Je nachdem, wie das Licht durch die Kassettendecke in das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus fällt, erscheinen die Dinge unterschiedlich. So wollte es der Architekt, und auch Friedrich Merz, Lars Klingbeil, Markus Söder und Saskia Esken, die möglichen Architekten einer schwarz-roten Koalition, haben in den vergangenen Tagen einen neuen Blick auf die Dinge entwickelt. Die vier gehen am Dienstagabend, wenige Minuten nach 19 Uhr, schnellen Schrittes an die vier Rednerpulte, die in dem Bundestagsgebäude spontan aufgebaut worden sind. Die Sonne ist untergegangen, der Lichthof, ein ungewöhnlicher Ort für eine öffentliche Stellungnahme, ist längst dunkel. Ernst blicken sie in die Kameras.
Dieser Auftritt ist ein Einschnitt. Nicht nur angesichts der Summen, die verkündet werden. CDU-Chef Friedrich Merz, der der nächste Kanzler der Bundesrepublik werden will und dessen Chancen darauf am Dienstagabend gestiegen sein dürften, wählt gewichtige Worte, um zu beschreiben, wie viel Geld für die Verteidigung Deutschlands bereitgestellt werden soll: „Whatever it takes“, griff Merz die vom einstigen Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi gern genutzte Formulierung auf, die dafür steht, dass in einer Krise alles Erforderliche getan werden muss. Die Bundestagswahl liegt erst zehn Tage zurück. Es gibt noch nicht einmal ein fertiges Sondierungspapier, aber schon milliardenschwere Vorhaben.
In der SPD wird es im Anschluss heißen, Merz habe den Sozialdemokraten mit dem 500-Milliarden-Sondervermögen für die Infrastruktur kein Geschenk gemacht, sondern schlicht aus den Zahlen und Notwendigkeiten im Inland wie im Ausland die richtigen Schlüsse gezogen. Das Grummeln in der Union angesichts solcher Schulden werde schon bald übertönt werden von den Erleichterungsseufzern, dass Merz ein Kanzler werde mit finanziellem Spielraum.
Scholz, der sich im Recht sehen darf, empfängt Merz
Am Mittwochvormittag fährt Merz bei dem Mann vor, der für sich in Anspruch nehmen kann, die Finanzierungslücke angesprochen zu haben, die man nun zu stopfen versucht. Im Wahlkampf hatte Bundeskanzler Olaf Scholz viel Aufsehen erregt mit der Aussage bei einer F.A.Z.-Veranstaltung, er habe das Gefühl, „im Augenblick wird mit größter Intensität, großer Umsicht das deutsche Volk belogen“. Auf die Nachfrage, von wem das Volk belogen werde, sagte er: „Von allen, die sich darum bemühen, eine Frage auszuklammern: Wie bezahlen wir es?“ Da stritt man noch um die überschaubar anmutende Summe von drei Milliarden Euro, mit der die Ukraine mehr für die Luftverteidigung tun sollte. Die wird zunächst auch weiter nicht freigegeben.
Am Mittwochvormittag ist die Lage eine andere, und die Größenordnungen auch. Nicht nur, weil die Deutschen ein neues Parlament gewählt haben, in dem AfD und Linke künftig mit ihrer Sperrminorität Grundgesetzänderungen verhindern können – weshalb es mit dem alten Bundestag jetzt auch alles so schnell gehen soll. Sondern vor allem, weil seit der Gruselvorführung aus dem Oval Office vom vergangenen Freitag und der Erniedrigung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durch den amerikanischen Präsidenten Donald Trump und seinen Stellvertreter J. D. Vance vielen in Berlin noch deutlicher geworden ist, wie schnell man verlassen werden kann, wenn man sich auf dieses Washington verlässt.
Ins Kanzleramt hatte Scholz Merz, den CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und die SPD-Parteivorsitzenden Klingbeil und Esken eingeladen, um vom Ukraine-Gipfel am Sonntag zu berichten und über den EU-Gipfel an diesem Donnerstag zu sprechen. Gut eine Stunde sitzen sie zusammen in der Kanzlerwohnung im achten Stock und beraten. Merz hatte schon am Montag den Sondierern klargemacht, dass er zu dem Treffen im Kanzleramt eine erste Einigung mitbringen wolle.
Union und SPD brauchen doppelte Zweidrittelmehrheit
Als Kanzler wird Scholz Deutschland beim Gipfel in Brüssel an diesem Donnerstag vertreten. Als Merz und die anderen das Kanzleramt wieder verlassen, ruft er deshalb auch Selenskyj an. Wie die Bundesregierung danach mitteilt, redet Scholz mit ihm über die militärische und humanitäre Lage und über die Wege zu einem gerechten Frieden. Scholz habe, heißt es, die Bereitschaft Selenskyjs begrüßt, „zum frühestmöglichen Zeitpunkt Verhandlungen aufzunehmen“. Am Donnerstag wird Merz zwar auch in Brüssel sein, um sich im Kreise der EVP-Regierungschefs abzusprechen. Bevor der Gipfel aber beginnt, wird er mittags wieder abreisen – in Berlin wird weiter sondiert.
Nun gilt es, die notwendige Zweidrittelmehrheit für das zu bekommen, was Merz, Klingbeil und Co. am Dienstagabend auf den Weg gebracht haben. Es soll kein Sondervermögen für die Bundeswehr geben, sondern ein noch viel größeres Rad gedreht werden. Alle Ausgaben, die für die Verteidigung erforderlich sind und sich oberhalb von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts befinden, sollen von der Schuldenbremse ausgenommen sein. Europa müsse erwachsen werden, sagte Merz. Die Regelung sieht keine Obergrenze vor. Die Diskussion, ob Deutschland zwei, drei oder vier Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung ausgibt, wäre gleich mit abgeräumt.

Doch beschlossen die Parteien, die eine Regierung bilden wollen, noch Weiteres. Zur Ankurbelung der Wirtschaft wollen Union und SPD 500 Milliarden Euro über zehn Jahre in die Infrastruktur investieren. Hierzu ist die Einrichtung eines Sondervermögens geplant. Dazu muss, wie für die Lockerung der Schuldenbremse, das Grundgesetz mit Zweidrittelmehrheit geändert werden. CSU-Chef Markus Söder zählte am Dienstagabend auf, was alles unter Infrastruktur fallen soll: Sanierungen im Verkehrsbereich, eine Stärkung der Energieversorgung, Investitionen in Bau, Digitales, Schulen, Kinderbetreuung und Krankenhäuser. Nur vom Klima sprach er nicht.
Es gibt Kritik in der Union, aber keine von Gewicht
Aber es soll nicht nur der Bund profitieren: 100 Milliarden Euro des Infrastruktur-Sondervermögens sind für Länder und Kommunen vorgesehen. Söder stellte das besonders heraus. Das sei keine leichte Aufgabe angesichts der Finanzlage im Bund. Umso dankbarer sei er für den Schritt. Er äußerte die Hoffnung, dass damit künftig auch eine konstruktive und größere Mitwirkung des Bundesrats verbunden sei. Die Länder sollen noch an anderer Stelle profitieren. Durch eine Konkretisierung des Grundgesetzes sollen die Regeln von Bund und Ländern angeglichen werden, künftig soll also auch für die Länder die 0,35-Prozent-Regel gelten, die etwas Spielraum für Schulden gibt.
Der Zeitplan sieht vor, dass nächste Woche Donnerstag die erste Lesung durch den noch alten Bundestag stattfindet. Danach sollen Ausschussberatungen im Eiltempo stattfinden, damit am 17. März abschließend im Bundestag abgestimmt werden kann. Der Bundesrat entschiede dann am 21. März. So hat es die F.A.Z. aus Parlamentskreisen erfahren.
Erst mal brauchen Merz und Klingbeil ihre eigenen Truppen für ihren Plan. Die CDU hatte ihren Wahlkampf in erheblichem Maße damit bestritten, gegen Schulden und für das Sparen zu argumentieren. Noch zwei Wochen vor der Bundestagswahl hatte der Kanzlerkandidat gesagt, man müsse nun auch mal mit dem Geld auskommen, das es gebe. Die von ihm und seinen Parteifreunden genährte Hoffnung, Merz werde ein harter Sparkanzler, ist mit dem Auftritt am Dienstagabend mehr oder minder dahin.
Doch zu einem Aufstand in den eigenen Reihen führte das am Mittwoch nicht. „Es geht hier um Freiheit, es geht um Sicherheit“, sagte Thorsten Frei dem F.A.Z.-Podcast Einspruch. „Es geht um Wohlstand, der auf dieser Basis gedeihen kann. Und deshalb geht es für unser Land um alles.“ Frei, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, ist bisher einer der entschiedensten Verteidiger der Schuldenbremse gewesen. Aber er ist auch eng ins Sondierungsteam der Union eingebunden, kann also kaum umhin, den Vorschlag von Merz zu verteidigen. Angesichts der Lage könne es „auch keine Begrenzung geben, sondern dann müssen wir alles tun, was notwendig ist, um unsere Freiheit und Sicherheit zu verteidigen“.

Bei einer Sitzung der Unionsfraktion soll es Fragen gegeben haben. Der Vorgänger von Merz im Fraktionsvorsitz, der Abgeordnete Ralph Brinkhaus, wird von der „Bild“-Zeitung mit den Worten zitiert: „Friedrich, ist das der Preis, den du zahlen musstest?“ Man habe im Wahlkampf das Gegenteil erzählt. Auch der Vorsitzende der Jungen Union, Johannes Winkel, kritisiert die Einigung von Union und SPD. „Aus Sicht der jungen Generation ist das ein harter Schlag für Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit bei Staatsfinanzen, weil die Botschaft ist: lieber bequeme Schulden als unbequeme Reformen“, sagt Winkel dem „Tagesspiegel“. Gewichtige Kritik am Schuldendeal aber gibt es in Union und SPD nicht.
Grüne oder FDP werden gebraucht
Doch die Stimmen aus den eigenen Reihen reichen nicht. Die Sondierer brauchen für ihre verfassungsändernden Vorhaben sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit. Da sie über diese in beiden Gremien nicht verfügen, benötigen sie Stimmen aus anderen Parteien. Im Bundestag kommen dafür Grüne und FDP infrage, die FDP allerdings nur in der endenden Legislaturperiode, da sie im nächsten Bundestag nicht mehr vertreten sein wird. AfD und Linkspartei sind gegen die angestrebten Milliardenausgaben für die Rüstung. Im derzeitigen Bundestag verfügen SPD und CDU/CSU zusammen über 403 der 733 Stimmen. Eine Zweidrittelmehrheit liegt bei 489 Stimmen. Merz und Klingbeil müssen also noch mindestens 86 Stimmen von Grünen und/oder FDP bekommen. Die Grünen haben 117 Abgeordnete in diesem Bundestag, die FDP 90.
Unter FDP-Abgeordneten verbreitete sich am Dienstagabend Fassungslosigkeit. Man schaltete sich zu einer Fraktionssitzung zusammen. Allgemeine Stimmung: „sehr, sehr, sehr, sehr starke Verwunderung“ über die Biegsamkeit der Union, wie ein Liberaler berichtet. Dass Klingbeil vor der Hauptstadtpresse sogar davon gesprochen habe, dass nun endlich Geld für Kitas da sei, habe man „krass“ gefunden. Der Fraktionsvorsitzende Christian Dürr äußerte am späten Dienstagabend gegenüber der F.A.Z., die „Öffnung der Schleusentore für Schulden für alles Mögliche“ zeige, dass es Merz nicht primär darum gehe, die Verteidigung zu stärken. Er schaffe sich Spielräume, „um die Sozialdemokraten ruhigstellen zu können“.
In der FDP unterstellt man Merz das Kalkül, im Schatten des Eklats im Weißen Haus am vorigen Freitag mit einer „Zeitenwende 2.0“ beeindrucken zu wollen. Die Liberalen gehen davon aus, dass nach der ersten Lesung im Bundestag Beratungen folgen. Da sehe man weiter, heißt es.
Die angehende schwarz-rote Koalition muss die Ablehnung aus der FDP aber noch nicht in Panik versetzen: Wenn die Grünen in großer Geschlossenheit zustimmen, reicht das auch. Immerhin zeigten auch die sich zwar empört in den ersten Reaktionen. Das zielte aber mehr darauf ab, wie es zu dieser Ankündigung gekommen war – nur bedingt darauf, was es nun zu beschließen gilt. Denn für eine Reform der Schuldenbremse hatte die Partei auch im Wahlkampf geworben – und für mehr Geld für Infrastruktur, Verteidigung und die Ukraine ebenso. So hielt die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge Merz vor allem ein gewisses Maß an „Skrupellosigkeit und Unverfrorenheit“ vor, weil er nun machen wolle, was er vor der Bundestagswahl noch abgelehnt hatte.
Grüne: Wir verhandeln hart und vertraulich
Die Grünen versuchen so am Mittwoch vor allem deutlich zu machen, dass sie auch gegen das Vorhaben stimmen können. Ein erstes Gespräch der beiden Fraktionsvorsitzenden Dröge und Britta Haßelmann mit Merz, Dobrindt und Klingbeil kann am Mittwoch viele Fragen der Grünen offensichtlich nicht klären. Neben dem fehlenden Klimaschutz fragt man sich, warum man nicht auch für die Investitionen in die Infrastruktur die Schuldenbremse anzufassen gedenkt. Oder warum bei den Ausgaben für Verteidigung wieder der Fokus auf der Bundeswehr allein liegt.
Schon bei dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen hätten die Grünen gerne eine weiteren Sicherheitsbegriff angewendet. Eine Stunde dauert das Gespräch der Fraktionsspitzen. Dröge und Haßelmann treten danach vor die Presse. „Wir verhandeln gerne und hart, aber wir verhandeln auch vertraulich, sonst machen Verhandlungen keinen Sinn“, sagt Dröge.

In der SPD gibt es nach der Einigung mit der Union einen Anflug des Gefühls, dass man offensichtlich eine Bundestagswahl verlieren muss, um dann die eigenen Inhalte durchzusetzen. Sei’s drum. Außerdem kommen ja noch Brocken von erheblichem Umfang auf die Verhandlerteams zu. Merz nannte am Dienstagabend die innere Sicherheit, die Begrenzung der irregulären Migration und das Bürgergeld. Denn es stellt sich die Frage: Will diese Koalition auch sparen?
Bemerkungen zum Bürgergeld könnten ein Hinweis darauf sein, wo die Union ran will an die Ausgaben für Soziales. Sie machen einen großen Teil des Haushalts aus, Potential gibt es also. Aber die SPD will Kürzungen beim Sozialen verhindern. Es bleibt also herausfordernd. Die SPD dürfte ahnen, dass sie Merz nun auch wird entgegenkommen müssen, wie er es bei den Investitionen tat. Das Sondervermögen Infrastruktur dürfte für die SPD noch einen Preis bekommen.
Wenn im Bundestag alles beschlossen sein sollte, muss auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit her. Die liegt bei 46 Stimmen. Mit den Stimmen aus Ländern, in denen Linkspartei, BSW oder die Freien Wähler mitregieren, können Merz und Klingbeil nicht rechnen. Würden alle Länder mitmachen, in denen ausschließlich CDU, CSU, SPD, Grüne oder FDP regieren, kämen 49 Stimmen zusammen, also drei mehr als die Zweidrittelmehrheit. Würde jedoch die FDP sich verweigern, fielen die Stimmen aus Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz weg. Eine Zweidrittelmehrheit käme dann nicht zustande. Es sind noch erhebliche Hürden zu nehmen, bevor „Whatever it takes“ Gesetzeskraft hat.