US-Angriff auf Tokio – “Türmten sich die Leichenstapel”

7

Wie schilderten Überlebende den Angriff und die Folgen?

Das “Dokumentationszentrum der Großen Luftangriffe und Kriegsschäden Tokios”, auf Japanisch “Tōkyō Daikūshū Sensai Shiryō Sentā”, zeigt in seiner Ausstellung zahlreiche Schriftzeugnisse, Memoiren und auch “Verarbeitungen”. So etwa in der Nachkriegszeit entstandene Gemälde von Zeitzeugen, welche das erlebte Leid und die Zerstörung drastisch visualisieren. Vor wenigen Wochen habe ich das Dokumentationszentrum besucht. Ich erinnere mich an die Berichte der damals Jugendlichen, die in dieser Nacht oder den Folgetagen zu Vollwaisen wurden. Teilweise mussten Kinder mitansehen, wie ihre Mütter und Geschwister unter Trümmern eingeklemmt, schwer verwundet, aber noch lebend verbrannten. Es hängen dort auch Gemälde, die vor dem Feuersturm Fliehende zeigen, in den Flüssen trieben Tote, im berühmten Ueno-Park türmten sich die Leichenstapel. Überlebende waren durch die Bombennacht und ihre Folge bis an ihr Lebensende traumatisiert.

Wie reagierten die Spitzen des japanischen Staates? Der US-Luftangriff hatte ja demonstriert, dass das Militär Japans die eigene Hauptstadt nicht mehr schützen konnte.

Kaiser Hirohito machte sich Stunden nach dem Inferno persönlich ein Lagebild, als er durch die Tokioter Trümmerlandschaft ging: Ganze Straßenzüge lagen in Trümmern oder waren niedergebrannt, es gab Zigtausende an Toten und Verwundeten. Ein paar japanische Kollegen vertreten heute die Ansicht, dass bereits die Bombardierung Tokios Hirohito dazu gebracht haben soll, über die Beendigung des Krieges und die Kapitulation nachzudenken.

Der Krieg sollte aber noch andauern, erst die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 bewirkten das Kriegsende im Pazifik.

Ja. Dazu kam die Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan und der Einmarsch der Roten Armee in den japanischen Marionettenstaat Mandschukuo.

Welche Rolle spielt der große Luftangriff auf Tokio heute in der Erinnerung Japans?

Ehrlicherweise muss man sagen, dass auch in Japan der “Tōkyō Daikūshū”, also der Große Luftangriff auf Tokio, im Vergleich zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki eine klar nachgeordnete Rolle spielt. Eine systematische Aufarbeitung des “Tōkyō Daikūshū” erfolgte erst Jahrzehnte später: Die erste nennenswerte Quellensammlung von Zeitzeugenberichten gab es in Japan erst Anfang der 1970er Jahre!

Allerdings existiert das Dokumentationszentrum, das Sie erwähnt haben?

Der Stadt Tokio ist es nicht gelungen, die Erinnerung an den Tokioter Luftangriff entsprechend zu institutionalisieren. Pläne, ein Tokioter Friedensmuseum zu eröffnen, wurden aus finanziellen Gründen kurz vor der Jahrtausendwende ad acta gelegt. Das oben genannte Dokumentationszentrum existiert zwar, ist aber vergleichsweise unbekannt, privater Natur und wird vor allem durch Spenden getragen. Zwar wird es von Schulklassen besucht, bei denen es sich aber mehrheitlich um solche aus der Großmetropole Tokio handelt. Hiroshima und Nagasaki werden hingegen von Schulklassen aus dem ganzen Land besucht. Im Gegensatz zum Luftangriff auf Tokio sind die Bilder von Hiroshima – erinnert sei an das Schlagen der Friedensglocke – alljährlich ein fester Bestandteil der internationalen Nachrichtenlandschaft.

Herr Melber, vielen Dank für das Gespräch.