Der zweite Tiefschlag tut nicht minder weh als der erste. Wieder müssen alle FDP-Abgeordneten ihre Büros im Bundestag räumen, ihre Mitarbeiter verlieren ihre Arbeitsplätze, die Fraktion der Freien Demokraten mit ehedem 92 Mitgliedern löst sich auf. Diese Gefahr war stets da, mit den 4,3 Prozent wurde aus abstraktem Risiko am Wahlabend schmerzhafte Gewissheit. Die Parteiführung ist weg, die Zukunft des liberalen Projekts ungewiss. So war es schon nach der schwarz-gelben Merkel-Regierung im Herbst 2013, so ist es nach dem Ampel-Aus im Winter 2025. Es gibt weniger Häme als damals, aber der große mitfühlende Aufschrei bleibt aus.
Eine Ausnahme ist Joachim Gauck. Der Bundespräsident a. D. bedauert das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag, wie er auf Nachfrage ausrichten lässt. Liberale Politik sollte in einer offenen Gesellschaft vertreten sein, fordert der einstige Bürgerrechtler. Die Freiheit ist sein Lebensthema, die Jahre in der DDR hatten ihn gelehrt, was Diktatur bedeutet.
Vermisst sonst noch jemand die Partei, die ihr Freiheitsversprechen auch im Namen trägt? Kann die Union die FDP in der Wirtschaftspolitik ersetzen, angesichts der Schnittmengen etwa in der Finanzpolitik? Oder wird mit der Liquidation der Fraktion dieses Mal das ganze liberale Konzept abgewickelt, das darauf zielt, dem Privaten einen Schutzraum gegenüber dem Staat zu geben, damit ein jeder nach eigenen Vorstellungen leben kann?
Nicht nur die FDP steckt in einer Identitätskrise
Einer, der die liberale Sache und die FDP nicht verloren gibt, ist der Bonner Staatsrechtler Udo Di Fabio. Der frühere Bundesverfassungsrichter – überzeugter Liberaler, aber kein Parteimitglied – sieht alle großen politischen Strömungen des 18. /19. Jahrhunderts in einer Identitätskrise, ob Liberalismus, Konservatismus, Sozialdemokratie oder Ökologismus.
Das zeige sich am Erstarken linker und rechter Populisten, das konsistente Lagerbildung unmöglich mache. Das sei nicht nur ein Problem der FDP, auch die SPD diskutiere über ihre Ausrichtung, und selbst der Wahlsieger Union könne sich nicht beruhigt zurücklehnen. „Die politischen Ideen sind alle noch da, aber sie müssen sich in die Zeit stellen“, beschreibt Di Fabio die Reformaufgabe, vor der alle stehen.
Die Krise der FDP macht er an zwei Punkten fest: Ihr Wirtschaftsliberalismus habe gut mit der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards harmoniert, wirke aber in der heute staatlich stärker „gelenkten Marktwirtschaft“ hilflos. Ihr linksliberaler Flügel wiederum müsse sich fragen, ob es bei seinen Anliegen noch um Emanzipation und bürgerliche Selbstbestimmung gehe oder um manchmal exzentrisch wirkende Ziele von Aktivistengruppen.
Die richtige Balance finden
Wenn der Rechtsstaat nicht mehr gleichmäßig und wirksam für Sicherheit sorgen könne, bedrohe das gerade das Freiheitsgefühl der weniger gut Gestellten. „Wir brauchen einen neuen Liberalismus“, folgert Di Fabio. Der Kern sei bewahrenswert, das Programm müsse aber „an das Komplexitätsniveau unserer Gesellschaften“ angepasst werden: „Es geht um die Wiedergewinnung der richtigen Balance zwischen Handlungsfähigkeit des Staates und individueller Freiheit.“
Das ist leichter gesagt als getan, schließlich ist in Deutschland wie in ganz Kontinentaleuropa der Glauben übergroß, der Staat könne Probleme am besten lösen. Das natürliche Wählerreservoir für eine Partei, die dagegen ankämpft, ist schmal. Die FDP war immer eine kleine Partei für eine individualistische Klientel, für Selbständige, Handwerker, Unternehmer, Start-ups. Für ihr Angebot, Freiräume zu schaffen mit weniger Steuern und weniger Auflagen, kann sie dort auf Resonanz hoffen.
Allerdings tut gerade diese Klientel sich mit Kompromissen schwer, wie sie die FDP in der Ampelregierung mit Roten und Grünen eingehen musste. „Unser ganzes liberales Umfeld mochte diese Koalition von Anfang an nicht“, sagt Karl-Heinz Paqué, der Präsident der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung, ein Grenzgänger zwischen Politik und Wissenschaft. Seinen Magdeburger Ökonomielehrstuhl verließ er einige Jahre, um der FDP als Finanzminister in Sachsen-Anhalt zu dienen.
Abwanderung zur AfD
Paqué berichtet von dem völligen Unverständnis, mit dem dieses der FDP zugeneigte Milieu der Handwerksmeister, Macher, Leistungsträger reagiert habe, als die FDP in der Ampelkoalition das Bürgergeld unterstützte, das fast schon wie ein bedingungsloses Grundeinkommen angemutet habe. Ein Teil dieses „rustikalen Milieus aus der Provinz“ sei gerade in Ostdeutschland zur AfD abgewandert – enttäuscht und wohl auch emotional entfremdet, weil es in Berlin vor allem „liberale Jungtechnokraten“ am Werk sah.
So schnell die wirtschaftsaffine Klientel vertrieben ist, so schwer sind andere Wählerschichten für die FDP zu gewinnen. Im Mai 2024 diskutiert der FDP-Vorsitzende Christian Lindner mit Studenten der Berliner Humboldt-Universität über die Zukunft der Alterssicherung. Eine Frau stellt ihm eine prinzipielle Frage: Im Grundgesetz sei von der Würde des Menschen die Rede, nicht von der Würde des arbeitenden Menschen. Daher müsse der Staat auch jene ausreichend unterstützen, die nicht arbeiten wollten.
Der FDP-Mann antwortet, niemand müsse arbeiten, der nicht wolle – das dann allerdings selbst finanzieren. Nicht richtig wäre es, wenn andere dafür mehr arbeiten müssten. Lindners Sichtweise ist nicht mehr selbstverständlich. Das zeigen die Debatten über ein wirklich bedingungsloses Grundeinkommen vom Staat (was das Bürgergeld nach wie vor nicht ist).
FDP besonders im Osten schwach
In Berlin ist das Zutrauen in die Möglichkeiten des Staates besonders groß, obwohl der Staat hier besonders schlecht funktioniert. Jeder fünfte Wähler machte bei der Bundestagswahl sein Kreuzchen bei der Linkspartei, keine andere bekam in der Hauptstadt mehr Stimmen. In der einst geteilten Stadt reüssiert eine Partei, die auch aus dem Erbe der SED entstanden ist – der Partei, die den Bürgern in der DDR nicht nur mit der Mauer Lebenschancen und Freiheit verbaut hatte.
Auch jenseits von Berlin auf dem Gebiet der ehemaligen DDR fand in der Bundestagswahl nicht etwa die FDP großen Zulauf. Während die liberale Partei dort kaum noch existiert, ist der Zuspruch zur in Teilen rechtsextremen AfD enorm. Stimmen für die AfD mögen auch ein Protest sein, weil der demokratische Staat als übergriffig empfunden wird, Stichwort Heizungsgesetz.
Ob in Ost- oder Westdeutschland, neoliberal ist zum Kampfbegriff geworden. Das Wort steht für entfesselte Marktkräfte, für profitmaximierende Konzerne, für egoistische Unternehmer, für gierige Banker, die eine globale Finanzkrise verursacht haben, für die Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste.
Für die Begrenzung von Marktmacht
Dabei stehen neoliberale oder ordoliberale Ökonomen für etwas ganz anderes: einen starken Staat, der die Macht der Konzerne begrenzt, indem er notfalls deren dominierenden Einfluss beschneidet, um die Interessen anderer Anbieter und der Kunden zu sichern. In Zeiten von Amazon und der Plattform X wäre dies mehr denn je geboten. Doch in Amerika geschieht das Gegenteil. Der Unternehmensgigant Elon Musk hat großen politischen Einfluss.
Vor einer Entwicklung wie in den Vereinigten Staaten warnt der Staatsrechtler Udo Di Fabio. Die in Europa manchmal übersteigerte Erwartungshaltung an den Staat und der Glaube, dass die Steuerungsintelligenz im politischen System liege, hätten gerade bei uns zu einer als blockierend empfundenen Bürokratie geführt. Was die Europäische Union nun dagegen setze, etwa eine kurze Verschiebung des Lieferkettengesetzes, sei ein erster Schritt – wenn die EU nicht zugleich eine Fülle neuer Regeln aufstelle.
„Wir haben ein generelles Steuerungsproblem der westlichen liberalen Gesellschaften. Regulative Blockaden gefährden uns, sie gefährden auch die Stabilität der Welt“, befürchtet Di Fabio. Daraus erwachse womöglich auch bei uns die Sehnsucht nach einfachen Lösungen, nach dem „Durchschlagen des Gordischen Knotens“ – nach einem libertären Kettensägenliberalismus, wie ihn Präsident Trump und Musk derzeit ausprobieren. Das werde in den USA vermutlich so nicht funktionieren.
Ein effizienter Staat schützt die Freiheit
Man werde sehen, wie weit das libertäre Programm und der Neoprotektionismus komme oder ob er am Ende nur mehr Staatsverschuldung erzeuge. Das unterscheide den Liberalen vom Libertären: Der Libertäre will den Staat um jeden Preis zurückbauen, der Liberale glaube, dass es einen effizienten Staat brauche, der die Freiheit wirksam schützt.
Di Fabio zeigt sich überzeugt, „dass der Westen, wenn er offen und lernfähig bleibt, jeder Herausforderung gewachsen ist“. Hier sieht er auch die große Chance der FDP. Sie müsse die Probleme offenlegen, ohne gleich mit Kettensägen herumzuhantieren. Die FDP sollte die Auszeit im Bund nutzen, um ihr Programm zu erneuern und der liberalen Programmatik den Anschein der Beliebigkeit zu nehmen.
Das Wirtschaftswendepapier, mit dem Lindner SPD und Grüne zuletzt auf einen weniger staatsgläubigen Kurs bringen wollte, geht Di Fabio noch nicht weit genug. Der politische Liberalismus enthalte auch ein Sicherheitsversprechen. Migration, innere Sicherheit – auch dazu müsse die FDP sich neu positionieren. Das habe Lindner klarer als andere in seiner Partei erkannt und angesprochen.
Wirtschaftsliberalität mit eigener Vertretung
Läuft die FDP Gefahr, dass sie durch eine unter Friedrich Merz wieder wirtschaftlich liberaler positionierte Union überflüssig wird? Diese Sorge teilen weder Stiftungschef Paqué noch Di Fabio. Wirtschaftsliberalität brauche eine eigene politische Vertretung, davon sind beide überzeugt. Es komme nicht darauf an, was die Union wolle, sondern was sie jetzt durchsetzen könne. Mit der SPD werde das außerordentlich schwierig, selbst wenn sie wieder etwas in die Mitte rücke.
Beide erinnern an vollmundige Aussagen von SPD und Grünen, nachdem die FDP 2013 aus dem Bundestag geflogen war: Die Sozialdemokraten wollten die FDP wirtschaftspolitisch überflüssig machen, die Grünen sie als Bürgerrechtspartei beerben. „Das hat alles nicht geklappt“, sagt Paqué. Di Fabio verweist darauf, dass der einstige SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der Kanzler Schröders liberale Reformagenda 2010 durchzusetzen half, enttäuscht über deren spätere Wirtschaftspolitik aus seiner Partei austrat und für die Liberalen warb, auch wenn er der FDP formal nicht beitrat.
Die FDP erscheint damit einmal mehr als schwieriger, aber nicht hoffnungsloser politischer Sanierungsfall. „Es gibt da so eine weltanschauliche Resilienz“, macht Paqué seiner Partei Mut. Geld für den Wiederaufbau sei anders als 2013 auch vorhanden, dank reichlicher Spenden. Allerdings fehlt diesmal das Wichtigste: ein klarer Kopf, der die Führung so beherzt und fähig übernehmen kann wie damals Christian Lindner. Sein Rücktritt noch am Wahlabend „wie ein Gentleman“, wie es anerkennend heißt, hinterlässt eine tiefe Lücke. Elf Jahre hat er die Partei geführt. Zunächst ging es mit starkem Ergebnis von 10,7 Prozent 2017 zurück in den Bundestag.
Besser nicht regieren als schlecht
Eine sofortige Regierungsbeteiligung wollte Lindner seiner unerfahrenen Truppe nicht zumuten, zumal er Kanzlerin Merkel misstraute nach den schlechten Erfahrungen in der schwarz-gelben Koalition. Unter Zögern ließ sich Lindner 2021 auf die Ampel ein, weil klar war, dass es politisch nicht viele Schnittmengen mit SPD und Grünen gab. Aber er wollte beweisen, dass die FDP wieder regierungsfähig war und bereit, Verantwortung zu übernehmen. Das ist ihr in der Frühphase der Ampel, als der Ukrainekrieg schnelle Entschlüsse erforderte, auch gelungen.
Wo lag Lindners Fehler, was haben die Mitstreiter falsch gemacht? Vor der FDP liegen wieder „Schattenjahre“. Drei Aufgaben warten: Sie muss die Ampelzeit ehrlich aufarbeiten, um daraus zu lernen. Sie muss ihre Personalfragen ohne „jahrelange Feldschlachten“ regeln, wie ein FDP-Mann mahnt. Drittens muss sie ihr Programm einem harten Wirklichkeitscheck unterziehen. Für Pessimismus ist kein Anlass: Für ein überzeugendes liberales Angebot wird sich auch wieder genügend Nachfrage finden. So viel Vertrauen in den Wählermarkt sollte die FDP haben.