Wenn Europa von Amerika unabhängiger werden will, muss es seine digitale Souveränität zurückerobern. Nirgendwo gibt es weniger politische Expertise als bei diesem Thema. Und nichts anderes, was für die Sicherheit und wirtschaftliche Zukunft des Landes von vergleichbarer Bedeutung ist, interessiert die Wähler so wenig. Dabei sind die Veränderungen im Alltag sichtbar und alles andere als schleichend.
Im Büro ist die Siemens-Telefonanlage längst gegen die allumfassende Kommunikation innerhalb des Microsoft-Programms „Teams“ getauscht worden. Der Austausch mit Freunden und Familie erfolgt über amerikanische Chat-Dienste, die Social-Media-Interaktion über amerikanische oder chinesische Konzerne. Wer die Künstliche Intelligenz (KI) befragt, bekommt seine Antwort fast immer von einem amerikanischen Anbieter. Die Chips, die alles antreiben, kommen aus Amerika. Und die Art der Inhalte, die Europäer im Internet gezeigt bekommen, wird von Algorithmen gesteuert, deren Programmierung nicht nachvollziehbar ist, zur Polarisierung der Meinungsbildung beitragen, Demokratien unterhöhlen und Werbeeinnahmen auf die andere Seite des Atlantiks schicken.
Wo ist der Wettbewerb zu Palantir?
Das funktioniert technisch bestens, Netzwerkeffekte haben viele Vorteile. Aber selbst dann, wenn man sich mit den Ländern gut versteht, in denen die Anbieter ihre Heimat haben, ist die Aufzählung verstörend. Denn in jedem Fall gehen in Europa Umsätze, Steuereinnahmen, Arbeitsplätze verloren – und wenn man die nationalen Sicherheitsinteressen berücksichtigen will, werden die Dinge heikel.
Wollen deutsche Sicherheitsbehörden moderne Ermittlungsarbeit mit digitalen Hilfsmitteln leisten, kommen sie am Monopol der Software des amerikanischen Unternehmens Palantir nicht vorbei. Und die Daten der Deutschen liegen in Cloud-Speichern, die allzu häufig von amerikanischen Konzernen betrieben werden. Alle diese Dinge sind mit Blick auf ihre technische Grundidee sinnvoll und sicher. Aber es ist ein Problem, dass Europa und Deutschland digital Süchtige, aber auch von ihren Daten-Dealern aus Übersee Abhängige geworden sind.
Die Frage nach der Handlungsfähigkeit im digitalen Raum wird in der aktuellen politischen Lage zur Existenzfrage für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, der alle Beteiligten größere Aufmerksamkeit schenken sollten. Denn die digitale Souveränität beschreibt die Fähigkeit von Individuen, Unternehmen und Staaten, im digitalen Raum eigenständig zu handeln, kritische Technologien zu entwickeln und strategische Entscheidungen ohne einseitige Abhängigkeiten zu treffen. Davon ist in Europa nichts zu sehen.
Es geht nicht um Autarkie
Das Konzept geht über technologische Unabhängigkeit hinaus: Es umfasst die Kompetenz, digitale Prozesse zu verstehen, zu gestalten und im Krisenfall anzupassen. Nicht Autarkie ist wichtig, sondern die Fähigkeit, Technologien Dritter bewertbar und kontrollierbar einzusetzen. Was Europa braucht, ist technologische Eigenständigkeit in der Entwicklung von Schlüsseltechnologien wie KI, Quantencomputing und 5G/6G-Mobilfunknetzen sowie infrastrukturelle Resilienz, also den Aufbau redundanter Systeme, die bei Lieferkettenunterbrechungen funktionsfähig bleiben. Nur in der Regulierung ist Europa vorne, allerdings ineffizient. Einfachere, aber wirksamere Regelungen wären nötig, nicht zuletzt beim Urheberrecht und auf dem Weg der überfälligen Vollendung des digitalen Binnenmarkts.
Nun ist nicht alles verloren. Institutionen wie die Fraunhofer-Gesellschaft und die Max-Planck-Institute zählen in der Forschung zu digitalen Themen zur Weltspitze. Die Verbindung von Maschinenbau und Digitalisierung schafft Nischenführer in der industriellen Sensorik im Internet der Dinge. Und es ist auch erkennbar, wo die ungenutzten Chancen lägen. Der Schlüssel findet sich in der Nutzung von Open-Source-Software, also von Programmen, deren Quellcode öffentlich zugänglich ist und deren Lizenz die Verwendung, Weitergabe und Veränderung nicht einschränkt.
Hier sollten europäische Anbieter mit konkreten Aufträgen gestärkt werden. Pläne dafür gibt es seit Jahren, sie sollten endlich umgesetzt werden. Und es müsste ein europäischer Konkurrent zu Palantir aufgebaut werden, vergleichbar dem Flugzeughersteller Airbus; die Schlüsselunternehmen dafür wären vorhanden. Übertragen lässt sich dieser Gedanke auf die KI oder das Quantencomputing.
Es wäre wünschenswert, dass Deutschland und Frankreich auf diesen Gebieten zu einer engeren Zusammenarbeit kommen als bisher. Europa kann noch mehr Partner finden, zum Beispiel in Südkorea oder Japan. Japan sollte ohnehin wieder stärker ins Bewusstsein rücken: Viele Herausforderungen sind ähnlich. Und am deutschen Thema der digitalen Industrie war man dort immer sehr interessiert.