Benjamin Netanjahus Krieg an 14 Fronten

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Seit dem Terrorangriff der Hamas vor anderthalb Jahren ist es in Israel nahezu sprichwörtlich geworden, dass das Land sieben Kriege gleichzeitig führe. Kurz vor dem Jahrestag sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Anfang Oktober in der Knesset: „Israel verteidigt sich an sieben Fronten gegen die Feinde der Zivilisation.“ Er zählt die Gegner oft auf: die Hamas im Gazastreifen, die Hizbullah in Libanon, die Huthi-Miliz im Jemen, Milizen in Syrien und im Irak, Terrorgruppen im Westjordanland – und schließlich das Regime in Iran. Dabei strahlt er stets große Zuversicht aus, dass Israel siegreich sein werde.

Sieht man genauer hin, gibt es indessen weitere Fronten – äußere, aber auch innere. Denn so selbstbewusst und erfolgreich Netanjahu ist, so sehr polarisiert er auch. Nach Jahrzehnten an der Macht hat der 75 Jahre alte Politiker sich große Teile der Bevölkerung zum Gegner gemacht und ist innerhalb Israels in zahlreiche Konflikte verwickelt.

Mindestens sechs große innenpolitische Schlachten schlagen Netanjahu und seine Regierung derzeit: gegen die Geiselfamilien, gegen die Sicherheitsbehörden – und gleich in mehreren Fällen gegen die Justiz. Hinzu kommt eine weitere außenpolitische Schlacht: gegen die internationale Gerichtsbarkeit. Zusammen ergeben sie einen 14-Fronten-Krieg. Dabei gibt es Überschneidungen und Wechselwirkungen – und Anzeichen dafür, dass manche Vorgehensweisen übernommen werden.

Scharfe Warnungen vor den „Dschihadisten in Anzügen“

Denn in seinen externen Kriegen hat Israel große Fortschritte gemacht, vor allem im vergangenen halben Jahr. Die lange Zeit gefürchtete Hizbullah wurde im Herbst regelrecht überrumpelt, ihr Führungspersonal stark dezimiert. Seit der Waffenstillstandsvereinbarung Ende November ist die israelisch-libanesische Front beruhigt, auch wenn Israels Militär laut eigenen Angaben immer wieder gegen Verstöße vorgeht. Dafür sind auf politischer Ebene Fortschritte zu verzeichnen: Emissäre Israels, Libanons, Frankreichs und der Vereinigten Staaten kamen jüngst überein, Gespräche über den umstrittenen Grenzverlauf zu beginnen. In diesen Gesprächen dürfte auch zur Sprache kommen, dass sich nach wie vor israelische Truppen in Libanon befinden. Fünf Stützpunkte hält die Armee nördlich der Grenze, und es ist unklar, wann und ob sie aus ihnen abziehen will.

Das spiegelt die Situation in Syrien: Dort rückten israelische Soldaten in Gebiete jenseits der Golanhöhen ein, als im Dezember überraschend das Assad-Regime gestürzt wurde. Israel begründet das mit Sicherheitsbedenken – erst am Dienstag bekräftigte Verteidigungsminister Israel Katz, man werde es „weder der syrischen Armee noch den Terrororganisationen“ erlauben, sich nahe der Grenze einzunisten. Die Luftwaffe habe zu diesem Zweck vierzig Ziele im Süden Syriens angegriffen.

Israel spricht inzwischen mit offener Feindseligkeit über das neue Regime in Damaskus. Immer wieder sind aus Jerusalem scharfe Warnungen vor den „Dschihadisten in Anzügen“ zu hören. Dabei hatte Rebellenführer Ahmed al-Scharaa frühzeitig bekundet, er strebe keine Probleme mit dem Nachbarn an. Israel warnt aber beständig vor der Unterdrückung von Minderheiten. Katz instruierte die Armee kürzlich, die Verteidigung eines drusischen Dorfes südlich von Damaskus vorzubereiten. Wie groß das Interesse der Drusen ist, Israel als Schutzmacht zu bekommen, ist unklar. Mindestens ebenso sehr dürfte es Misstrauen gegenüber Israels Intentionen geben, vor allem angesichts von Figuren wie Finanzminister Bezalel Smotrich, der von einem jüdischen Staat träumt, der bis nach Damaskus reicht.

Mehr Aufmerksamkeit erhält in Israel nach wie vor die Gazafront – vor allem wegen der Geiseln, die dort seit 17 Monaten festgehalten werden. Um ihr Schicksal wird in diesen Tagen heftig gerungen. Militärisch ist es dagegen deutlich ruhiger geworden, seit durch das Gazaabkommen Mitte Januar eine Waffenruhe in Kraft trat. Das könnte sich allerdings jederzeit ändern, Israels neuer Generalstabschef Eyal Zamir hat schon den Auftrag erhalten, neue Kriegspläne auszuarbeiten.

Rückendeckung der USA

Die Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas hat auch dazu geführt, dass die jemenitische Front sich beruhigt hat. Auch die schiitischen Milizen im Irak haben ihre – ohnehin wenig effektiven – Angriffe vorerst eingestellt. Die Huthis im Jemen haben allerdings gedroht, sie würden ihre Attacken auf Israel wiederaufnehmen, sollte die Blockade des Gazastreifens nicht enden.

Dagegen eskaliert die Lage im Westjordanland. Israelische Truppen sind in mehrere Städte einmarschiert und haben großflächige Zerstörung angerichtet. Mehr als 40.000 Menschen sind seit Ende Januar vertrieben worden. Israel gibt an, die Militäraktionen im Westjordanland – wie auch an den anderen Fronten – seien Teil des Kampfes gegen die „iranische Achse des Terrors“. Nach den diesbezüglichen Erfolgen der vergangenen Monate ist ins Zentrum der israelischen Bestrebungen wieder gerückt, die Islamische Republik an der atomaren Bewaffnung zu hindern. In heimischen Medien wird verstärkt über einen Angriff auf Irans Atomanlagen spekuliert. Von einem „Gelegenheitsfenster“ ist die Rede. Ein solcher Angriff wäre aber nicht ohne enge Abstimmung mit den USA möglich. Welchen Weg Präsident Donald Trump einschlägt – maximaler Druck oder sogar militärische Schritte oder ein neues Atomabkommen –, scheint indessen noch offen.

Im Grunde läuft außenpolitisch aber fast alles nach Netanjahus Vorstellungen. Er hatte auf Trump gesetzt und die zunehmende Kritik von Joe Bidens Regierung ausgesessen. Die Erfüllung aller Wünsche hat Trumps Wiederwahl für Netanjahu bislang zwar nicht bedeutet – so drängte der Präsident ihn im Januar überraschend zum Gazaabkommen, und jetzt führte sein Emissär Adam Boehler nicht weniger überraschend Gespräche mit der Hamas. Von seinem Besuch im Weißen Haus im Februar kehrte Israels Ministerpräsident aber sichtlich gestärkt zurück.

Hat auf Trumps Wahlsieg gesetzt: Netanjahu mit dem US-Präsidenten Anfang Februar im Oval Office
Hat auf Trumps Wahlsieg gesetzt: Netanjahu mit dem US-Präsidenten Anfang Februar im Oval OfficeAFP

Die Rückendeckung der USA ist zum einen wichtig im Kampf gegen die internationale Gerichtsbarkeit. Seit der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) im November einen Haftbefehl gegen Netanjahu ausgestellt hat, versucht Israel, Verbündete zu mobilisieren. Trump belegte den IStGH schon kurz nach dem Amtsantritt mit Sanktionen. Einen weiteren Etappensieg konnte Netanjahu am Donnerstag verbuchen: Die ungarische Regierung verkündete, der Israeli werde noch vor Ostern das Land besuchen.

Trumps Wahl hat Netanjahu aber auch neue Kraft für die innenpolitischen Auseinandersetzungen gegeben. Dort geht seine Regierung vermehrt in die Offensive. Das zeigt sich vor allem in dem Ringen darum, wer die politische Verantwortung für das desaströse Versagen am 7. Oktober zu übernehmen hat. Netanjahu, der seit 2009 fast durchgehend an der Spitze der Regierung stand, strebt offenkundig an, dass alle wichtigen damaligen Entscheidungsträger persönliche Konsequenzen ziehen, sprich zurücktreten – nur er selbst nicht. Seit Monaten werden die Spitzen der Sicherheitsbehörden in Netanjahu-nahen Medien mit Vorwürfen überzogen, sie allein hätten den 7. Oktober zu verantworten. Im Januar kündigte der mürbe gemachte Generalstabschef Herzl Halevi seinen Rücktritt an.

Forderungen der Geiselfamilien

Seither steht Ronen Bar im Zentrum der Attacken, der Leiter des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Netanjahu kanzelte ihn kürzlich als „Bürokraten“ ab und zog ihn von der Delegation ab, die über die Freilassung der Geiseln verhandelt – seither wird verstärkt über Bars Entlassung spekuliert. Der Geheimdienstchef zeigt sich aber bissig. Zwar hat er eine Mitverantwortung für den 7. Oktober eingestanden und klargemacht, dass er zum vorzeitigen Rücktritt bereit ist. Auch in seinem kürzlich veröffentlichten Untersuchungsbericht zum 7. Oktober gesteht der Schin Bet zahlreiche Fehler ein. Der Bericht verweist aber auch auf die jahrelange Politik Israels, die Hamas nicht aktiv zu bekämpfen – ein klarer Hinweis auf Netanjahus Ansatz. Der reagierte wütend auf den Bericht.

Bar scheint überdies gewillt, an seinem Posten festzuhalten, bis die Einrichtung einer staatlichen Untersuchungskommission zum 7. Oktober beschlossen wurde. Dagegen sträubt Netanjahu sich mit Händen und Füßen; er ist höchstens gewillt, eine zahnlose Untersuchung zuzulassen. Das ist einer der Berührungspunkte mit der „Justizreform“, an der seine Regierung seit zwei Jahren arbeitet: Staatliche Untersuchungskommissionen werden üblicherweise vom Präsidenten des Obersten Gerichts zusammengestellt. Den kürzlich gewählten Isaac Amit boykottiert Netanjahus Justizminister aber – einer der Gründe ist wohl das Ringen um die Untersuchung des 7. Oktober.

Die Forderung nach Aufarbeitung wird auch von vielen Angehörigen der Geiseln erhoben. Die Geiselfamilien und Netanjahu stehen in vielerlei Hinsicht miteinander überkreuz, allen voran bei der Frage nach der besten Strategie, die verbliebenen Entführten lebend zurückzubringen. Zuletzt hat Netanjahu sich verstärkt darum bemüht, sich mit freigelassenen Geiseln zu treffen. Der Grund dürfte sein, dass immer mehr von ihm enttäuschte Familien inzwischen offen auf Trump setzen. Netanjahu hat Angst, dass der Amerikaner ihm abermals die Agenda diktiert.

Grundsätzlich scheint er aber bis heute unbeeindruckt von den anhaltenden Protestkundgebungen und Beschwörungen der Geiselfamilien zu sein. Ein härterer Gegner ist aus seiner Sicht die Justiz. Zum einen ist er immer noch wegen Korruption angeklagt. Der Ministerpräsident versucht das Voranschreiten des Prozesses mit allen Mitteln zu verzögern. Erst am Mittwoch lieferte er sich einen hitzigen Schlagabtausch mit der Richterin, als sie der langwierigen Befragung durch seinen Verteidiger Grenzen setzen wollte.

„Opfer dunkler Mächte“

Zum Zweiten geraten immer wieder Affären an die Öffentlichkeit, die Netanjahus Büro betreffen. Im Herbst ging es um den Vorwurf, dass Mitarbeiter als geheim eingestufte Dokumente an die deutsche Zeitung „Bild“ weitergaben, um eine Einigung mit der Hamas zu torpedieren. Seit einigen Wochen macht das „Qatargate“ Schlagzeilen: Enge Mitarbeiter Netanjahus wurden angeblich von dem Golfstaat für PR-Dienste bezahlt. Am Dienstag verhängte ein Gericht eine 30-tägige Nachrichtensperre über den Fall, in dem auch der Schin Bet ermittelt.

Die dritte Justiz-Front ist die Justizreform. Inzwischen werden in der Knesset wieder neue Gesetze vorbereitet, welche die Richter schwächen sollen. Eines wurde Anfang März verabschiedet: Es gibt der Regierungskoalition faktisch die Kontrolle über die Wahl des Ombudsmanns der Justiz, der internes Fehlverhalten untersucht.

Einer der Beweggründe hinter der Justizreform ist, dass die Regierung die Wehrdienstbefreiung für ultraorthodoxe Juden gesetzlich verankern will. Das Thema hat für Netanjahus Koalition die vielleicht größte Sprengkraft. Einige ultraorthodoxe Abgeordnete haben gedroht, dem Haushalt die Zustimmung zu verweigern, wenn die Wehrdienstbefreiung nicht Gesetz wird. Die Justiz stellt sich aber hartnäckig quer. Die bis Ende März fällige Verabschiedung des Haushalts schien deswegen zwischenzeitlich zu einer Zitterpartie zu werden.

Auch wenn die Krise vorerst ausgestanden zu sein scheint, will die Regierung ihre Widersacher in der Justiz endlich aus dem Weg räumen. Das gilt vor allem für Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara. Vor einer Woche verkündete Justizminister Yariv Levin, er strebe ihre Entlassung an – was ein beispielloser Vorgang wäre. Ende März soll der erste Schritt stattfinden, die Abstimmung im Kabinett.

Durch anhaltenden Druck und schrittweise Eskalation hat Netanjahu an den außenpolitischen Fronten Erfolge errungen – jetzt setzt er auch die Gegner im Innern immer stärker unter Druck. Zugleich eskaliert die seit Langem gepflegte Rhetorik, wonach der Ministerpräsident das Opfer dunkler Mächte sei. Netanjahu-nahe Kreise haben ihre Attacken auf Justiz, Armee und Geheimdienste bis zu dem Vorwurf gesteigert, die Sicherheitsdienste planten einen Putsch. Netanjahu selbst sprach kürzlich in einer erhitzten Debatte in der Knesset von einem „tiefen Staat“, der ihm nachsetze. Die Mehrheit der Menschen im Land wisse das aber, sagte er. So wie die Verschwörung zwischen feindlich gesinnten Bürokraten und Medien in den USA nicht funktioniert habe, so werde sie auch in Israel nicht funktionieren. „Ich werde weiterhin auf der Wahrheit bestehen“, sagte Netanjahu. „Ich werde weiterhin Maßnahmen ergreifen, bis zum absoluten Sieg.“