Wer entwirft den Fahrplan für Deutschlands Zukunft?

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16 mal 16 macht 256. So groß ist der Kreis von Politikern der CDU, der SPD und der CSU, die von Donnerstagabend an über die Grundlagen eines Koalitionsvertrages sprechen wollen. Nach zehn Tagen, am übernächsten Wochenende, sollen die 16 Arbeitsgruppen mit je 16 Mitgliedern fertig sein und das Ergebnis ihrer inhaltlichen Überlegungen der Runde von insgesamt 19 führenden Politikern der drei Parteien übergeben. Dann soll alles zu einem Koalitionsvertrag zusammengefügt werden.

Ob dieser, wie mancher es wünscht und fordert, deutlich kürzer als seine Vorgänger wird, bleibt abzuwarten. Die Ampel hatte 140 Seiten zu Papier gebracht, von denen ein Teil schnell gegenstandslos wurde, als Putin die Ukraine überfiel und die Lage in der Welt und in Deutschland sich dramatisch änderte. Eine Rolle wird spielen, wie die künftige Koalition zusammenarbeitet, welche Regeln sie sich dafür gibt – gerade nach den Erfahrungen der Ampel.

Dafür gibt es eine spezielle Arbeitsgruppe, sie ist kleiner als die anderen. Auf Unionsseite verhandeln darüber CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei (CDU) und der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Alexander Dobrindt. Für die SPD machen das Generalsekretär Matthias Miersch und der Ostbeauftragte Carsten Schneider. Wer sind die 256 plus fünf Frauen und Männer, die jetzt den politischen Fahrplan für die Zukunft Deutschlands entwerfen? Wo könnte die Reise hingehen? Wir beschreiben es am Beispiel von sechs der 16 Arbeitsgruppen.

Innen, Recht, Migration und Integration

Die Arbeitsgruppe zur Innenpolitik tüftelt an einem Kernthema der künftigen Koalition. Insofern dürfte es hilfreich sein, dass sich einige Mitglieder schon ganz gut kennen. Die CDU-Leitung hat Günter Krings inne, ein Innen- und Rechtspolitiker mit großem Einfluss. Er leitet außerdem die NRW-Landesgruppe seiner Fraktion im Bundestag – genau wie Dirk Wiese, der auf SPD-Seite die Leitung übernommen hat. Wiese ist außerdem einer der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises. Sein Stil ist pragmatisch und lösungsorientiert. In diesem Geiste will die SPD die Innen- und vor allem Migrationspolitik also offensichtlich angehen.

Günter Krings
Günter Kringsdpa

Zu dieser Stoßrichtung passen auch die Mitglieder Andy Grote (Hamburger Innensenator) und Johannes Fechner, der im Nachhinein die Einschätzung äußerte, die SPD wäre besser gefahren mit Boris Pistorius als Kanzlerkandidat. Zum inneren Ausgleich sind auch einige linke SPD-Politiker dabei, etwa Ralf Stegner und Carmen Wegge. Das Ergebnis der Arbeitsgruppe muss schließlich allen SPD-Mitgliedern verkauft werden.

Andrea Lindholz
Andrea Lindholzdpa

Für die CSU verhandelt federführend Andrea Lindholz, die schon Vorsitzende des Innenausschusses war. Genau wie Krings und Wiese gilt sie als ministrabel. Ergänzt wird das Unionsteam durch Personen, die für einen strengeren Migrationskurs stehen: Joachim Herrmann, Roman Poseck und Armin Schuster, die Innenminister aus Bayern, Hessen und Sachsen. Sie bringen die Länderperspektive ein. Sie wissen gut, wie belastet die Kommunen durch den Zuzug sind. Aber auch, was in Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn bei der Begrenzung machbar ist. Denn in diesen europäischen Abstimmungen hatten Union und SPD ja ihren Kompromiss gefunden, wie Zurückweisungen von Asylsuchenden doch möglich sein sollen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser darf gar nicht bei der Innenpolitik mitverhandeln.

Wirtschaft, Industrie und Tourismus

Im Plan der Arbeitsgruppen steht diejenige für Wirtschafts- und Industriepolitik auf dem zweiten Platz hinter der Innenpolitik. Dass es wirtschaftlich schlecht um Deutschland steht, ist Konsens bei den künftigen Koalitionspartnern. Im christdemokratischen Teil der Delegation kommt das Gewicht des Themas darin zum Ausdruck, dass zwei ehemalige Bundesminister mit von der Partie sind. Jens Spahn, einst Gesundheitsminister, und Julia Klöckner, frühere Landwirtschaftsministerin. Spahn ist als stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion mit Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik gebeten worden, den Vorsitz der Arbeitsgruppe zu übernehmen. Da er auch in der Führungsrunde sitzt, die später aus den Bausteinen einen Koalitionsvertrag machen soll, sitzt er an einer wichtigen Stelle des Gefüges zur Anbahnung des Regierungsbündnisses.

Klöckner, die Mitglied der Gruppe, aber nicht Chefin ist, verschickte eine Pressemitteilung mit ihren wirtschaftspolitischen Zielen, kaum dass die Namen der Arbeitsgruppenmitglieder veröffentlicht worden waren. Sie forderte unter anderem die „deutliche Stärkung des Mittelstands und der Industrie“ und die Senkung der „viel zu hohen Unternehmenssteuern“. Die SPD schickt ebenfalls politische Schwergewichte. Ihre Delegation wird von Alexander Schweitzer, dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten geleitet, seine Stellvertreterin ist die Unternehmerin und stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Verena Hubertz.

Alexander Schweitzer
Alexander Schweitzerdpa

Dabei ist auch die einstige Bundesfamilienministerin und frühere Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey. Die CSU schickt unter anderem die bayerische Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber. Dass die künftigen Koalitionäre sich ein riesiges Finanzpolster mit Milliardenschulden besorgen wollen, könnte Streitigkeiten etwa in der Steuerpolitik entschärfen. Im Sondierungspapier hat man sich in einer anderen wichtigen Frage auch schon geeinigt. Es soll preiswerteren Industriestrom geben.

Arbeit und Soziales

Eine besonders spannende Arbeitsgruppe dürfte diejenige für die Themen Arbeit und Soziales werden. Das gilt inhaltlich wie personell. An der Spitze der christdemokratischen Delegation steht CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, ein überzeugter Wirtschaftspolitiker und früherer Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion. Der sozialdemokratische Teil der Arbeitsgruppe wird von Katja Mast geleitet, der Parlamentarischen Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion. Sie gehört zwar nicht zur Parlamentarischen Linken, schaut aber durch die soziale Brille.

Katja Mast
Katja Mastdpa

Wenn es gut geht, können die beiden die Gräben in der Arbeitsmarktpolitik zwischen Union und SPD überbrücken. Leicht wird das nicht. Zu den wichtigen Versprechen der CDU im Wahlkampf gehörte der Kampf gegen das Bürgergeld, die einstigen Hartz-Leistungen. Dieses solle unter einem Kanzler Merz abgeschafft werden, sagten die CDU-Wahlkämpfer immer wieder.

In dem Wissen, dass man diese Sozialleistung nicht einfach ersatzlos streichen kann, ohne umgehend vor dem Bundesverfassungsgericht zu landen, wurde zu dem Abschaffungsversprechen der Satz „in dieser Form“ hinzugefügt. Ein Vorschlag ist es, das Bürgergeld künftig „neue Grundsicherung“ zu nennen. Im Sondierungspapier der angehenden Koalitionäre heißt es, man wolle zum Vermittlungsvorrang zurückkehren. Die Regelung gab es im bei vielen Genossen verhassten Hartz-System. Sie besagt, dass ein Arbeitssuchender eine Beschäftigung annehmen muss, die ihm angeboten wird. Außerdem hat die Union immer wieder schärfere Sanktionen gegen diejenigen gefordert, die ein Angebot ablehnen.

Außen und Verteidigung

Im Wahlkampf hatte Friedrich Merz deutlich gemacht, wie er sich die Außenpolitik als Kanzler vorstellt und nun ist es an seinem Parteifreund Johann Wadephul, davon möglichst viel in der Arbeitsgruppe „Außen und Verteidigung, Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte“ durchzusetzen. Er ist Vorsitzender auf Unionsseite. Das Vorhaben dürfte allerdings schon bei dem Punkt, die Entwicklungszusammenarbeit viel mehr einzubinden in die Ziele einer interessengeleiteten Außenpolitik, schwierig werden. Denn auf SPD-Seite leitet die Arbeitsgruppe ausgerechnet Svenja Schulze, die Entwicklungshilfeministerin. Dabei ist der Umgang mit der Entwicklungshilfe nur eines von vielen anspruchsvollen Themen, die in der Arbeitsgruppe in kürzester Zeit geklärt werden müssen. Das beginnt mit der Frage, welche Sätze man zum transatlantischen Verhältnis und der Zukunft der NATO findet, wo Merz nach der Wahl eine erstaunliche Distanz zu Washington hatte erkennen lassen.

Es geht weiter mit dem Verhältnis zu Israel, wenn man sich am Ende nicht nur auf die zwei Standardformeln zurückziehen will: Die Sicherheit als Staatsräson und das Ziel der Zweistaatenlösung. Mit seiner Zusage, dass der israelische Ministerpräsident trotz Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs nach Deutschland kommen solle, hat Merz allerdings noch ein weitaus größeres Feld eröffnet: wie unverbrüchlich ist die Unterstützung Israels, auch mit Blick auf Waffenlieferungen? Wie fest steht Deutschland zum verbindlichen Völkerrecht?

Johann Wadephul
Johann Wadephuldpa

Merz hatte auch noch versprochen, einen Nationalen Sicherheitsrat im Kanzleramt einzurichten, für den zwar viele Formen denkbar sind, aber alle ernsthaften auch Folgen vor allem für den Einfluss des Auswärtigen Amtes haben dürften. Bei den Passagen zur Unterstützung der Ukraine dürfte man sich immerhin schnell einig werden – konkrete Fragen zu Lieferungen oder eigenen Beiträgen zur künftigen Sicherheit muss man noch nicht in so einem Papier klären. Schulze stehen unter anderem der Außenpolitiker Nils Schmidt und die Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium Siemtje Möller zur Seite, Wadephul wird unterstützt von Außen- und Verteidigungspolitikern wie Jürgen Hardt, Norbert Röttgen und Henning Otto. Auffällig ist: Roderich Kiesewetter gehört der Gruppe nicht an.

Haushalt, Finanzen und Steuern

Gibt es für die Haushalts-Arbeitsgruppe eigentlich noch etwas zu tun? Schließlich haben Union und SPD versucht, den großen Brocken, der eigentlich auf den Schreibtischen der Haushaltspolitiker liegt, schon ganz zu Anfang der Verhandlungen wegzurollen. Für den finanzpolitischen Sprecher der Union und Verhandlungsführer, den CDU-Politiker Mathias Middelberg, gibt es trotzdem noch einiges zu tun. Denn selbst wenn mit den Grünen noch eine Einigung in Sachen Verteidigungsausgaben und Infrastruktur-Sondervermögen gelingen sollte, müssen im Haushalt Posten identifiziert werden, bei denen gespart werden kann. Denn vor allem den Unionsanhängern dürfte der Einsparwille von Schwarz-Rot wichtig sein.

Ein weiteres Thema ist die Schuldenbremse. Die SPD hat in das Sondierungspapier reinverhandelt, dass bis zum Ende des Jahres die Gesetzgebung zu einer Reform abgeschlossen sein soll. Dieser Punkt dürfte Dennis Rohde, der auf sozialdemokratischer Seite die Gruppe leitet, besonders wichtig sein. Für die Union ist das nicht nur inhaltlich eine Herausforderung; Middelberg ist ein Anhänger der Schuldenbremse. Für eine Reform der Kreditgrenze im neuen Bundestag braucht es die Linke – eine Zusammenarbeit mit dieser Partei schließt die Union in einem Unvereinbarkeitsbeschluss allerdings aus. Es geht beim Geld also wie immer auch ums große Ganze.

Deswegen sind auch einige Ländervertreter in der Arbeitsgruppe vertreten. Der CDU-Mann Christian Haase ist Vorsitzender der Kommunalpolitischen Vereinigung der Union, Alexander Lorz, auch CDU, ist hessischer Finanzminister. Auf SPD-Seite fällt noch der Name Jakob von Weizsäcker auf, er ist Finanzminister des Saarlandes. Aus seinem Umfeld kam das Ökonomen-Papier, das die Sondierer mindestens als Diskussionsgrundlage für ihre Schuldenpläne herangezogen hatten. Der amtierende Finanzminister Jörg Kukies gehört nicht zur Arbeitsgruppe.

Klima und Energie

Aus der Aufstellung der Gruppen lassen sich Schlüsse ziehen auf Hierarchie und Aussichten, mindestens als Parlamentarischer Staatssekretär, wenn nicht gar als Minister ins Kabinett zu ziehen. Da führen die Zusammensetzungen der Gruppen manchmal zu erstaunlichen Konstellationen, wenn zum Beispiel bei der Gruppe Gesundheit und Pflege der zuständige Minister Karl Lauterbach es auf SPD-Seite nicht zum Gruppenleiter geschafft hat.

Oder es gibt einen weiteren Hinweis darauf, dass bestimmte Politiker wirklich kurz vor einem großen Schritt nach oben stehen könnten: wie auf CDU-Seite die Leitung der Bildungs-Arbeitsgruppe durch Karin Prien oder jene der Arbeitsgruppe Klima und Energie durch Andreas Jung. Der ist wie Prien einer der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden und damit ohnehin im Kreis der Minister- und Staatssekretärs-Kandidaten gesetzt. Auf SPD-Seite stehen ihm Olaf Lies und Nina Scheer gegenüber. Die Arbeitsgruppe dürfte ganz genau verfolgen, ob und wie Union, SPD und Grünen sich noch auf das Sondervermögen Infrastruktur einigen – schließlich gehören zu den Forderungen der Grünen, in ein solches explizit Investitionen für den Klimaschutz festzuschreiben.

Abgesehen davon steht zu den Themen der Arbeitsgruppe schon viel in der schwarz-roten Sondierungsvereinbarung: vom Bekenntnis zu den Klimazielen, Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid in der Industrie über den Ausbau der Gaskraftwerkkapazität um bis zu 20 Gigawatt und vor allem der schnellen Entlastung beim Energiepreis um mindestens fünf Cent pro Kilowattstunde. Die Stromsteuer soll dafür auf das europäische Mindestmaß sinken und die Übertragungsnetzgelte sollen ebenfalls gesenkt werden.