Was der Green Deal in der ersten Amtszeit von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war, ist die Wettbewerbsfähigkeit in der zweiten. „Die Wettbewerbsfähigkeit ist der rote Faden dieser Kommission“, sagt der für Industriepolitik verantwortliche EU-Kommissionsvizepräsident Stéphane Séjourné im Gespräch mit der F.A.Z. sowie „Financial Times“ und „Le Monde“. Gute Nachrichten sind das allen voran für die Automobilindustrie: Die Europäische Kommission wird wohl schon in der kommenden Woche konkrete Vorschläge dazu vorlegen, wie den Herstellern Strafen für das Verfehlen der 2025 verschärften CO₂-Flottengrenzwerte erspart bleiben.
„Wir prüfen momentan mehrere Optionen, um eine schnelle Lösung ohne eine zwingende Einbeziehung von Europaparlament und Ministerrat zu ermöglichen“, sagt Séjourné. Eine solche Einbeziehung könnte den Vorschlag ausbremsen, weil es nicht zuletzt im Parlament Widerstand gibt. Die strikten CO₂-Ziele für 2035, inklusive des Verbrenner-Aus, will die Kommission indes noch nicht in Frage stellen. Die im Gesetz eigentlich erst für 2026 vorgesehene Überprüfung der Flottengrenzwerte soll aber ein Jahr vorgezogen werden. „Dann haben wir nicht erst 2027, sondern im kommenden Jahr Ergebnisse“, verspricht der Franzose.
Die Kommission will bei der Autoindustrie aber nicht aufhören. Sie will in der zweiten Amtszeit von der Leyens mit einem am Mittwoch vorgestellten Paket aus Bürokratieabbau, „Clean Industrial Deal“ und einem Plan für niedrigere Energiepreise die Industrie entlasten, ohne zugleich die Ziele des Green Deal aufzugeben.
„Realitätscheck nicht bestanden“
Ziel sei, von den 150 Milliarden Euro Bürokratiekosten, unter denen die Industrie wegen Vorgaben der EU leide, bis Ende des Mandates 37,5 Milliarden Euro zu streichen, sagt Séjourné. „Wir reden hier von Notfallmaßnahmen, um unsere Industrie zu entlasten und EU-Regeln an die Realität anzupassen.“ Das am Mittwoch von der Kommission vorgelegte Omnibus-Gesetz zum Abbau der Bürokratie, das die Berichtspflichten zur Nachhaltigkeit, sprich die Gesetze CSRD und Taxonomie, für den CO₂-Grenzausgleich und das Lieferkettengesetz reduzieren soll, sei nur der Auftakt. „Es wird eine Serie von Omnibus-Gesetzen geben.“
Die Kommission rücke damit nicht von den Zielen des Green Deal ab. „Wir drehen nichts zurück, wir vollziehen keine 180-Grad-Wende“, betont Séjourné. „Die Gesetze haben schlicht den Realitätscheck nicht bestanden.“ Das habe man bei der Verabschiedung nicht absehen können. „In dem Moment, in dem wir – wie wir jetzt etwa bei CSRD sehen – mit einem Gesetz ganz neue Berufszweige schaffen, die Unternehmen bei der Umsetzung begleiten, müssen wir uns Fragen stellen lassen.“ Wenn ein Unternehmen ein Jahr benötige, die Voraussetzungen für die Berichtspflichten zu schaffen, und 3000 Seiten dicke Dokumente liefern müsse, müsse die EU überlegen, welche Datensätze sie streichen und welche Unternehmen sie von unnötigen Berichtspflichten ausnehmen könne.
„Neues Geschäftsmodell für die Industrie“
Um den Ausbau grüner Technologien zu fördern und strategisch wichtige Branchen zu schützen, will die Kommission mit dem Clean Industrial Deal europäische Produkte bevorzugen und mit Subventionen unterstützen. 100 Milliarden Euro sollen allein mit Hilfe diverser EU-Fördertöpfe mobilisiert werden.
„Die Dekarbonisierung der Industrie ist für die Kommission nicht mehr nur Klimapolitik, sondern Industriepolitik“, sagt Séjourné. Das gelte vor allem für die Schwerindustrie, die auch die Basis für eine funktionierende Rüstungsindustrie sei, vom Stahl über die Automobilbranche bis zur Chemie. Diese Industriezweige müsse die EU gezielt stärken. „Was wir vorlegen, ist nicht weniger als ein neues Geschäftsmodell für die Industrie.“ Eine Schlüsselrolle spiele dabei, die Nachfrage nach europäischen Gütern durch „Buy-European“-Vorgaben gezielt zu stärken. Dazu, wie hoch der Anteil aus europäischer Produktion sein soll, wird im Clean Industrial Deal, für den Séjourné zuständig ist, nichts gesagt. Das ist in dem schon verabschiedeten Gesetz für grüne Technologien, dem Net Zero Industry Act, anders: Hier ist von 40 Prozent die Rede.
„Wir werden Sektor für Sektor konkrete Vorschläge vorlegen“, sagt Séjourné aber. Im Zentrum sollen dabei öffentliche Aufträge stehen, für die die Kommission Vorgaben zur lokalen Produktion machen will. Sie will aber auch die private Nachfrage fördern, etwa indem sie CO₂-Vorgaben über den gesamten Produktionszyklus hinweg für Leasing-Fahrzeuge macht, von denen in der EU produzierter grüner Stahl profitiert. „So schaffen wir einen Markt für grünen Stahl und erhalten die Produktion in Europa“, sagt der Franzose.
„Stahlindustrie in Europa halten“
Dass solche Vorgaben die Kosten für die Industrie nach oben treiben könnten, da europäische Produkte teurer sind als diejenigen der Konkurrenz etwa aus China, nimmt Séjourné in Kauf. „Es gibt einige, die der Ansicht sind, dass Stahl nicht mehr in Europa hergestellt werden sollte, da es ohnehin weltweit Überkapazitäten gibt und wir nicht wettbewerbsfähig sind, aber das ist zu kurz gedacht: Wir müssen aus strategischen Gründen der Verteidigungsfähigkeit die Stahlindustrie in Europa halten, um nicht völlig abhängig zu sein, wenn die Preise im Ausland steigen“, betont er. Ebenso könne die EU nicht die Automobilproduktion oder die Industrie aller Industrien, die Chemiebranche, auslagern. „Wenn das dann teuer wird, müssen wir eben finanzielle Hilfen bereitstellen.“ Die Kommission will dafür die Vergabe von Staatshilfen und Steuernachlässen für die Dekarbonisierung erleichtern.
Der gemeinsame Einkauf von Gas soll die hohen Energiepreise senken. Um den Strompreis zu senken, setzt die Kommission auf die staatliche Förderung von langfristigen Verträgen zwischen Unternehmen und Stromerzeugern, sogenannte PPA. „Das Instrument ist da, aber bisher nicht genug genutzt worden.“ Das will die Kommission durch ein gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) aufgelegtes Förderprogramm zur Absicherung von PPA ändern. „Damit schaffen wir schnell Abhilfe und entkoppeln den Preis für die Unternehmen von Preisspitzen am Markt“, sagt Séjourné. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er gerne auch weitergehende Vorschläge gesehen hätte, um den Strompreis vom Gaspreis zu entkoppeln. Ein erster pragmatischer Schritt zur Entlastung der Industrie sei aber gemacht.
„Müssen Handelskrieg vermeiden“
Den designierten neuen Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) ruft Séjourné zur Zusammenarbeit bei der Entwicklung einer gemeinsamen Industriepolitik auf: „Das Thema kam im Wahlkampf viel zu kurz.“ Wenn die EU auch in zehn Jahren noch ökonomisches Gewicht in der Welt haben wolle, müsse sie jetzt die Weichen dafür stellen. An erster Stelle müsse eine umfassende Prüfung der Ziele stehen, was die EU gemeinsam erreichen wolle: „Was wollen wir in der Verteidigungspolitik gemeinsam tun, welche Industriezweige wollen wir in Europa halten, wie können wir die Menschen bei den anstehenden Veränderungen unterstützen?“ Wie das dann finanziert werde, ob etwa gemeinsame Schulden nötig seien, müsse man danach klären. „Das ist eine Diskussion, die Regierungen und Medien interessiert, nicht aber die Menschen – die wollen wissen, was wir machen wollen“, sagt Séjourné.
Im Umgang mit Trump wirbt Séjourné stattdessen für ein umsichtiges Vorgehen: „Wir müssen einen Handelskrieg vermeiden, der die Preise in Europa nach oben treibt und die Inflation anheizt.“ Bisher wisse die EU noch nicht, ob Trump mit seinen Zollandrohungen ernst mache. „Wir können nicht auf alle Ankündigungen reagieren, weil alle 48 Stunden ohnehin etwas anderes kommt“, sagt er. „Vor zwei Wochen waren es Zölle, zwei Wochen später das europäische Modell, seit der Sicherheitskonferenz in München ist es die Verteidigung, nächste Woche vielleicht wieder etwas anderes. Also warten wir erst einmal ab, was er konkret tut.“
Am Ende gehe es dann darum zu dechiffrieren, was Trump mit seinen Drohungen wirklich erreichen wolle: Ob es ihm um Handelspolitik, die EU-Digitalgesetze oder etwas völlig anderes gehe, und dann zu reagieren. Ein Einknicken bei den EU-Digitalgesetzen DMA und DSA schließt Séjourné dabei aus. „Die USA können fordern, was sie mögen, aber wir haben unsere roten Linien.“