Es ist teuer, in Deutschland eine Regierung zu bilden, sehr teuer sogar. Nach oben offene Kreditaufnahme füs Militär, eine halb Billion Euro für die Infrastruktur: Das ist fürs erste das Preisschild, das sich das geplante Bündnis von Union und SPD angeheftet hat. Natürlich hat das vor allem mit dem weltpolitischen Beben zu tun, das der neue US-Präsident ausgelöst hat. Aber dass bei den Ausgaben nun eines zum anderen kommt, das folgt noch mal einer anderen Logik – einer, die mit den inneren Verhältnissen des Landes zu tun hat.
Weil sich fast alle gesellschaftlichen Gruppen ungerecht behandelt fühlen, lösen Ausgaben für den einen Bereich Folgekosten für den jeweils anderen aus: Wenn auf einmal sehr viel Geld für Panzer vorhanden ist, dann sehen viele Leute eben nicht mehr ein, warum der Etat nicht auch für die Autobahnbrücke oder die Schule in der Nachbarschaft reichen sollte. Und wer weiß, welche Wünsche beim genauen Ausformulieren des Koaltionsvertrags noch hinzukommen. Die Neuen übernehmen das Argument, das der scheidende SPD-Kanzler Olaf Scholz schon vorbrachte: Wer die Akzeptanz für Aufrüstung und Ukrainehilfe erhalten will, darf das Geld nicht durch Kürzungen an anderer Stelle aufbringen.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Die Gründe dafür lassen sich auch am Ergebnis der Bundestagswahl ablesen. Auf den ersten Blick entschied sie sich zwar nicht an Verteilungsfragen. Das dominierende Thema schien für viele die Abrechnung mit der zerbrochenen Ampelkoalition zu sein. Und spätestens seit den Bundestagsabstimmungen zur Migration Ende Januar schien dieses Thema die Debatten zu beherrschen – entweder die Sache selbst oder mehr noch die Frage, ob man Bundestagsmehrheiten mithilfe der AfD anstreben solle.
Vor allem dadurch erklärte sich nach verbreiteter Ansicht der plötzliche Aufstieg der Linkspartei: Im Gegensatz zu den Grünen oder auch der SPD konnten sich die Wähler von ihr versprechen, dass sie den Tabubrecher Friedrich Merz ganz gewiss nicht zum Kanzler wählen würde.
Darunter lag immer noch die Frage, wie Deutschland seine wirtschaftliche Stagnation überwinden könne. Und ökonomische Krisenzeiten galten in der Vergangenheit nicht unbedingt als Zeiten, in denen man sich mit Verteilungsfragen lange aufhielt: In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit war es den Leuten am allerwichtigsten, einen Job zu behalten oder zu bekommen, der Rest galt als zweitrangig. Auch deshalb behauptete Gerhard Schröder im Wahlkampf 1998, es gebe keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern nur gute oder schlechte.
Empfundene Ungerechtigkeit in der Gesellschaft
Auf den zweiten Blick decken sich diese wahrgenommenen Wahrheiten allerdings nicht mit den Zahlen, die Demoskopen am Wahltag ermittelten. Immerhin 34 Prozent der Befragten nannten laut der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen „Soziale Gerechtigkeit“ als wichtiges Thema für ihre Wahlentscheidung, mehr als „Flucht/Asyl“ mit 29 Prozent. Weiter vorne platzierten sich nur die Themenbereiche „Frieden/Sicherheit“ und „Wirtschaft“. Gleich dahinter wurde mit „Rente“ abermals ein Verteilungsthema genannt.
Offenbar gibt es in der Gesellschaft so etwas wie eine empfundene Ungerechtigkeit, die Ansicht, dass gerade der eigenen Gruppe materiell und ideell nicht die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die ihr eigentlich zukommt. Das zeigte sich schon in den Bauernprotesten vor gut einem Jahr oder auch an den Streiks der Lokführer. Und die Echokammern der sozialen Medien haben das Phänomen noch verstärkt: Dass sich womöglich auch andere Berufsgruppen anstrengen und damit keine Reichtümer sammeln, lässt sich dort leichter ausblenden.
Zerfall in Partikularinteressen
Der stärkere Wahl-Fokus auf sozialer Gerechtigkeit hat vermutlich auch mit der immer noch recht günstigen Arbeitsmarktlage zu tun. Der alte Reflex, dass eine Wirtschaftsflaute erst einmal die Angst vor Arbeitslosigkeit weckt, schwächt sich dadurch ab. Zwar gehen in manchen Industriebranchen tatsächlich gut bezahlte Jobs verloren. Aber es gibt eben auch sehr viele Wirtschaftszweige, in denen aufgrund der demographischen Trends selbst bei gemächlicher Geschäftsentwicklung die Arbeitskräfte eher fehlen. Die Krise wird deshalb nicht so sehr als eine Krise empfunden, in der alle den Gürtel enger schnallen müssten, wie es in früheren Schwächephasen gerne hieß. Von solchen Aufrufen zur Enthaltsamkeit blieben die Wahlprogramme dann auch weitgehend frei.
Aber es geht um mehr, es geht um eine empfundene Gerechtigkeit nicht nur im engen, sozialen Sinn klassischer Verteilungsfragen. Es geht auch um eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, um die Frage, ob die eigenen Sorgen und Nöte von den Parteien überhaupt gesehen werden – oder von den anderen Gruppen in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft. Von einem „Zerfall in Partikularinteressen“ spricht die Wahlanalyse der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, von „wachsenden Distanzen zwischen den unterschiedlichen Wählerschaften“. Gleichzeitig sei die Anhängerschaft der einzelnen Parteien in sich homogener geworden.
Darin liegt, nebenbei bemerkt, gerade für die SPD ein Risiko und eine Chance zugleich: Trotz ihrer bescheidenen 16 Prozent decken die Sozialdemokraten immer noch ein sehr breites Wählerspektrum ab, in der Bewertung der Flüchtlingspolitik beispielsweise geht der Riss halbe-halbe durch ihre eigene Anhängerschaft hindurch. Das macht es schwer, alle Interessen zu befriedigen, vergrößert aber zugleich das Potential für künftige Wahlen.
Ringen um Aufmerksamkeit
Aber niemand sollte glauben, dass die vermeintlich kulturellen Streitfragen nichts mit Gerechtigkeit zu tun hätten, mit messbaren materiellen Ungleichgewichten oder auch mit einem Ringen um Aufmerksamkeit. Das zeigt sich auch im Streit um Flüchtlinge. Natürlich lehnt ein Teil der AfD-Wähler generell Einwanderung ab. Anderen hingegen geht es offenbar weniger um die Asylsuchenden selbst als um das Gefühl, dass sie als Steuer- und Beitragszahler allzu lange für deren Lebensunterhalt aufkommen müssen. Und auch um die Frage, ob die Geflüchteten bevorzugt mit Wohnungen oder Kitaplätzen versorgt werden.
Das zeigte sich zum Beispiel, als nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes im vorigen Dezember auch einzelne Unionspolitiker recht forsch forderten, alle Syrer wieder nach Hause zu schicken. Eine Erhebung des Berliner Forsa-Instituts ergab in jenen Tagen allerdings, dass 92 Prozent der Befragten ein Bleiberecht für regulär beschäftigte Syrer befürworteten, sogar 75 Prozent der AfD-Anhänger vertraten diese Ansicht. Daraufhin versicherten auch die eifrigsten Rückkehr-Befürworter eilig, diese Gruppe hätten sie selbstverständlich mit ihren Ausreisetipps nicht gemeint.
Dasselbe Phänomen lässt sich auch an der Debatte um das Bürgergeld im Allgemeinen beobachten, beispielsweise im vorvergangenen November, als sich die Grünen zum Parteitag in Karlsruhe trafen. Unter ihnen gibt es einige, die ein bedingungsloses Grundeinkommen befürworten, also die Arbeits- und Mitwirkungspflichten beim Bürgergeld gerne noch abschwächen möchten. In einem der Delegiertenhotels war allerdings auch eine Gruppe von Monteuren aus Ostdeutschland untergebracht. „Solange es das Bürgergeld gibt, wird sich in diesem Land nie etwas ändern“, schimpften sie lauthals. Die Botschaft dahinter: Wir schuften hier, fern der Familien, während andere für fast das gleiche Geld vermeintlich auf der faulen Haut liegen können.
Die Nöte der anderen
Neben dem Geld geht es aber auch um Wahrnehmung, um das Gefühl, dass Politik, Medien und eine akademische Öffentlichkeit die Nöte anderer stärker thematisieren als die eigenen, etwa die Schwierigkeiten der neu hinzugekommenen Flüchtlinge stärker wahrnehmen als die Nöte abgelegener Regionen in Ostdeutschland oder auch die Sorgen von Menschen mit Migrationshintergrund, die hier schon länger leben und etwa als frühere Gastarbeiter nicht das gleiche Ausmaß an öffentlicher Zuwendung erlebten.
Und tatsächlich kann es im Wettstreit um Aufmerksamkeit eine rationale Entscheidung sein, sich als Wähler in einer wenig wahrgenommenen Region für die AfD zu entscheiden. Vermutlich wird in den nächsten Tagen und Wochen wieder eine überproportionale Zahl an Reportern in die Gegenden ausschwärmen, in denen die Rechtspopulisten ihre höchsten Stimmenanteile erzielten, in den Wahlkreis Görlitz etwa, wo sie 46,7 Prozent der Zweitstimmen erhielten. Zu den Zeiten, als auch die Sachsen noch stärker für die Parteien der demokratischen Mitte votierten, war das Interesse vieler Westdeutscher an der Region weit weniger ausgeprägt.
Umgekehrt verhält es sich mit der Linkspartei. Sie wurde überproportional von jungen Frauen mit hohem Bildungsniveau in den Großstädten gewählt, einer Bevölkerungsgruppe, die nach allgemeinem Dafürhalten nicht zu den am stärksten benachteiligten im Land zählt. Und tatsächlich spielten hier gesellschaftspolitische Themen wie Migration oder die Abgrenzung von der AfD eine Rolle. Die Linke wurde im großstädtischen Milieu als eine Partei wahrgenommen, die nach dem Ausscheiden der Etatistin Sahra Wagenknecht im Gesellschaftlichen – anders als in der Wirtschaft – die liberalsten Positionen einnimmt. Anders als etwa im Frankreich Emmanuel Macrons oder im Polen Donald Tusks liegen in Deutschland liberale Gesellschaftspolitik und liberale Wirtschaftspolitik noch ziemlich weit auseinander.
Am Ende fühlt sich immer jemand zurückgesetzt
Aber es gab eine Mehrheit der Linken-Anhänger in den Nachwahlbefragungen eben auch an, ihnen sei soziale Gerechtigkeit wichtig. Und in den Großstädten bezieht sich das gerade für Jüngere vor allem auf die Wohnungsfrage. Angesichts der Mietsteigerungen herrscht in den begehrten Wohnvierteln kaum noch Fluktuation, ganz unabhängig vom Preis gibt es oft schlichtweg kaum noch Angebote. Oftmals bedeutet das, nicht bei den Eltern ausziehen oder nicht am Ort der ersten Wahl studieren zu können.
Dieses Thema immerhin hatten Kanzler Olaf Scholz und sein designierter Nachfolger Friedrich Merz in einer der Vorwahl-Debatten adressiert: Die Bebauung des Tempelhofer Felds in Berlin, trotz gegenteiligen Volksentscheids, soll es richten. Dagegen protestieren naturgemäß diejenigen, die in Berlin schon wohnen und eine weitere Verdichtung nicht schätzen: Auch sie fühlen sich ungerecht behandelt von den vielen anderen, die sich ebenfalls nach dem Großstadtleben sehnen – und, was Berlin betrifft, vor allem nach einer geräumigen Altbauwohnung in den Innenstadtbezirken.
Noch krasser zeigt sich die Konkurrenz der vermeintlich Benachteiligten bei einem Thema, das im Wahlkampf erstaunlicherweise kaum eine Rolle spielt, auf Kommunal- und Landesebenen allerdings oft schon Wahlen entschieden hat: der Verkehrspolitik. Denn vor dem überraschenden Aufstieg der Linkspartei hatte sich etwa in Berlin das Wahlverhalten fein säuberlich nach Innenstadt und Außenbezirken sortiert. Die Zentrumsbewohner, mit einem dichten Netz von U- und S-Bahnen ausgestattet, wollten das Auto zurückdrängen und wählten die Grünen.
Die Leute aus den Außenbezirken, wo es oft nur unzuverlässige Busverbindungen gibt, wollten auch weiterhin mit dem Auto in die Stadt fahren können und wählten CDU. Seither führte die Berliner Stadtpolitik aufgeregte Debatten darüber, ob man beispielsweise neue Fahrradwege verbieten sollte.
Für die weiteren Gespräche über eine künftige Koalition, die Union und SPD jetzt führen, sind das keine erfreulichen Aussichten. Was auch immer sie unternehmen, um das Gefühl erlittener Ungerechtigkeit in einzelnen Bevölkerungsgruppen zu beseitigen: Einiges spricht dafür, dass sich dann wiederum andere zurückgesetzt fühlen.