Frau Lackner, Herr Tiesler, in Schweden wurde schon 2014, nach der russischen Besetzung der Krim, damit begonnen, den Zivilschutz zu stärken. In Deutschland sprechen wir erst seit 2022 darüber. Sind wir viel zu spät dran?
Ist das Thema auch in der Gesellschaft angekommen?

Tiesler: Das ist ein komplexes Thema. Auch mitten im Kalten Krieg hatten wir nie genug Schutzräume für alle Menschen im Land. 2007 wurde beschlossen, alle Schutzräume aus der sogenannten Zivilschutzbindung zu entlassen. Das war damals gesellschaftlicher Konsens. Als der russische Angriffskrieg begann, haben wir sofort reagiert: Die verbliebenen 579 Schutzräume wurden wieder in die Zivilschutzbindung aufgenommen und geprüft. Sie müssen saniert werden.
Wie viele Schutzräume werden wir bis 2029 haben?
Tiesler: Bund und Länder arbeiten gemeinsam ein neues Schutzraumkonzept für Deutschland aus. Wir müssen uns auf heutige Bedrohungen einstellen, nicht auf Szenarien aus dem Kalten Krieg. Das bedeutet dezentrale Lösungen, schnell erreichbare Orte. Die Anzahl können wir noch nicht beziffern. Aber klar ist: So wie wir unsere militärische Verteidigung in den nächsten fünf Jahren erheblich stärken müssen, müssen wir auch den Zivilschutz erheblich stärken.
Wir werden in fünf Jahren also nicht genügend Schutzplätze haben.
Tiesler: Unser Fokus liegt darauf, Schutzräume in urbanen Räumen einzurichten, die schnell zugänglich sein müssen. Wir verfolgen deshalb zwei Ansätze. Wir identifizieren derzeit Tiefgaragen, Tunnel und andere öffentlich zugängliche Räume, die Schutz bieten können. Diese wollen wir nutzbar machen. Gleichzeitig appellieren wir an Bürgerinnen und Bürger, sich selbst zu schützen. Sie können mit einfachen Mitteln Kellerräume herrichten, die dann Schutz bieten. Wir haben in Deutschland zum Glück eine gute Bausubstanz. Das kann Menschen vor Trümmern und Druckwellen schützen.
Bauen ist in Deutschland teuer geworden. Ohne finanzielle Anreize oder gesetzliche Verpflichtungen werden doch die wenigsten Immobilienbesitzer ihre Keller zu Schutzräumen umbauen.
Tiesler: Uns geht es nicht darum, dass Keller für viel Geld umgebaut werden müssen. Es geht darum, in vorhandenen Kellern Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen Schutz finden. Die kann man recht leicht schaffen.
Tiesler: Eine Sache, die man direkt umsetzen kann, ist, den Kellerraum möglichst freizuräumen. Es ist wichtig, dass er schnell zugänglich ist und nicht vollgestellt ist. Am besten eignen sich fensterlose Kellerräume. Man kann die Fenster auch abdichten. Das hält schon viel ab.
Lackner: Wenn wir uns gut vorbereiten wollen, betrifft das nicht nur Schutzräume. Es geht auch um Digitalisierung. Hybride Angriffe laufen bereits. Es werden beispielsweise Desinformationen und Fake News verbreitet und wichtige Leitungen in der Ostsee gekappt.

In Fragen der Digitalisierung hinkt Deutschland hinterher. Ist das im Bereich des Zivilschutzes auch so?
Müssen die Deutschen achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges erst wieder lernen, resilient zu sein?
Brauchen wir Zivilschutzübungen von der Grundschule bis ins Altersheim?
Lackner: Selbstverständlich braucht es das. Bildung liegt in der Hand der jeweiligen Länder. Ich weiß, dass es solche Übungen in Baden-Württemberg gibt. Aus anderen Bundesländern ist mir das nicht bekannt. Aber das BBK hat bereits kindgerechte Materialien dazu veröffentlicht.
Tiesler: Das BBK war bereits in Gesprächen mit den Kultusministern, und wir sind es weiterhin mit vielen Partnern. Wir wollen möglichst viele Menschen erreichen. Dazu gehören auch und gerade Kinder. Wir schaffen es auch, mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Unsere Ratgeber werden gut angenommen. Das war vor zehn Jahren noch anders. Dass es im Juli den dritten Bevölkerungsschutztag von Bund und Ländern gibt, zeigt auch, wie wichtig das Thema geworden ist.
Sie haben ein sehr ausführliches und vielfältiges Angebot an Broschüren. Aber die Mehrheit der Bevölkerung bekommt davon wenig mit, wenn die Hefte bei Behörden neben zig anderen ausliegen. Auch die Internetseite des BBK dürfte aufgrund der Downloadzahlen nicht kurz vor dem Zusammenbruch stehen. In Schweden hat man eine sehr eindrückliche, knallgelbe Handreichung für den Zivilschutz in jeden Briefkasten geworfen. Warum macht man das in Deutschland nicht?
Tiesler: In digitalen Zeiten müssen wir anders kommunizieren als früher. Die Nutzerzahlen im Netz übersteigen unsere Bestellungen der Printexemplare. Wir arbeiten permanent daran, unsere Informationen so aufzubereiten, dass sie viele Menschen erreichen und praktische, handhabbare Informationen bieten, wie man sich und andere am besten schützen kann.

Ein knallgelbes Heft mit dem Bild einer Soldatin auf der Frontseite in meinem Briefkasten erreicht mich doch eher als eine Broschüre, die ich mir auf Ihrer Seite runterladen muss.
Lackner: Dann beschweren sich die Menschen, die auf ihren Briefkästen stehen haben: „Bitte keine Reklame“. Sie wollen das gar nicht. Es muss einen passenden Mix aus klassischem Papier und Digitalem geben.
Das ist doch keine Reklame.
Die Kinderschutzorganisation „Save the Children“ veröffentlichte 2014 einen Clip, der bis heute mehr als siebzig Millionen Aufrufe auf Youtube hat. Das Video zeigt, wie sich das Leben eines kleinen Mädchens aus Großbritannien ändert, als in ihrem Land ein Krieg ausbricht. Braucht es nicht eine offensivere Informationskampagne, um die Bevölkerung zu sensibilisieren?
Tiesler: Offensiv ja, aber so, dass es stärkt, statt Angst zu machen. Wir werden unsere Kampagnenfähigkeit in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Lackner: Das THW feiert dieses Jahr den 75. Geburtstag. Das ist ein Anlass, den wir nutzen werden, um auf den Zivilschutz aufmerksam zu machen. Mit unseren 668 Ortsverbänden gestalten wir ein Jahr ganz im Zeichen des THW.
Die Bundeswehr hat mit dem „Operationsplan Deutschland“ ein strategisches Konzept entwickelt. Welche Rolle spielt der Zivilschutz darin?
Tiesler: Der Zivilschutz ist Teil der Gesamtverteidigung. Wir unterstützen die Streitkräfte mit zivilen Mitteln. Wenn zum Beispiel Soldaten unserer Alliierten durch Deutschland transportiert werden, müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass sie sicher untergebracht werden, Treibstoff bekommen und sanitätsdienstlich versorgt werden. Bereits heute verteilen wir zusammen mit anderen Stellen ukrainische Soldaten auf deutsche Krankenhäuser, die in ihrer Heimat nicht behandelt werden können. Das würden wir auch in einem solchen Szenario übernehmen. Aber natürlich beschäftigen wir uns auch mit Fragen der zivilen Verteidigung abseits der Unterstützung des Militärs.
Es gibt Szenarien, in denen mit bis zu 1000 Verletzten pro Tag gerechnet wird, die von der Front nach Deutschland verlegt werden. Kann unser Gesundheitssystem das überhaupt verkraften?
Tiesler: Wir haben mit anderen Akteuren Alarmpläne für die Krankenhäuser erstellt. Deutschland hat die größte Krankenhausdichte Europas. Unser System wird nicht innerhalb weniger Wochen kollabieren. Aber wir müssen mit einem längeren Zeitraum rechnen, in dem das dann unter Druck funktionieren muss. Das große Problem ist das fehlende Personal. Es gehört auch zur Sensibilisierung, sich mögliche Defizite klarzumachen und zu dokumentieren, was wir für den Verteidigungsfall brauchen. Das passiert gerade.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Ihre beiden Vorgänger kritisieren, das Bundesinnenministerium habe zu wenig Geld in den Zivilschutz investiert.
Lackner: Das Budget des THW ist heute doppelt so hoch wie vor zehn Jahren. Ich finde diese Kritik daher zu eindimensional. Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Bekenntnis zum Zivilschutz. Und das kann ja nicht nur in einem Ressort liegen. Genauso wie Verteidigungsminister Boris Pistorius mehr Geld für die Bundeswehr verlangt, fordert auch Innenministerin Nancy Faeser mehr Mittel für den Zivilschutz. Und da müssen wir uns als Gesellschaft die Frage stellen, wie wir Investitionen verteilen.
Tiesler: Der Bund hat in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen, um den Schutz der Bevölkerung zu verbessern. Neben neuen Warnsystemen hat auch das BBK einen fast doppelt so hohen Haushalt wie Anfang der 2010er-Jahre. Und wir haben deutlich mehr Personal. Richtig ist aber auch, dass wir mehr Mittel brauchen, um den Zivilschutz weiter zu stärken.