein mehr auf dem anderen steht, werden sie weggehen. Israel will, dass die Menschen ‚freiwillig‘ gehen. Es ist das gleiche Szenario, an dem sie auch in Gaza arbeiten.“ Israels Verteidigungsminister Israel Katz verkündete am Sonntag allerdings, er habe die Armee angewiesen, „die Rückkehr der Bewohner und ein erneutes Erstarken des Terrorismus nicht zuzulassen“. Die Armee solle sich auf einen „längeren Aufenthalt“ in den geräumten Lagern vorbereiten, sagte Katz bei einem Besuch in Tulkarem.
„Tamam ist in den Himmel gegangen“
Mehr als 40.000 Menschen sind in Dschenin und anderen Orten inzwischen vor den israelischen Militäraktionen geflohen. Seit dem Sechstagekrieg 1967 hat es keine so große Vertreibung von Palästinensern im Westjordanland gegeben. Die meisten sind bei Verwandten oder Freunden untergekommen oder mieteten sich Unterkünfte. Mehrere hundert Familien wurden in Behelfsunterkünften untergebracht. In einer Blindenschule im Süden Dschenins etwa leben jetzt rund 85 Flüchtlinge. Einer von ihnen berichtet, dass fast alle Kinder inzwischen krank seien, weil es so kalt sei.
Von der Stadt erhalten sie das Nötigste, aber die ist durch die wochenlange Militäraktion selbst in schweres Fahrwasser geraten. Das öffentliche Leben rund um das Lager ist teilweise zum Erliegen gekommen. Die Arbeitslosigkeitsquote liege bei mehr als 40 Prozent, sagt der Bürgermeister. Er spricht von einer „humanitären Katastrophe“.
Die Militäraktion betrifft nicht nur die Gegend um das Flüchtlingslager. Am anderen Ende Dschenins, in einem Viertel namens Scharqiya, läuft ein junger Mann durch einen Hof und zeigt auf einige dunkle Stellen über einem Hauseingang. „Das ist Ahmads Blut“, sagt Fadi Saadi. „Und das ist Ahmads Gehirn.“ Sein 14 Jahre alter Cousin Ahmad Saadi wurde hier am 1. Februar durch eine Rakete getötet. Er saß mit Freunden in einem Hof, als die von einer Drohne abgefeuerte Rakete einschlug. Sie galt einem militanten Palästinenser, der zum Zeitpunkt des Angriffs aber nicht in der Gegend war. Immer wieder wird über solche Vorfälle berichtet. Mehrere minderjährige Jungen und Mädchen sowie eine schwangere Frau wurden Opfer von Angriffen.
Ahmad Saadis Familie empfing unmittelbar nach dessen Tod Trauernde, die ihr Beileid ausdrücken wollten. Etwa fünfzig Männer seien auf der Straße gewesen, als wenige Meter entfernt eine weitere Rakete einschlug, berichtet Fadi Saadi. Dieses Mal traf sie ihr Ziel – allerdings zusammen mit einem weiteren Zivilisten, Tamam Saadi. Der 25 Jahre alte Palästinenser war Krankenpfleger und Mitglied einer israelisch-palästinensischen Gruppe von Friedensaktivisten.
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Er wünsche niemandem, dass er seinen toten Sohn von der Straße bergen müsse, sagt Tamams Vater Muhyidin Saadi. Der 72 Jahre alte Palästinenser sitzt mit weiteren Verwandten in einem Zimmer im Untergeschoss der Wohnung. „Ich habe mich zusammengerissen und meine Gefühle kontrolliert, aber es war extrem schmerzhaft.“ Der alte Mann mit dem weißen Vollbart fügt hinzu, es gebe nur eine Sache, die ihn beruhige: „Tamam ist in den Himmel gegangen, zu Gott – an einen Ort, an dem es weder Checkpoints noch Straßensperren gibt.“ Das habe ihm etwas Frieden verschafft.