„Die Wochenarbeitszeit ist eine gute Idee“

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Frau Gallner, wir haben die längste Wirtschaftskrise seit Gründung der Bundesrepublik. Die Aussichten auf Wachstum sind mager. Bereitet Ihnen das Sorge?

Die aktuelle Wirtschaftslage beunruhigt mich sehr, vor allem die Krise des indus­triellen Sektors. Gerade in der Automobilindustrie oder der Stahlwirtschaft sehe ich große Gefahren für beide Seiten, Belegschaften und Arbeitgeber.

Macht sich die Wirtschaftskrise an den Arbeitsgerichten bemerkbar?

Viele große Massenentlassungen sind im Bundesarbeitsgericht bislang nicht angekommen, soweit ich weiß. Manchmal höre ich, dass es einen Trend auf Arbeitgeberseite gibt, in großen Restrukturierungen möglichst ohne die Arbeitsgerichte auszukommen. Wenn das dazu dient, sozialverträgliche, interessengerechte und einvernehmliche Lösungen zu finden, begrüße ich diese außergerichtlichen Lösungen. Sollte damit allerdings unterschwellig Kritik verbunden sein, die Gerichte könnten die Streitfälle nicht gerecht auflösen, wäre das beunruhigend.

Wieso nehmen die Arbeitsgerichte nicht mehr Rücksicht, wenn sie Unternehmen in der Krise zusätzliche Lasten aufbürden?

Arbeitsgerichte versuchen immer, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen ihrer Entscheidungen abzuschätzen. Wir sind aber an Gesetz und Recht gebunden. Nehmen wir das Beispiel des Arbeitsschutzrechts, zu dem das Arbeitszeitrecht gehört. Hier gibt es nur geringe Spielräume. Dort, wo eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht, können wir davon nicht Abstand nehmen, weil die Konjunktur lahmt. Solange das „Wie“ der Zeiterfassung nicht gesetzlich geregelt ist, haben Arbeitgeber und Betriebsräte aber Wahlmöglichkeiten. Sie können etwa Apps oder eine elektronische feste „Stechuhr“ einsetzen. Auch Aufschreiben ist in manchen Fällen möglich, etwa in kleineren Einheiten.

Gerade bei der Arbeitszeiterfassung gilt Ihr Gericht als recht gestaltungsfreudig. Mehr richterliche Zurückhaltung aus Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage ist nicht möglich?

Arbeitszeitrecht ist auch Ordnungsrecht. Die europäischen Vorgaben, also die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden und die Ruhezeiten, elf Stunden am Tag und 24 Stunden in der Woche, sind sozusagen heilige Angelegenheiten des Arbeitszeitrechts. Immerhin haben wir mit der Pflicht zur Zeiterfassung ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland vermieden.

Finden Sie es richtig, dass Arbeitnehmer, die länger arbeiten wollen, daran vom EU-Gesetzgeber gehindert werden?

Es gibt gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse, dass die Begrenzungen der Arbeitszeit gut sind für den Marathon eines Berufslebens. So wird die Gesundheit der Beschäftigten geschützt. Auch die Arbeitgeber profitieren, weil sie gesunde Mitarbeiter brauchen. Außerdem sollen die Sozialversicherungssysteme nicht überlastet werden, zum Beispiel durch vorzeitigen Renteneintritt. Deshalb wiederhole ich mich penetrant: Arbeitszeitrecht schützt vor Selbst- und Fremdausbeutung.

Union und SPD haben in ihrem Sondierungspapier vereinbart, den Wechsel von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit zu ermöglichen. Wie sehen Sie das?

Ich halte einen solchen Übergang für eine gute Idee. Europarechtlich geht das innerhalb einer 48-Stunden-Woche mit mindestens einem freien siebten Tag. Ich bin positiv überrascht, dass der deutsche regelmäßige Achtstundentag nun in der Krise endlich angefasst wird. Das gibt Arbeitnehmern und Arbeitgebern mehr Gestaltungsfreiheit. Der bisherige Achtstundentag gilt nach dem Arbeitszeitgesetz übrigens auch jetzt schon für höchstens sechs Werktage, also mit dem Samstag, nicht nur für fünf Arbeitstage von Montag bis Freitag.

Sie haben Zweifel geäußert, ob eine kurze Unterbrechung der elfstündigen Ruhezeit zulässig ist. Was spricht dagegen, wenn Arbeitnehmer in Bürojobs nach Dienstschluss noch kurz eine Mail beantworten?

Ich habe Bedenken, weil uns die Wissenschaft sagt, dass diese elf Stunden wirklich ungestört sein sollen, auch wenn die Arbeitnehmer die Unterbrechung selbst nicht als Störung empfinden. Ich wäre sehr dafür, dass jemand den Europäischen Gerichtshof (EuGH) danach fragt. Muss die Ruhezeit ganz von vorn beginnen mit den gesamten elf Stunden, oder wird die Zeit vor der Unterbrechung angerechnet?

Gibt es auch beim Thema Arbeitszeiterfassung noch Klärungsbedarf?

Für verschiedene Personengruppen ist noch nicht entschieden, ob die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für sie gilt, etwa für Richter, Wissenschaftler oder Lehrer.

Könnte man bei der Vertrauensarbeitszeit eine Ausnahme von der Erfassung machen?

Ich denke nicht. Auch wenn Vertrauensarbeitszeit vereinbart ist, dürfen die Ruhezeiten nicht unter- und die Höchstarbeitszeiten nicht überschritten werden. Sollte der Gesetzgeber die Zeiterfassung doch noch regeln und dann entscheiden, Vertrauensarbeitszeit brauche nicht erfasst zu werden, würde die Rechtsprechung des EuGH nicht ausreichend berücksichtigt, meine ich.

Sind an den Arbeitsgerichten viele Klagen zur Arbeitszeiterfassung anhängig?

Meines Wissens sind es eher wenige Verfahren. Unsere Rechtsprechung wird in der Betriebspraxis anscheinend überwiegend akzeptiert. In einer Befragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin gaben 80 Prozent der Beschäftigten an, dass ihre Arbeitszeit betrieblich erfasst oder von ihnen selbst dokumentiert wird. Arbeitgeber und Arbeitnehmer scheinen also passgenaue Lösungen zu finden.

Ihr Gericht setzt auch Maßstäbe für die Tarifautonomie. Im Streit über die Bezahlung von Nachtarbeit hat das Bundesverfassungsgericht Ihrem Gericht vor Kurzem bescheinigt, die Gestaltungsrechte der Tarifparteien missachtet zu haben. Trifft Sie diese Niederlage ?

Ich empfinde den Senatsbeschluss aus Karlsruhe überhaupt nicht als Niederlage. Darin werden grundlegende Fragen des Arbeitsverfassungsrechts tief durchdrungen und aufgearbeitet. Wir haben nun endlich Klarheit darüber, wie die Tarifautonomie und der Gleichheitssatz des Grundgesetzes in Einklang zu bringen sind. Das ist ein großer Erkenntnisgewinn, den ich sehr begrüße.

Wirklich? Karlsruhe hat ja kritisiert, Ihr Gericht habe für Nachtarbeiter, die geringere Zuschläge bekamen, zu Unrecht eine Anpassung nach oben vorgenommen. Sie waren damals Vorsitzende des Senats, dessen Urteile nun aufgehoben wurden.

Aber an diesem Fall wird besonders deutlich, dass unser System funktioniert. Das Verhältnis von Gleichheit der einzelnen Arbeitnehmer und Freiheit der Tarifpartner ist ein jahrzehntealtes Problem. Das Bundesarbeitsgericht ist ein Fachgericht. Nun haben wir aus Karlsruhe die dringend gebrauchte verfassungsrechtliche Klärung bekommen, wie mit dem Verhältnis von Tarifautonomie und Gleichheitssatz in Fällen umzugehen ist, in denen ausschließlich deutsches Recht gilt. Bemerkenswert finde ich, dass die Tarifvertragsparteien nach dem Karlsruher Beschluss unmittelbar an das Gleichheitsgrundrecht des Grundgesetzes gebunden sind. Wir Arbeitsgerichte müssen uns in diesen Fällen bei der Kontrolle von Tarifverträgen zurückhalten. Ist eine Ungleichbehandlung ausnahmsweise willkürlich, müssen zunächst die Tarifvertragsparteien die Möglichkeit zur Korrektur bekommen, bevor die Gerichte korrigieren. Mit diesen Klarstellungen kann ich gut leben.

Und wie geht es nun in den Nachtschichtfällen weiter?

Dass die Nachtarbeitnehmer im konkreten Fall unterschiedliche Zuschläge bekamen, war aus Karlsruher Sicht nicht zu beanstanden. Sollte es ausnahmsweise rein deutsche Tariffälle geben, in denen eine willkürliche Ungleichbehandlung anzunehmen ist, wird die Rechtsfolge eine große verfahrensrechtliche Herausforderung für uns Arbeitsgerichte. Was ist zu tun? Wie können und müssen Verfahren ausgesetzt werden, damit die Tarifparteien Gleichheitsverstöße beheben können? Können dafür Fristen gesetzt werden?

In Streitfällen über tarifliche Zuschläge für Teilzeitarbeiterinnen hatte Ihr Gericht aus Gründen der Gleichbehandlung mit Vollzeitbeschäftigten ebenfalls eine Anpassung nach oben vorgenommen. Sind diese Fälle nun mit Rücksicht auf die Stärkung der Tarifautonomie durch Karlsruhe neu zu bewerten?

Wir müssen sorgfältig verschiedene Rechtssphären unterscheiden. Für die Nachtschichtfälle gilt ausschließlich deutsches Recht und damit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. EU-Recht ist hier nicht anwendbar, hat der EuGH entschieden. Ob unterschiedliche tarifliche Überstundenzuschläge für Voll- und Teilzeitkräfte zulässig sind, beurteilt sich dagegen nach EU-Recht, das bei der Auslegung des deutschen Rechts zu berücksichtigen ist. Hier kommt es auf die Rechtsprechung des EuGH an.

Was sagt der Gerichtshof?

Der EuGH hat bislang nicht angenommen, dass zunächst die Tarifparteien Gelegenheit haben müssten, Diskriminierungen zu beseitigen, bevor die Gerichte korrigieren. In Fällen, in denen es um Verstöße gegen europäische Diskriminierungsverbote ging, hat er entschieden, der benachteiligten Gruppe seien dieselben Vorteile zu gewähren wie der tariflich bevorzugten Gruppe.

Aber wer weiß, ob der EuGH seine Rechtsprechung zur Diskriminierung nicht überdenkt, nachdem Karlsruhe die Tarifautonomie stark gemacht hat?

Wir werden abzuwarten haben, ob das Gericht eines EU-Mitgliedstaats dem EuGH noch einmal die Frage der Anpassung nach oben bei diskriminierenden Tarifverträgen vorlegt. Formalrechtlich gibt es keine Kollision. In den Nachtschichtfällen sind wir ausschließlich im nationalen Verfassungsrecht, bei den Teilzeitkräften im europäisch überformten nationalen Recht. Die europarechtlich überlagerten Fälle sind im Arbeitsrecht relativ häufig. Das Kapitel diskriminierender Tarifnormen ist vielleicht noch nicht abgeschlossen. Es könnte sein, dass wir bei der Rechtsfolge der Anpassung nach oben mit zwei unterschiedlichen Rechtsprechungslinien leben müssen: in rein deutschen Fällen einerseits und in europarechtlich überformten Fällen andererseits. Das ist kein Beinbruch, denn Arbeiten im europäischen Gerichtsverbund heißt, Macht zu teilen.

Noch eine Frage zu Ihrem Amtsverständnis: Sie sind über die üblichen Pflichttermine hinaus sehr viel unterwegs. Was treibt Sie an?

Im Arbeitsrecht ist es mir wichtig zu hören, ob die Praxis mit unserer Rechtsprechung klarkommt oder ob wir den Bedürfnissen der Praxis nicht gerecht werden.

Würden Sie aufgrund dieser Erfahrungen bestimmte Fälle heute anders entscheiden?

Ja, einen solchen Fall gab es. Ich möchte ihn aber nicht nennen, weil ich nicht mehr für das Rechtsgebiet zuständig bin.

Sie äußern auch deutlich Ihre Sorgen über das Erstarken des Rechtsextremismus. Wo ziehen Sie für sich die Grenze, damit das Vertrauen in Ihre richterliche Unabhängigkeit in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung keinen Schaden nimmt?

Seit erkennbar ist, dass wir die liberale Demokratie verteidigen müssen, habe ich mich entschieden, mich dafür öffentlich einzusetzen. Dem steht das Mäßigungsgebot in meinen Augen nicht entgegen. Einen Konflikt mit der richterlichen Unabhängigkeit sehe ich nicht. Als Bürgerin betrachte ich es vielmehr als meine Aufgabe, für Demokratie und Rechtsstaat einzustehen.