„Wettrüsten mit Russland“: EU-Krisengipfel für mehr Schulden

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Friedrich Merz betrat am Donnerstagmorgen als erster europäischer Spitzenpolitiker das Brüsseler Ratsgebäude. Als Kanzlerkandidat wurde er vom Protokoll vorgestellt. Dagegen hatte der französische Präsident Emmanuel Macron den CDU-Parteichef am Vorabend in seiner Fernsehansprache schon den „künftigen Bundeskanzler“ genannt. Das ging schon recht weit, wenn man bedenkt, dass in Deutschland nicht einmal richtige Koalitionsverhandlungen begonnen haben.

Merz also erschien nun zum Frühstück mit António Costa, dem Ratspräsidenten. Als der Portugiese am Mittag den außerordentlichen Europäischen Rat zur Ukraine und zur Verteidigung eröffnete, saß dann Olaf Scholz am Tisch. Doch dokumentierte die sorgfältige Choreographie, dass Brüssel sehr wohl verstanden hat, wer von nun an in Berlin das Sagen hat.

Schon am Mittwochnachmittag war Merz in Brüssel angekommen. Erst traf er NATO-Generalsekretär Mark Rutte, dann Ursula von der Leyen, die Kommissionspräsidentin, und Kaja Kallas, die Außenbeauftragte. Nach dem Frühstück mit Costa besuchte er am Donnerstag das Treffen der EVP-Regierungschefs, die sich stets vor Gipfeln versammeln und inzwischen den Europäischen Rat dominieren. Bilder gab es von allen Gelegenheiten, öffentliche Äußerungen aber nicht. Merz hatte für sich entschieden, dass es besser sei, wenn nur einer für Deutschland spreche: der Amtsinhaber.

Von der Leyen rennt mit ihrem Plan offene Türen ein

Aufmerksamkeit war ihm auch so gewiss. Die ersten Entscheidungen von Union und SPD in Berlin waren niemandem in Europa entgangen, vor allem nicht Merz’ Ansage, was Deutschland für Verteidigung aufwenden werde: „what­ever it takes“. Mit einer Mischung aus Erstaunen und Anerkennung wurde das in Brüssel aufgenommen. „Die Deutschen haben für sich beträchtliche Entscheidungen getroffen“, sagte ein Diplomat. Von einem „gewaltigen Wandel“ sprach ein EU-Beamter. Man war gerade dabei sich an das neue Tempo der Politik auf der anderen Seite des Atlantiks zu gewöhnen, nun setzt die Beschleunigung auch auf der hiesigen Seite ein – das war ein weit verbreitetes Gefühl.

Dabei kamen zwei Dinge zusammen: die dreistelligen Milliardensummen, mit denen nun in Berlin jongliert wird, und das „Aufrüstungspaket“, das Ursula von der Leyen kurz vor dem Sonderrat präsentiert hatte. Rund 800 Milliarden Euro will sie damit in den kommenden vier Jahren mobilisieren. Am Mittwoch berieten die Staats- und Regierungschefs darüber. Schon die öffentlichen Äußerungen zeigten, dass von der Leyen damit offene Türen einrennt.

Viele Staaten stellen sich jetzt auf deutlich höhere Verteidigungsausgaben ein und benötigen dafür den Verschuldungsspielraum, den die Kommission mit einer vorübergehenden Ausnahme von den Defizitregeln schaffen will. Auch die Aussicht auf zinsgünstige Kredite, mit denen europäische Waffenprogramme gefördert werden sollen, wurde einhellig begrüßt.

Tusk: Europa muss „Wettrüsten“ mit Russland annehmen

Auffällig war eher, dass von der Leyens Vorschläge vielen Staaten noch nicht weit genug gehen. „Es ist nur ein Schritt, wir brauchen mehr Schritte, um voran zu kommen“, sagte etwa die lettische Ministerpräsidentin Evika Siliņa. Das konnte man als Anspielung auf Eurobonds verstehen: gemeinsame Schulden, um – wie in der Corona-Krise – nicht nur Kredite, sondern auch europäische Zuschüsse zu verteilen. Gerade die östlichen Staaten pochen darauf. Schließlich habe man, so sagen es Diplomaten, Südeuropa seinerzeit auch unter die Arme gegriffen.

Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk sprach von einem „ersten Schritt“, der zwar „bedeutsam“ sei, aber „nicht ausreicht“. Was er genau fordert, blieb im Vagen. Aber den Kampf, für den sich Europa nun wappnen müsse, beschrieb Tusk in umso drastischeren Worten. Europa müsse das „Wettrüsten“ mit Russland annehmen – „und es muss es gewinnen“, sagte er. So wie man im Kalten Krieg die Sowjetunion in die Knie gezwungen habe. Er werde deshalb auch die Stationierung „von europäischen und NATO-Truppen an der Grenze zu Russland und Belarus“ einfordern – „nicht heute, aber morgen“.

Tusk ging sogar auf Macrons Angebot eines strategischen Dialogs über die französischen Nuklearwaffen ein. „Natürlich ist es das wert, darüber nachzudenken“, sagte er. Es wäre „ganz gut, einen solchen Nuklearschirm zu haben“, pflichtete ihm Gitanas Nausėda bei, der litauische Präsident. Aus dem Mund von Regierungschefs, deren Länder bisher ihre Lebensversicherung in der NATO unter dem nuklearen Schirm der USA sahen, war das keine Kleinigkeit. Beide Politiker machten aus ihrer Enttäuschung über Washington keinen Hehl. Nausėda sprach von einem „neuen Status quo“ in Amerika, Tusk nannte die USA einen „schwierigen Partner“.

Scholz hält an der Teilhabe an US-Atomwaffen fest

Dass es Merz war, der diese Debatte mit seinem jüngsten Besuch im Elysée und seinen Äußerungen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung angestoßen hat, blieb den Partnern nicht verborgen. Viele sind froh darüber – nur Scholz ist es nicht. Auch wenn der Kanzler am Donnerstag sichtlich bemüht war, Einvernehmen mit Merz zu demonstrieren, bei diesem Thema reagierte er geradezu schnippisch. „Diese Gespräche gibt es immer“, behauptete er, nämlich mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich über deren Atomwaffen.

Dabei hatte Scholz ein früheres Angebot Macrons zu einem solchen Dialog ausgeschlagen. „Es bleibt aber trotzdem dabei, dass wir uns gemeinsam dem NATO-Konzept verpflichtet fühlen“, fuhr er fort. Die „nukleare Teilhabe“ an US-Atomwaffen solle nicht aufgegeben werden. Das sieht Merz auch so. Er will sich aber für den Fall wappnen, dass Amerika auch dies in Frage stellt.

Scholz gehörte auch zu jenen, denen die Vorschläge der Kommission noch nicht weit genug gingen. Natürlich nicht, weil er plötzlich Eurobonds befürworten würde – die Position Deutschlands dazu sei bekannt, sagte er, „und wird sich nicht sehr ändern“. Wohl aber, weil die geplanten massiven Steigerungen im deutschen Verteidigungshaushalt grundsätzliche Reformen erzwingen. Man dürfe die Diskussion nicht nur für die nächsten ein, zwei Jahre führen, so Scholz, also über Ausnahmen im Stabilitäts- und Wachstumspakt. Man müsse vielmehr „langfristig sicherstellen, dass die Staaten so viel für Verteidigung aufwenden können, wie sie selber und mit ihren Freunden und Bündnispartnern für richtig halten“. Er fügte hinzu: „Deshalb müssen wir auch langfristig zu Veränderungen des Regelwerks in Europa kommen – ganz entlang dessen, was wir gegenwärtig in Deutschland auch diskutieren.“

Orbán sieht unüberbrückbare Differenzen

Diese Forderung hatten die Botschafter der Mitgliedstaaten am Mittwochmorgen erstmals von ihrem deutschen Kollegen vernommen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt müsse so geändert werden, dass Verteidigungsausgaben grundsätzlich nicht mehr bei der Defizitkontrolle berücksichtigt würden, forderte der. „Uns ist allen der Mund offen stehen geblieben, als Deutschland das vorgestellt hat“, berichtete ein Diplomat anschließend. Ausgerechnet Deutschland, das Land, das seit Jahren auf die Einhaltung des Pakts pocht, will ihn nun aufweichen. Das sei „nicht ohne Ironie“, bemerkte ein EU-Beamter. Und ist doch Ausdruck einer neuen Realität, die nun auch manche Brüsseler Akteure schon „Zeitenwende 2.0“ nennen.

Scholz begrüßte den jüngsten Vorstoß des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der sich – wie zuvor Paris – für eine Waffenruhe zunächst auf See und im Luftraum ausgesprochen hatte. Man müsse nun mit „kühlem und klarem Kopf“ dafür sorgen, dass Amerika seine Unterstützung der Ukraine aufrechterhalte. Der Ukraine müsse man helfen, eine schlagkräftige Armee aufzubauen, die ihr Land selbst verteidigen könne.

Selenskyj: „Großartig, nicht allein zu sein“

Der übliche Gipfelstreit zur Ukraine rückte in Anbetracht der Wucht der zweiten Zeitenwende in den Hintergrund. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hatte vor dem Treffen deutlich gemacht, dass er hier unüberbrückbare Differenzen sehe. Budapest lehnte den Teil der Schlussfolgerungen, in denen die Staaten ihre Unterstützung der Ukraine darlegten, für „Frieden durch Stärke“ warben und Bedingungen für Verhandlungen mit Russland aufstellten, rundweg ab – auf einer Linie mit der neuen US-Regierung.

Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico sekundierte ihm rhetorisch, hielt sich allerdings Hintertüren offen. In den Verhandlungen drang Bratislava vor allem darauf, dass Kiew wieder den Transit russischen Erdgases ermöglicht, der zum Jahresende eingestellt worden war. Am Donnerstagmorgen beugten sich die EU-Botschafter ein letztes Mal über den Entwurf des Textes. Danach stand darin ein neuer Satz: „Der Europäische Rat ruft die Kommission, die Slowakei und die Ukraine auf, sich verstärkt um praktikable Lösungen für die Frage des Gastransits zu bemühen, auch durch dessen Wiederaufnahme.“ Diplomaten äußerten die Hoffnung, dass man den Ukraine-Teil so zumindest mit 26 Staaten würde beschließen können – ohne Ungarn, aber mit der Slowakei.

Bemerkenswert war diesmal, dass der eine oder andere Staat das angedrohte Veto Orbáns sogar als „Chance“ sah. Man müsse gar nicht erst auf Budapest eingehen und den Text verwässern, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Tatsächlich wurden die Passagen zur Ukraine an mehreren Stellen verschärft. So wurde die territoriale Integrität des Landes ausdrücklich erwähnt. Außerdem soll es auf dem Weg zum Beitritt noch stärker unterstützt werden.

Was aber weiter fehlte, war eine mit Zahlen unterlegte Verpflichtung zu weiterer Militärhilfe für Kiew. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hatte dafür geworben, im Gespräch waren Beträge zwischen sechs und zehn Milliarden Euro. Doch wollten sich Frankreich und Italien nicht darauf festlegen.

Der ukrainische Präsident bedankte sich trotzdem artig. „Es ist großartig, nicht allein zu sein“, sagte Wolodymyr Selenskyj, der extra für ein Mittagessen mit dem Europäischen Rat nach Brüssel gekommen war.