Zehn Gründe, warum die AfD im Osten so stark ist

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In der Bundestagswahl hat die AfD ein Rekordergebnis von 20,8 Prozent erreicht. Zwar kamen rund 70 Prozent der Stimmen für die AfD aus dem bevölkerungsreicheren Westen Deutschlands. In Ostdeutschland erreichte die AfD aber 32 Prozent der Zweitstimmen und damit die bislang höchsten Werte in einer bundesweiten Wahl. In Thüringen, wo Björn Höcke die als rechtsextremistisch eingestufte Partei anführt, waren es sogar 38,6 Prozent.

Dass der Osten angeblich anders tickt als der Westen, ist immer wieder beschrieben worden. Zugleich gibt es eine Fülle, ja einen Wust an Deutungen, warum gerade so viele Ostdeutsche die AfD wählen. Wir haben zehn Gründe aufgeschrieben. Ein Ranking nach Wichtigkeit gibt es dabei nicht und ebenso keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

1. Die Kümmererpartei

Auf den Marktplätzen in der ländlichen Provinz Ostdeutschlands stehen mit ihren Infoständen die Mitglieder nur einer Partei: der AfD. Bürger können ihren Unmut loswerden, finden einen Ansprechpartner. Viele AfD-Anhänger sind sich nicht zu schade dafür, sie haben eine Mission. Die Rolle der Kümmererpartei hat die AfD im Osten längst von der Linkspartei übernommen.

2. Die „Alles kann so bleiben“-Partei

Die AfD bietet den Bürgern ein Heilsversprechen an: Du musst dich nicht ändern, wenn die Welt sich ändert. Das gilt für die Ablehnung einer Einwanderungsgesellschaft, des Klimawandels und allgemein der vielfältigen Herausforderungen einer globalisierten Welt. Nach den oft schmerzlichen Umbrüchen seit der Wiedervereinigung wünschen sich vor allem im Osten viele Bürger, dass endlich Schluss ist mit den Veränderungen (auch wenn sie sich umgucken würden, wenn alles wieder wie in der DDR wäre).

3. Die Partei des völkischen Erbes der DDR

In der DDR wurde Nationalismus großgeschrieben. Ausländer gab es kaum. Die Faschisten regierten in Westdeutschland, in der DDR gab es den offiziellen Antifaschismus. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Anteil am Nationalsozialismus und dem Holocaust fand kaum statt. Eine Revolte der 1968er gegen die im NS-Regime verstrickte Elterngeneration gab es allenfalls in Nischen der DDR-Gesellschaft. Das wirkt sich bis heute aus. Die AfD knüpft daran an, indem sie das Deutschtum betont und „den großen Austausch“ der deutschen Bevölkerung gegen kulturfremde Migranten thematisiert.

4. Die Anti-West-Partei

Viele Ostdeutsche haben die Wiedervereinigung als Anschluss erlebt, bei dem sie von Westdeutschen über den Tisch gezogen wurden. In einer Art Trotzreaktion auf die erlittene Bevormundung und Demütigung kam es zu einer Abwehr gegenüber allem, was aus dem Westen kommt. Dabei ließ sich leicht an Dogmen der SED anknüpfen. Daraus speisen sich der Antiamerikanismus, die Anti-NATO- und die Anti-EU-Haltung und die Liebe zum großen Bruder Russland, die es früher gar nicht gegeben hat. Das macht sich die AfD als vermeintliche Ost-Partei zunutze.

5. Die „Es gibt ein anderes Demokratieverständnis im Osten“-Partei

Demokratie wird von vielen Ostdeutschen so verstanden, dass der Wille der Mehrheit unverzüglich durchzusetzen sei. Der Schutz von Minderheiten und das Verständnis von Demokratie als Regierungsform, in der es um die Aushandlung von Kompromissen geht, spielen nur eine geringe Rolle. Die AfD knüpft daran an, indem sie sich als Vollstreckerin des Volkswillens ausgibt und dafür sogar die friedliche Revolution in der DDR („Wir sind das Volk“) instrumentalisiert.

6. Die „Ihr habt die Politik nicht erklärt“-Partei

Die Politiker haben es in den vergangenen Jahren versäumt, ihre Entscheidungen hinreichend zu erklären. Im Osten wird dieses Defizit besonders stark wahrgenommen. Denn hier gibt es eine Allergie gegenüber Bevormundung. Schließlich hat die SED 40 Jahre lang bestimmt, was zu denken und zu sagen ist. Die AfD macht sich diese Sensibilität zunutze, indem sie den Bürgern erzählt, es sei schon wieder verboten, seine Meinung zu sagen.

7. Die Proll-Partei

Die Bürgerlichen und die jungen Aktiven haben den Osten Deutschlands verlassen. Das konservative Bürgertum suchte nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand vom 17. Juni 1953 das Weite. Von 1949 bis zum Mauerbau 1961 verließen 2,5 Millionen Menschen die DDR, oft Leute mit freiheitlichem und unternehmerischem Sinn. Mehr als eine halbe Million ging zu Zeiten der Mauer. „Der doofe Rest“ (DDR-Witz darüber, was DDR bedeutet) blieb. Von 1989 bis 2015 kehrten weitere zwei Millionen Menschen Ostdeutschland den Rücken, nicht zuletzt gebildete junge Leute, vor allem Frauen.

8. Die Beleidigte-Männer-Partei

In den strukturschwachen Regionen des Ostens gibt es einen europaweit einzigartigen Männerüberschuss. Dort ist die AfD besonders stark. Männer sehen ihre traditionelle Rolle infrage gestellt. Die AfD bestärkt sie darin, an den überkommenen Männerbildern festzuhalten. AfD-Politiker wie Maximilian Krah machen das zum Programm für junge Männer: Sei stark, sei männlich, sei nicht woke, sei rechts! Dann findest du auch eine Frau!

Der AfD-Politiker Maximilan Krah im Mai 2024 in Dresden
Der AfD-Politiker Maximilan Krah im Mai 2024 in Dresdendpa

9. Die Russen-Partei

Der Kreml hat schon früh auf die AfD gesetzt und das Ziel ausgegeben, sie müsse über 20 Prozent kommen. Gleichzeitig hat das Putin-Regime die Grünen als Hauptgegner ausgemacht und seine Propaganda vor allem gegen sie gerichtet. Die Grünen sind heute in weiten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung verhasst; Parteien, die mit ihnen koalieren, gelten als kontaminiert. Die Narrative des Kremls von einem dekadenten Europa, einem nicht mehr funktionierenden Staat und einem Land in der Krise unbekannten Ausmaßes fallen in Ostdeutschland auf besonders fruchtbaren Boden und nützen der AfD, deren Führung enge Kontakte zum Putin-Regime pflegt.

10. Die Misstrauens-Partei

Der Kommunismus hat in den Staaten, in denen er Staatsideologie war, Misstrauen gesät. Denn überall wurde gespitzelt, offizielles Reden und tatsächliches Erleben klafften auseinander. Dem Staat misstraute man, und doch war man auf ihn angewiesen, denn letztlich kam alles von ihm. Die AfD macht sich dieses Misstrauen gegenüber dem Staat zunutze, ihre Verschwörungserzählungen funktionieren so besonders gut.