Forschende haben eine überraschende Vielfalt an Bakterien und anderen Organismen in Gletscherbächen entdeckt. Aber die Erforschung dieser Biodiversität ist ein Wettlauf mit der Zeit. Denn die Gletscher schmelzen rasant.
Es ist gar nicht so einfach, an einem Februarmorgen bei minus 13 Grad an den Gletscherbach zu kommen. Direkt über uns verstecken sich Berge und Gletscher in den Wolken, vor uns liegt die tief verschneite Winterlandschaft des Arollatals. Leise plätschert der Bach irgendwo unter der weißen Decke, in der auch die Biologin Léa Francomme bis zu den Hüften feststeckt. Sie gehört zu dem Forschungsteam, das im Kanton Wallis am Bach des Arollagletschers unterwegs ist.
Mit Schneeschuhen erreichen wir schließlich den Gletscherbach, der sich erst ein paar hundert Meter weiter talabwärts zeigt. Aus einem gelben wasserdichten Rucksack holen Léa Francomme und ihr Kollege Stefan Eckensperger Reagenzgläschen, Pinzetten und Messgeräte und beginnen mit der Arbeit im eiskalten Bach.
Biologin Léa Francomme ist Teil des Forschungsteams, das im Wallis am Bach des Arollagletschers unterwegs ist – sie sammelt Proben, die später untersucht werden.
Lebensraum Gletscherwasser
Francomme fischt mit einer langen Pinzette bräunliche Fäden aus dem Wasser. Hydrurus Foetidus heißt diese bislang noch kaum erforschte Braunalge. “Sie ist ausschließlich in Gletscherbächen zu finden”, erklärt die Forscherin. “Die Alge ist an diese extremen Bedingungen mit sehr kalten Temperaturen und kaum Nährstoffen angepasst.” Schon bald aber könnte die erstaunliche Braunalge eine bedrohte Art sein, fürchtet Francomme: “Mit dem Klimawandel werden die kalten Lebensräume verschwinden, und die Alge wird ihre natürliche Umgebung verlieren.”
Wie genau diese natürliche Umgebung – der Gletscherbach – beschaffen ist, das untersucht Stefan Eckensperger. Der Biologe lässt das Wasser durch einen Filter laufen. “Dieser Filter ist so fein, dass selbst Bakterien eingefangen werden”, sagt er. Im Labor werde dann später analysiert, welche Mikroorganismen im Gletscherwasser sind.
Viele der Organismen in den Gletscherbächen kommen nur an diesem Ort vor. Es sind endemische Arten. Diese, so die Forschenden, sind stärker vom Aussterben bedroht als nicht-endemische Arten.
Erstaunliche mikrobielle Vielfalt
Die Forschenden gehören zum Team von Tom Battin, Professor für Umweltwissenschaften an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) und Leiter einer groß angelegten Studie zum Mikrobiom der Gletscherbäche. “Vanishing Glaciers” heißt das von der NOMIS-Stiftung finanzierte Projekt. “Die Gletscher verschwinden”, sagt Battin, “und wir haben uns die Frage gestellt: Was außer Wasser verlieren wir?”
Mehr als fünf Jahre lang sammelten und analysierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Wasserproben aus 170 Gletscherbächen auf der ganzen Welt – in den Schweizer Alpen und im Himalaya, in Neuseeland, im russischen Kaukasus und im ostafrikanischen Rwenzori-Gebirge, in Grönland, Alaska und den Anden von Ecuador und Chile.
Überall entdeckten sie in den Gletscherbächen eine erstaunliche mikrobielle Artenvielfalt – Tausende Bakterien, Pilze, Algen und Viren. “Gletscherbäche sind die extremsten Ökosysteme der Erde”, sagt Battin, “und mit jedem Tag, an dem die Erde sich erwärmt und die Gletscher schmelzen, verlieren wir eine Biodiversität, die wir gerade erst kennenlernen.”
Klimawandel setzt Forschung unter Druck
“Besonders dramatisch ist, dass etwa die Hälfte der entdeckten Mikroben endemisch ist”, so der Umweltwissenschaftler. Battin spricht von einem überraschenden Aha-Erlebnis: “Wir haben festgestellt, dass es in diesen extremen Systemen so etwas wie eine Biogeografie der Mikroben gibt.”
In den Gletscherbächen Neuseelands etwa entdeckte sein Team eine Vielzahl an Bakterien, die nirgendwo anders auf der Welt vorkommen. Auch in Ecuador fanden die Forschenden solche endemischen Arten. “Diese Arten sind stärker als nicht-endemische Arten vom Aussterben bedroht”, sagt Battin. “Wenn die in Neuseeland verschwunden sind, finden wir sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nirgendwo anders mehr wieder. Das erhöht jetzt natürlich den Druck, dieses Mikrobiom weiter zu erforschen.”
Hoffnung auf neue Antibiotika
Hydrurus Foetidus, die sonderbare Braunalge aus dem Gletscherbach im Arollatal könnte sich vielleicht irgendwann auch an warme Lebensräume anpassen. Forschungsleiter Battin aber ist sicher, dass mit der rasant fortschreitenden Gletscherschmelze die unsichtbare mikrobielle Vielfalt der Gletscherbäche verloren gehen wird – ein einzigartiges Mikrobiom, das der Menschheit auch von großem Nutzen sein kann, etwa in der Medizin. “Wir verlieren nicht nur eine Biodiversität per se, sondern genetisches Potenzial. Wenn es uns gelingt, dieses Potenzial zu entschlüsseln, bevor es zu spät ist, ist die Hoffnung groß, dass wir zum Beispiel neue Antibiotika finden”, sagt Battin.
Biobank für die Zukunft
Die Mikroorganismen aus den extremen Ökosystemen der Gletscherbäche könnten eine Schlüsselrolle spielen im Kampf gegen antibiotikaresistente Krankheitserreger. “Es ist ein Wettlauf mit der Zeit”, sagt Battin. Um das bedrohte Mikrobiom für künftige Generationen zu sichern, plant er nun eine Art Zoo für die Bakterien der Gletscherbäche – eine Biobank für die Zukunft. Wenn die Gletscher verschwunden sein werden.