Bundeswehr hat Lücke von 100.000 Soldaten

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Herr General, Sie waren erst kürzlich in der Ukraine. Welche militärische Lage haben Sie dort vorgefunden?

Ich habe eine feste Entschlossenheit bei meinen ukrainischen Gesprächspartnern gespürt. Die neuen amerikanischen Positionen sind zur Kenntnis genommen, mit Veränderungen wurde auch dort gerechnet. Von Niedergeschlagenheit war da keine Spur. Mir gegenüber wurde klar formuliert: „Wir haben unverändert einen Aggressor im eigenen Land, wir müssen diesen Abwehrkampf weiter führen.“ Die Ukraine steht im Schulterschluss mit ihren Partnern. Die Lage ist an vielen Frontabschnitten ernst, bleibt aber nahezu statisch. Es gibt aber auch Dynamik, wie der ukrainische Vorstoß in der Region Kursk gezeigt hat. Das hat die Moral in Armee und Bevölkerung gehoben.

Bei der Diskussion im Weißen Haus hat die amerikanische Seite dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj vorgehalten, dieser habe große Personalprobleme, zu wenig Soldaten, um den Kampf führen zu können – wie sehen Sie das?

Das ist mir nicht so begegnet, im Gegenteil: Das neue Rekrutierungsgesetz scheint zu greifen und hilft beim Personalersatz, vor allem weil es die Rotation erleichtert und durch Maßnahmen, wie zum Beispiel dass Wehrdienstleistende, die ihren Dienst abgeleistet haben, wieder frei reisen können, was im Augenblick nicht der Fall ist. Mit diesen Maßnahmen kann man zumindest das Potential erhöhen. Aber die Ukrainer sind auch nicht blauäugig, sie wissen aber auch ganz genau, wofür sie kämpfen.

Und kann man auch etwas tun, falls Amerika seine militärischen Lieferungen ganz aussetzt?

Das ist jetzt eingetreten. Noch haben die Ukrainer vieles in ihren Lagern, müssen aber nun priorisieren. Mir ist deutlich geworden, dass bei der ukrainischen Eigenproduktion im Augenblick viel daran scheitert, dass einfach nicht genug Geld zur Verfügung steht. Da muss über eine Verstärkung nachgedacht werden, um die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit auch weiter zu unterstützen.

Sie kommen jetzt gerade aus London, wo die Briten und die Franzosen an einer „Koalition der Willigen“ für eine Friedens- oder Waffenstillstands-Truppe arbeiten. Was stellt man sich vor, was wir da leisten können?

Im Moment ist da noch sehr viel Staub in der Luft; es gelingt kaum, selbst politische Konturen für einen umfassenden Plan zu erkennen. Militärische Optionen können aber erst auf dieser Grundlage entwickelt werden – sonst geraten wir in den Bereich der Spekulation. „We cross that bridge, when we come to it“ war der Satz, den ich in den letzten Tagen wohl am häufigsten gehört habe.

Wäre es für die Bundeswehr überhaupt möglich, etwa 10.000 Soldaten für eine solche Aufgabe aufzubringen?

Die Sicherheit Europas und die Sicherheit der Ukraine sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir können nicht die ­Ukraine schützen und europäische Sicherheit außen vor lassen oder umgekehrt. Klar ist, wir haben unsere Streitkräfte nahezu komplett der NATO für die Aufgaben in der Bündnisverteidigung zur Verfügung gestellt. Das Gesamtbild muss beachtet werden und wird bestimmen, welche Möglichkeiten wir national und international haben.

Eine deutsche Truppe könnte sich ja nach heutigem Stand nicht gegen russische Drohnenangriffe wehren. Könnten Sie es überhaupt verantworten, deutsche Grenadiere in so eine Lage zu entsenden?

In vielerlei Hinsicht ist diese Frage spekulativ. Wir haben hier ein großes Defizit, holen gerade aber enorm auf. Ohne Frage ist da noch viel Luft nach oben. Offen ist, wie gesagt, über welche militärische Aufgabe und damit auch über welches Szenario wir sprechen. Wenn Sie allerdings fragen, ob wir uns in einem großmaßstäblichen Krieg auch gegen Drohnen ausreichend verteidigen könnten, würde ich Ihnen sagen, dass wir das derzeit nicht können. Und doch lernen wir auch von der Ukraine, wie dort Drohnen effektiv eingesetzt werden, und leiten daraus ab, was das für die Entwicklung und Beschaffung unserer Systeme bedeutet. Und wir setzen diese Erkenntnisse schon seit einiger Zeit um. Das gilt für den Kampf mit und die Abwehr von Drohnen.

Besteht aus Ihrer Sicht eine Wahrscheinlichkeit, dass Russland die gegenwärtige Schwäche und Führungslosigkeit Europas für weitere hybride Angriffe oder auch eine Attacke auf baltisches Gebiet nutzen könnte, etwa im russisch-estnischen Grenzgebiet?

Für Russland existiert unsere Trennung zwischen Frieden, Krise, Krieg, zwischen Spannungsfall und Verteidigungsfall nicht. Russland sieht Krieg als ein Kontinuum und befindet sich bereits jetzt in einer Auseinandersetzung mit dem Westen. Russland testet laufend, wie weit man gehen kann, wo wir verletzbar sind. Deswegen müssen wir resilienter werden: Staat, Streitkräfte, Gesellschaft. Wir müssen damit rechnen, dass Russland ab 2029 in der Lage ist, einen großmaßstäblichen Angriff gegen NATO-Territorium zu wagen. Ich sage das ausdrücklich im Konjunktiv, er wäre möglich, ich sage nicht, dass das auch geschehen wird. Um das zu verhindern, müssen wir abschrecken. Das gilt für uns in Deutschland, aber eben auch für das gesamte Bündnisgebiet.

Eine Frage zu alternativen Sichtweisen: Die angeblich so bedrohliche russische Militärmaschinerie kommt selbst gegen die doch deutlich schwächere Ukraine schwer voran. Russland wirkt nicht durchsetzungsfähig. Was würden Sie dem entgegenhalten?

Wir sehen mit den russischen Streitkräften in der Ukraine die kampferprobteste, größte Armee auf dem Kontinent, die weiter wächst und für die menschliche Verluste keine Rolle spielen. Ihr Gegenüber ist die Ukraine mit sehr erfahrenen Kräften, die seit 2014 bereits ununterbrochen in einem Krieg stehen und beeindruckende Erfolge errungen haben. Die Logik muss doch eine andere sein: Wir wollen abschrecken und damit einen Krieg vermeiden. Wir müssen genau so stark sein, dass es einem Gegner gar nicht erst in den Sinn kommt, uns anzugreifen.

Und reicht dafür, was nun von der Sondierungskoalition auf den Weg gebracht wird?

Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen haben geholfen, um das Schlagloch, das die Unterfinanzierung über Jahre in den Streitkräften und damit in unserer Verteidigungsfähigkeit hat entstehen lassen, ein wenig aufzufüllen. Aus der jetzt stattfindenden Überprüfung der NATO-Verteidigungspläne, aber auch der Veränderung der sicherheitspolitischen Lage in den vergangenen Wochen ergeben sich weitere Forderungen an uns. Daraus folgt dann, welche Fähigkeiten wir haben müssen. Die jetzt angestrebte Grundgesetzänderung schafft die finanziellen Voraussetzungen für die notwendigen Beschaffungen.

Ist die Wiedereinführung der Wehrpflicht unausweichlich?

Wir benötigen ein Aufwuchspotential, das uns befähigt, mit mindestens 460.000 Soldatinnen und Soldaten zu kämpfen. Das schaffen wir aus der derzeit stehenden Truppe und den Reservisten heute nicht. Dieses geht nur über eine aufwuchsfähige Reserve. Und dafür braucht man eine Form eines Wehrdienstmodells. Die Bundeswehr ist hierauf vorbereitet. Wir wollen 200.000 aktive Soldaten, haben eine stehende Reserve von 60.000 und eine allgemeine Reserve von rund 100.000 Soldatinnen und Soldaten, zusammen also etwa 360.000. Das ergibt eine Lücke von etwa 100.000. Wir müssen unsere Kapazitäten weiter aufbauen, um sie spätestens bis zum Wechsel des Jahrzehnts auszubilden.