Die Tür ist aus zwanzig Zentimeter starkem, schwarz gestrichenem Stahl und nur über einen drehbaren Doppelgriff zu öffnen. Was aussieht wie der Weg in den Tresorraum einer Bank, ist der Eingang zur 153. Gesamtschule in Charkiw. Er liegt acht Meter unter der Erde und ist über drei Treppenlängen zu erreichen. Vor der Tür befindet sich die Garderobe, wo an diesem kalten Februartag Anoraks und Wollmäntel sowie dicke Winterstiefel abgestellt sind. Hinter der Tür liegen zwei lange Flure mit Klassenzimmern, Toiletten und einer kleinen Cafeteria.
Als es zur Pause klingelt, stürmen die Grundschüler auf den schmalen Gang, stellen sich in zwei Reihen gegenüber auf und bilden mit ihren Armen ein Dach. Dann toben sie von hinten beginnend durch die so gebildete Brücke und reihen sich vorn wieder ein. Einige kaufen schnell einen Tee oder eine Teigtasche, die wahlweise mit Käse oder Marmelade gefüllt sind, dann ruft die Klingel zurück zum Unterricht, und auf den Gängen wird es wieder still. Eigentlich wäre das die Hofpause gewesen, doch raus dürfen die Schüler nicht, das ist viel zu gefährlich.
Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, liegt nur 40 Kilometer von Russland entfernt. „Wenn die eine Rakete starten, haben wir wegen der kurzen Vorwarnzeit keine Möglichkeit, alle Kinder sicher in den Keller zu bringen“, sagt Olena Martinowa, die in der Cafeteria sitzt und Mathearbeiten kontrolliert. Für ein Lehrerzimmer ist hier kein Platz, ihre Kolleginnen machen Vorbereitungen auf Sitzbänken in den Gängen. Zweieinhalb Jahre lang hätten sie nur Onlineunterricht gehabt, erzählt Martinowa, während sie mit rotem Stift Häkchen und Striche hinter die Lösungen setzt. „Ich habe die Tage gezählt, bis wir uns endlich wieder richtig sehen konnten.“ Das war im vergangenen Herbst. „Auch die Kinder konnten es kaum erwarten, wieder in die Schule zu gehen.“
„Das Leben hat mich dazu gezwungen“
Martinowa ist 59 Jahre alt und die gute Seele der Schule. „Ich liebe alle meine Kinder, meine Arbeit und meine Kollegen“, sagt sie und strahlt. Seit 40 Jahren ist sie Lehrerin, die meiste Zeit davon freilich oberirdisch. Doch mit dem russischen Großangriff vor drei Jahren änderte sich für die Menschen in Charkiw alles. Die Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt wurde von der russischen Armee praktisch ununterbrochen bombardiert, die Soldaten rückten bis in die Vororte vor und beschossen das Zentrum mit Artillerie. Zwar gelang es den Ukrainern, die Invasoren wieder über die Landesgrenze zu drängen, doch bleibt die Lage für die Stadt kreuzgefährlich.

„Wir sind praktisch ständig unter feindlichem Beschuss“, sagt Ihor Terechow, Charkiws Bürgermeister. Auch er empfängt in einem Bunker, tief unter einem Verwaltungsgebäude im Zentrum, das wie nahezu alle Häuser der Stadt Sperrholzplatten statt Fenster hat. Nach drei Jahren Krieg ist in Charkiw kaum noch ein Haus unversehrt. Allein im vergangenen Jahr seien durch russische Angriffe 2600 Häuser in seiner Stadt zerstört oder beschädigt worden, sagt Terechow. 2024 habe es an 157 Tagen Luftalarm gegeben, und um den Jahreswechsel sei Charkiw 318-mal beschossen worden. Er kann inzwischen alle Angriffswaffen von Raketen über Bomben bis hin zu Drohnentypen aufzählen. „Das Leben hat mich dazu gezwungen.“
Über die Zahl der Toten möchte er, „mit Rücksicht auf die Menschen“, keine Angaben machen. „Aber ich kann Ihnen sagen: Es sind viele, sehr viele. Vor allem Kinder.“ Zu Beginn der Invasion seien vor allem Wohnhochhäuser beschossen worden. Eine Rakete schlug in das Wohnhaus von Borys Romantschenko ein, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hatte. Nun starb der 96 Jahre alte Mann in seiner Charkiwer Wohnung durch Putins Angriff. Der Fall sorgte für viel Aufsehen. Auch Krankenhäuser, Kitas, Schulen sowie Energie- und Heizkraftwerke seien bombardiert worden, sagt Terechow. Die Stadt versuche, vieles zu reparieren – Krankenhäuser etwa funktionierten wieder. „Aber wir können keine Schulen wie vor dem Krieg betreiben“, sagt er. „Jede Sekunde kann eine Drohne oder Rakete einschlagen. Das können wir nicht riskieren.“
Unterricht im Schichtsystem
Charkiw begann deshalb, Unterricht in U-Bahn-Stationen zu verlegen – sechs solcher Schulen gibt es inzwischen –, und auch, Schulen unter der Erde zu bauen. „Das finden Sie nirgendwo sonst auf der Welt“, sagt Terechow. „Das ist unser Know-how, das wir notgedrungen entwickelt haben.“ Ziel sei es, so viele Schüler wie möglich direkt unterrichten zu können. So wie in der 153. Schule, die in einem Wohnviertel zwischen Plattenbau-Hochhäusern liegt. Das eigentliche Schulhaus mit seiner rot-grauen Fassade ist frisch renoviert, doch der Schulhof liegt komplett verwaist.
Aus dem Eingang kommt Larissa Scholnowatsch, die Direktorin. Sie überquert eine Straße und läuft dann einen Weg quer durch eine Grünfläche zu einem garagenartigen Häuschen. Hinter der Tür geht es hinunter zu ihrem Arbeitsplatz. „Wir sind die zweite Schule, die unter der Erde eröffnet wurde.“ Sie betont den „internationalen Standard“ der Ausstattung und dass es Notstrom-Generatoren gebe, wegen der vielen Blackouts. Während eines längeren Stromausfalls haben sie hier sogar schon mal 3000 Menschen aus der Nachbarschaft mit einer warmen Mahlzeit und Handy-Ladeplätzen versorgen können. Die Schüler bekommen täglich kostenlos ein warmes Mittagessen, das mangels Mensa in Plastikboxen am Platz serviert wird.

„In den ersten Tagen nach Eröffnung haben sich die Schüler oft umarmt, sie konnten gar nicht genug voneinander kriegen“, erzählt Scholnowatsch. Die meisten Kinder hatten sich lange nicht gesehen, zeigten sich ihre Zahnlücken und redeten und redeten. Vor dem Angriff hatten zwei Jahre Pandemie gelegen, in denen auch das Onlinelernen überwog. „Also haben wir gesagt: ‚Kommt, Kinder, geht raus auf den Flur, bewegt euch und erzählt!‘, damit sie sich entspannen.“ Am schwersten sei es für die Kleinsten, die viel nachzuholen hätten, vor allem Grundlagen. „Viele können nicht richtig mit dem Füller schreiben, wir müssen ihnen die Hand führen.“
Um möglichst viele Schüler live unterrichten zu können, arbeitet die Schule im Schichtsystem. Montags, mittwochs und freitags lernen Kinder der 1. bis 4. Klasse vormittags. Nachmittags sind die Schüler der Klassen 9 bis 11 dran, die bald Abschlussprüfungen haben. Dienstags und donnerstags lernen diese wie die Grundschüler online, während die Schüler der 5. bis 8. Klasse in den Untergrund gehen. Auf diese Weise könnten hier gut tausend Schüler vor Bomben geschützt lernen, sagt die Direktorin. „Und samstags kommen noch Vor- und Musikschüler.“
„Wir sind eine Nation, ein Volk, eine Ukraine“
Für Ihor Terechow ist das ein kleiner Erfolg. Der 58 Jahre alte Politiker stammt aus Charkiw und übernahm das Bürgermeisteramt drei Monate vor dem russischen Angriff. Vor dem Krieg sei Charkiw „eine russischsprachige Stadt“ gewesen, erzählt er. Die Bande zum Nachbarland seien hier enger gewesen als in anderen Teilen der Ukraine. „Früher haben uns viele Russen besucht, und auch wir sind gerne nach Russland gefahren, das war Alltag.“ Sein Facebook-Profil führte Terechow nach Amtsübernahme auf Russisch weiter, wofür er, weil Ukrainisch Amtssprache ist, eine Strafe zahlen sollte. „Die Leute waren empört und haben mir angeboten, die Geldstrafe zu übernehmen.“ Am Ende habe er jedoch die Gerichtsverhandlung gewonnen.

Er selbst spricht heute Ukrainisch, legt aber Wert darauf, die Menschen nicht nach Sprache zu trennen. „Im Büro sprechen wir Ukrainisch.“ Und auch in der Stadt sei, als direkte Folge der russischen Angriffe, immer mehr Ukrainisch zu hören. „Aber niemand verbietet den Leuten, im Alltag, daheim, auf der Straße eine andere Sprache zu sprechen. Die Hauptsache ist: Wir sind eine Nation, ein Volk, eine Ukraine.“
Mit dem Überfall habe sich jedoch das Verhältnis der Einwohner zu Russland komplett verändert, sagt Terechow. „Wie würden Sie sich denn verhalten gegenüber Menschen, die Ihre Verwandten, Kinder töten und alles ruinieren, was Sie sich jahrelang aufgebaut haben?“ Die Russen hätten gedacht, sie würden in Charkiw mit Blumen und Umarmungen empfangen. „Aber sie kamen als Feinde, töteten unsere Nachbarn und beschossen uns. Sie wollen uns vernichten.“
Die Stadt geht neue Wege
Terechow versucht, das öffentliche Leben in der Stadt aufrechtzuerhalten und trotz der Angriffe so annehmbar wie möglich zu gestalten. Er lässt Schäden reparieren, Grünanlagen pflegen und neue Metrozüge sowie Elektrobusse anschaffen. Doch von den einst zwei Millionen Einwohnern hat rund die Hälfte seit dem Überfall die Stadt verlassen, ist in die Westukraine oder ins Ausland gezogen. Inklusive 200.000 Binnenflüchtlingen lebten heute noch 1,2 Millionen Menschen in Charkiw. Viele Betriebe suchen Arbeitskräfte. Die Stadt geht auch hier neue Wege.
An den Eingängen zur Metro hängen Stellenanzeigen mit dem Porträt von Anastasia Masurkowa. Sie ist 26 Jahre alt und die erste Frau, die in Charkiw Metrozüge steuern darf. Laut einem Gesetz aus der Sowjetzeit war es nur Männern erlaubt, als Lokführer zu arbeiten, doch mit Kriegsbeginn wurde das abgeschafft. „Ich habe einfach die Möglichkeit ergriffen“, sagt Masurkowa. Ein Jahr dauerte die Ausbildung, jetzt fährt sie im Drei-Schicht-System auf der blauen Linie. „Ich mag diese Arbeit sehr, wenn ich hier bin, fühle ich mich als Mensch.“ Nie habe sie daran gedacht, Charkiw zu verlassen, zudem ist Metrofahren ein in doppelter Hinsicht sicherer Job: Bomben muss sie hier nicht fürchten, und Fahrpersonal ist nicht nur durch Wegzüge, sondern auch wegen der Einberufungen knapp. Jetzt hofft sie, dass mehr Frauen ihrem Beispiel folgen.

In der 153. Schule steht Irina Lipieyko vor ihrer 3. Klasse. Die Wände sind grün gestrichen, rechts sind ein Fenster und eine Sonne aufgemalt. Für Frischluft sorgen Anlagen an der Decke. 20 Kinder sind in dem kleinen Raum und lernen Englisch. Die Fremdsprache wird in der Ukraine ab der ersten Klasse gelehrt, ab der fünften Klasse folgt Deutsch. Auf der digitalen Tafel erscheinen Bilder mit Gegenständen, die Kinder müssen die englischen Begriffe dazu nennen. Sie rufen „Sandwich“ und „Grapefruit“, dann geht es um Hobbys. „Do you play the piano?“, fragt Lipieyko. „No, I play guitar“, sagt ein Junge.
„Ich bleibe unter allen Umständen“
Lipieyko stammt aus der Nähe von Kupjansk ganz im Osten des Gebiets Charkiw an der Grenze zu Luhansk. Sofort nach dem Überfall floh sie mit Mann und Sohn nach Charkiw. Einen Monat lang hielten die Russen ihr Dorf besetzt. Ihr Haus sei zerstört, ihr Mann an der Front. „Ich versuche, nicht daran zu denken, wie es zu Hause ist.“ Viele Freunde seien ins Ausland gegangen, aber sie fühle sich in Charkiw wohl, die Stadt sei jetzt ihre Heimat. „Ich mag mein Land, ich will es nicht im Stich lassen“, sagt sie. „Ich bleibe unter allen Umständen, und ich bin wirklich dankbar für alles, was ich hier habe.“
Bürgermeister Terechow sagt, die Charkiwer seien ihrer Stadt sehr verbunden. „Wir Charkiwer halten zusammen“, „Charkiw – Heldenstadt“ und „Alles für den Sieg“ steht auf Werbetafeln im Zentrum. Er kenne viele, die zurückkehren wollten, und er will darauf vorbereitet sein. Die Stadt plant eine neue U-Bahn-Linie, sie dezentralisiert ihre Energieversorgung, und sie will das bei der Invasion stark zerstörte Wohngebiet Nord wiederaufbauen. „Wenn wir nicht an die Zukunft denken würden, wären wir verloren.“ Terechow lobt Deutschland für die Unterstützung seines Landes und die Partnerstadt Nürnberg für ihre Hilfe. „Sagen Sie den Deutschen großen Dank von uns und dass wir uns über deutsche Unternehmer und Investoren freuen!“
Bei den Schülern im Untergrund ist jetzt Schichtwechsel. Direktorin Scholnowatsch schaut, wie die Kinder nach und nach durch die Stahltür schlüpfen. „Ich glaube an das Gute und dass es über das Böse siegen wird.“ Sie habe kein Recht, hilflos zu sein, sagt sie mit Blick auf Schüler und Kollegen. Manchmal sei ihr zum Weinen zumute, aber das verdränge sie. Angst verspüre sie dagegen keine. „Wir sind Charkiwer, uns kann man nicht brechen. Wir werden uns unsere Unabhängigkeit zurückholen!“ Als die Kinder oben ankommen und nach fünf Stunden ans Tageslicht treten, scheint die Sonne. Sie rennen über den Hof auf einen Spielplatz. Dann heulen schon wieder die Sirenen.