Derzeit vergeht kaum ein Tag, ohne dass Washington eine weitere Moskauer Erzählung zur Ukraine echot. Präsident Donald Trump nennt seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj einen Diktator und macht mal die Ukraine selbst, mal die NATO für den Krieg verantwortlich.
Sein Außenminister Marco Rubio bezeichnet den Verteidigungskampf des Landes, dem zahlreiche andere Länder völkerrechtskonform helfen, als „Stellvertreterkrieg“ zwischen den Vereinigten Staaten und Russland.
Putins größter Coup
Die amerikanische Übernahme der russischen Rhetorik, nun auch noch mit der konkreten Folge der Aussetzung der Militärhilfe für Kiew, ist Präsident Wladimir Putins bisher größter Coup im Informationskrieg, der seinen realen Angriffskrieg flankiert. Darin geht es darum, den Gegner so zu beeinflussen, dass es den eigenen Zielen nutzt.
„Russlands Narrative sind erfolgreich, weil sie von Amtsträgern im Westen wiederholt werden, die auf ihrer Grundlage handeln“, sagt Anton Shekhovtsov, Fachmann für russische Einflussnahme im Westen vom in Wien ansässigen Centre for Democratic Integrity. „Sie sind bequem für Anti-Establishment-Kräfte wie Trumps MAGA-Bewegung, repetitiv und in bestimmten Kreisen einprägsam.“ Es gibt prominente Lautsprecher, „und auch wer sie aus reiner Ignoranz wiederholt, hat Plattformen, auf denen er bestätigt wird“.
Die „Einkreisung“ Russlands und das Narrativ der „Einflusssphäre“
Zu den russischen Erzählungen, die laut Shekhovtsov im Westen besonders verfangen, zählen die von angeblich bösartigen NATO-Erweiterungen und einer „Einkreisung“ Russlands. Auch im Westen gilt vielen als ausgemacht, dass die NATO Russland bedrohe, obwohl einst Putin selbst das Recht auf freie Bündniswahl hervorhob und eine Zusammenarbeit mit der Verteidigungsallianz auch noch Jahre nach seiner Wutrede von München 2007 anstrebte, während die NATO ihrerseits erst nach Russlands Annexion der Krim 2014 Verteidigungspläne für ihre östlichen Mitglieder erstellte.
Erfolgreich sind auch Putins Erzählungen, die Ukraine gehöre zur Einflusssphäre einer russischen Großmacht; der Westen wolle Russland „bis zum letzten Ukrainer bekämpfen“ (so Putins eigene Formel); sowie die Darstellung der ukrainischen Elite als korrupt und „nazistisch“. Aus alldem erwächst jetzt die bei Trump zu findende Täter-Opfer-Umkehr, in der Kiew und Selenskyj schuld am Blutvergießen sein sollen. In Deutschland verbreiten mit AfD, Linkspartei und BSW schon drei Parteien die Kreml-Botschaft, westliche Waffenlieferungen verlängerten das Leid der Ukrainer, unter den europäischen Regierungschefs der Ungar Viktor Orbán und der Slowake Robert Fico. „Die falsche Besorgnis kaschiert die genozidale Absicht der russischen Invasion“, sagt Shekhovtsov zu diesem Narrativ.
Teil der Anti-Establishment-Rhetorik von links und rechts
Populistische, links- und rechtsextreme Parteien erscheinen als Russlands natürliche Partner im Westen. Denn sie richten sich gegen den sogenannten Mainstream, wollen bestehende Kräfteverhältnisse und die hergebrachte Ordnung verändern. Die Ablehnung der Ukraine-Hilfen sei Teil ihrer allgemeinen Anti-Establishment-Rhetorik, sagt Shekhovtsov. Bei den Putin-Paraphrasen geht es demnach oft nicht wirklich um die Ukraine, sondern um den jeweiligen politischen Kampf.
Shekhovtsov wirbt für eine Differenzierung. Nicht alle der entsprechenden Kräfte übernähmen Putins Botschaften. Manche, wie die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, unterstützten die Ukraine, weil diese „für Souveränität kämpft, die Kernidee der extremen europäischen Rechten“. Shekhovtsov sieht das Hauptproblem weiterhin weniger an den politischen Rändern, sondern bei „Russlandfreunden“ aus dem politischen Mainstream wie dem früheren SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zum Rohstoffvertreter wurde, oder CDU-Kanzlerin Angela Merkel, die auch nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 die Zusammenarbeit mit Moskau bei den Nord-Stream-Gaspipelines ausweitete.
Shekhovtsov hebt hervor, dass Russland nicht nur eigene Narrative schafft, sondern auch solche verstärkt, die im Westen entstanden sind. „Für jede Einflussoperation ist es am besten, wenn am Ende ein Narrativ steht, das einheimisch ist und nicht direkt mit Russland verbunden ist.“ Rubios Wort vom „Stellvertreterkrieg“ in der Ukraine etwa liegt nicht allein auf Putins Linie, sondern entspricht einer traditionellen Kritik linker Militärgegner in den Vereinigten Staaten selbst, die schon von der Sowjetunion aufgegriffen wurde.
Russlands Feldzug gegen einen angeblich dekadenten und moralisch verkommenen Westen („Gayropa“) deckt sich mit der Kritik konservativer bis reaktionärer Europäer und auch Amerikaner an Entwicklungen in ihren eigenen Ländern. „Trump ist zweifellos beeinflusst von russischen Narrativen“, sagt Shekhovtsov. „Das ist nicht sehr schwer, er ist als Isolationist offen für sie. Russland sagt ihm: ‚Du hast deine Einflusssphäre in Amerika und musst nicht Demokratie in aller Welt fördern. Wir haben unsere Sphäre, in der wir machen können sollten, was wir wollen.‘“
Shekhovtsov sieht die Vereinigten Staaten nun einem Herrschaftsmodell folgen, in dem machtnahe Milliardäre die Kontrolle über soziale und traditionelle Medien ausweiten und „falsche Realitäten“ schaffen – und zwar, wie in Putins Russland, ganz offen, ohne es zu verstecken. Europa müsse, um dem Narrativexport zu widerstehen, endlich seine Informationssouveränität, die Hoheit über seinen Informationsraum erlangen und die amerikanisch-chinesischen Social-Media-Unternehmen effektiv kontrollieren. Auch KI-Chatbots, die sich unter anderem aus Moskaus Medien bedienen, geben die Desinformation weiter.