Um mich müssen Sie sich nicht sorgen, sondern um unser Land. Die FDP hat im Herbst gesagt, dass es entweder eine neue Politik oder neue Wahlen geben muss. Die Richtungsentscheidung, zu der die Ampel nicht in der Lage war, treffen jetzt die Wählerinnen und Wähler. Die FDP kämpft für eine Wirtschaftswende, für mehr Konsequenz bei der Migration und mehr Vertrauen auf Eigenverantwortung und Freiheit.
Der Kanzler bezichtigt Sie der Sabotage, stellt Sie als „Zocker“ dar. Im „Spiegel“ heißen Sie: „Der Täuscher“.
Das ist Teil der SPD-Kampagne, die von der rot-grünen Konzeptlosigkeit angesichts der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise ablenken soll. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Der Kanzler hat mich entlassen, weil ich mich geweigert habe, 15 Milliarden Euro Schulden an der Schuldenbremse vorbei zu machen. Ich habe auf mein Staatsamt für meine Überzeugungen verzichtet. Zuvor hatte ich im Falle einer Nichteinigung auf eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik gemeinsam herbeigeführte Neuwahlen wie 2005 angeboten.
Die Bürger belohnen Sie dafür nicht. Bereuen Sie, die Koalition nicht schon im Sommer beendet zu haben?
Mir geht es nicht um Belohnung, sondern um die Sache. Das Ampel-Aus war das Richtige für Deutschland. Ich werfe mir selbst vor, die Wucht des Verfassungsgerichtsurteils vom 15. November 2023 nicht für neue Verhandlungen genutzt zu haben. Als der Buchungstrick der 60 Milliarden Euro von Olaf Scholz für verfassungswidrig erklärt wurde, war die ursprüngliche Geschäftsgrundlage seiner Regierung erloschen.
Viele werfen Ihnen etwas anderes vor. Dass der Koalitionsbruch in Ihrer Parteizentrale lange vorbereitet wurde, mit einem Papier, in dem vom „D-Day“ und „offener Feldschlacht“ die Rede war.
Die Parteizentrale hat sich in der Tat auf alle Szenarien vorbereitet. Das ist deren Aufgabe. Das Papier war aber kein Drehbuch für den Koalitionsbruch, sondern beschrieb Maßnahmen für die Zeit nach einem Koalitionsende. Es hatte insofern keine politische Bedeutung.
Wenn es keine Bedeutung hatte, warum mussten dann der Generalsekretär und der Bundesgeschäftsführer zurücktreten?
Der Generalsekretär hat die Öffentlichkeit unwissentlich falsch über dieses Papier informiert, weil es Mängel in den Prozessen der Parteizentrale gab. Das war schmerzhaft für uns alle.
Die stellvertretende FDP-Vorsitzende von Mecklenburg-Vorpommern, Julia Kristin Pittasch, sagt: „Christian Lindner kann der richtige Vorsitzende sein – aber nur, wenn er endlich Fehler eingesteht und selbstkritisch handelt.“
Das habe ich in diesem Gespräch schon getan. Die Entscheidung, einen Politikwechsel in der Ampel zu erreichen oder Neuwahlen herbeizuführen, sehe ich aber ausdrücklich nicht als Fehler. Ebenso wenig wie mein Ziel, die FDP als einzige liberale Kraft klar zu profilieren.
Gibt es überhaupt jemanden, der Ihren Job in dieser Lage haben will?
Wir haben viel starke Persönlichkeiten. Und ich prüfe mich selbst, ob ich der Richtige bin.
Ich war eines der drei Gesichter der Ampel. Aber ich war auch derjenige, der erkannt hat, dass Deutschland auf der Kippe steht und deshalb eingetretene Pfade verlassen muss.
Sie sind auch das Gesicht, das sich eine „Prise Milei und Musk“ und „etwas Disruption“ für Deutschland wünscht. Was gefällt Ihnen so an den Libertären?
Wir brauchen vor allem Disruption. Denn unser Land ist vor einem Jahrzehnt falsch abgebogen. Die Staatsausgaben steigen schneller als die Wertschöpfung. Der Sozialstaat toleriert Antriebslosigkeit und lähmt Leistung. Die Bürokratie fesselt Kreativität. Und wir leisten uns einen deutschen Sonderweg in der Klima- und Energiepolitik, der unser Wirtschaftsmodell ruinieren kann.
Es ist eine deutsche Eigenart, andere kleinreden zu wollen. Unser Land kann sich aber keine Arroganz mehr leisten, wir müssen von anderen lernen. Wenn Milei mit der Kettensäge operiert, sollten wir in Deutschland aber wenigstens die Nagelfeile weglegen. Im Übrigen hat auch die Politik von Ludwig Erhard zunächst eine Anpassungskrise ausgelöst.
Auch die Ampel ist mit dem Versprechen der Disruption angetreten, bei der Digitalisierung, der Bürokratisierung, der Bildung, der Infrastruktur. Ohne Erfolg. Lag das an Ihnen oder an den anderen?
Die Regierung muss schlanker und agiler werden. Die Ebene der Unterabteilungsleiter in den Ministerien kann komplett entfallen. Das sind gute Leute, aber wir brauchen mehr Tempo. Auch die Zentralabteilungen, die für Personal, IT und Beschaffung zuständig sind, könnten in einer einzigen zentralen Stelle für alle Ministerien gebündelt werden. Alle Digitalzuständigkeiten von Infrastruktur bis Start-ups sollten in einem Ministerium zusammengefasst werden. Auswärtiges Amt und Entwicklungshilfe könnten fusionieren.
Bildung kostet Geld. Deutschland muss aufrüsten. Die Infrastruktur ist marode. Wie wollen Sie das alles ohne neue Schulden bezahlen?
Was heißt ohne neue Schulden? Die Schuldenbremse erlaubt in diesem Jahr 50 Milliarden Euro Kreditaufnahme. Höhere Staatsausgaben belasten uns nicht nur mit Zinsen, sie führen auch zum Bruch der EU-Fiskalregeln. Angesichts der Lage in Frankreich und Italien würden wir den Euro aufs Spiel setzen, wenn von Deutschland die Einladung zum finanziellen Dammbruch ausginge. Bei einer Billion Euro Staatseinnahmen kann mir niemand erzählen, dass es nicht möglich sein soll, Bildung, Infrastruktur, innere und äußere Sicherheit und Digitalisierung besser als bisher zu finanzieren. Dafür müssen wir aber in bestimmten Bereichen mutige Entscheidungen treffen.
Beim Bürgergeld und bei den wirtschaftlichen Folgen der irregulären Migration können Milliarden mobilisiert werden, durch bessere Arbeitsanreize und Steuerung. Das deutsche Ziel, bis 2045 klimaneutral zu sein, erreicht nichts für das Weltklima und vernichtet unseren Kapitalstock. 2050, also das europäische Klimaziel, ist ambitioniert genug und würde Milliarden an zusätzlicher Wertschöpfung aus Anlagen erlauben, die nicht vor ihrer Zeit verschrottet werden müssten.
Es wären auch viel geringere öffentliche Subventionen nötig, die für Investitionen genutzt werden könnten. Ich wehre mich gegen dieses „entweder Schuldenbremse oder Investitionen“. Dahinter steckt nur die Feigheit, notwendige Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen.
Viel Zeit bleibt Ihnen nicht in diesem Wahlkampf. Was ist Ihr Notfallplan, um die FDP über fünf Prozent zu hieven?
Die FDP braucht keinen Notfallplan, sondern starke Nerven und klare Inhalte. Wir haben das Programm für die Wirtschaftswende. Da sind wir klarer als die Union. Und wir werden die Koalitionsperspektive eröffnen: Nach der großen Koalition und der Ampel wären Schwarz-Rot und Schwarz-Grün nur „Ampel light“. Wer anderes will, muss FDP wählen.
Das hat mich erstaunt. Ich bin gerade nicht der Meinung, dass eine Politik der Marktlenkung mit Subventionen und Verboten fortgesetzt werden darf. Auch die neue Offenheit der Union für Steuererhöhungen und für die Lockerung der Schuldenbremse geht in diese Richtung. Ich werde kein Stalking betreiben, aber eine schwarz-gelbe Koalition ist die einzige Option, die einen Politikwechsel verspricht. Die Union kämpft dafür nicht, weil es ihr vor allem um das Erlangen der Macht geht. Ich halte das für einen Fehler. Denn wenn Union und FDP gemeinsam die Perspektive einer Koalition der Mitte aufzeigen würden, könnten wir die notwendigen fünf Prozentpunkte plus X aus der Wählerschaft der AfD zurückgewinnen. Schwarz-Gelb könnte eine Brücke zu den gemäßigten AfD-Wählern sein, die noch erreichbar sind.