Ifo-Studie: Migration erhöht Kriminalität nicht

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Hat der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, seine eigene Polizeiliche Kriminalstatistik falsch interpretiert? Ebenso wie der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und der Vorsitzende der Innenministerkonferenz 2024, Michael Stübgen (CDU), damals Innenminister von Brandenburg?

Sie alle haben im vergangenen Jahr die gestiegene Kriminalität in Deutschland nicht zuletzt auf Migration zurückgeführt, als die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für 2023 präsentiert wurden. BKA-Präsident Münch nannte explizit die „gestiegene Migration“ als Faktor, der unter anderem für die Zunahme von Diebstahlsdelikten und Gewaltkriminalität verantwortlich sei. Brandenburgs Innenminister Stübgen forderte, „wenn Mi­gration zu sinkender Sicherheit führt, muss die Politik aber reagieren“. Und der bayerische Innenminister hob bei der Vorstellung der bayerischen PKS hervor, dass „besonders Ausländer und Zuwanderer“ verantwortlich seien, dass die Kriminalität zugenommen habe.

Eine Studie des ifo-Instituts scheint nun zu einem ganz anderen Schluss zu kommen: „Mehr Ausländer erhöhen die Kriminalität nicht“ lautet der überraschende Titel der Analyse des Instituts. Wie kann das sein, wenn selbst der Präsident des Bundeskriminalamtes, das die PKS jedes Jahr erstellt, es offensichtlich anders sieht?

Die absoluten Zahlen der Straftaten steigen

Eine Erklärung könnte in der Definition liegen. Denn die Forscher sprechen in der Untersuchung von „Kriminalitätsraten“, also der Anzahl der Straftaten pro Einwohner. Und diese Rate habe sich durch Migration nicht verändert – so lautet zumindest das zentrale Ergebnis der Studie. Für die Untersuchung werteten sie die Angaben der PKS für Landkreise und kreisfreie Städte im Zeitraum von 2018 bis 2023 aus. Doch zunächst einmal stellen auch die Forscher des Instituts fest: Natürlich steigen die „absoluten Zahlen“ der Straftaten durch Migration. Und: Ausländer sind im Vergleich zu Deutschen in der PKS überrepräsentiert. Denn 2023 kamen auf 1000 Deutsche 19 deutsche Tatverdächtige für Straftaten, auf 1000 Ausländer jedoch 57 ausländische Tatverdächtige.

Doch die „bloße Überrepräsentation von Ausländern in der Statistik“ belegt laut Studie weder eine „höhere Kriminalitätsneigung von Migranten noch steigende Kriminalität infolge von Zuwanderung“. Verantwortlich für den hohen Anteil an Ausländern an der PKS sind demnach, vereinfacht gesagt, folgende Einflussfaktoren: die Jugend, das männliches Geschlecht und der Wohnort der Migranten.

Die Forscher sind für den ersten Teil ihrer Analyse, die Querschnittsanalyse, folgender Frage nachgegangen: Welche Faktoren erklären regionale Unterschiede in der Kriminalitätsrate? Dafür haben sie zunächst die Kriterien festgelegt, die einen Einfluss auf Kriminalität haben: Demographie und sozioökonomische Bedingungen. Demographie – Alter und Geschlecht – ist ein wichtiger Faktor, denn generell sind junge Männer, unabhängig von ihrer Herkunft, anfälliger dafür, Straftaten zu begehen. Und Migranten sind überwiegend jung und männlich.

Ballungsräume mit höheren Kriminalitäsraten

Neben der Demographie gibt es laut Studie zudem „ortsspezifische Faktoren“: Ausländer wohnen demnach häufig in Ballungsräumen, die per se höhere Kriminalitätsraten aufweisen – auch unter Deutschen. Diese Orte würden das Straffälligkeitsrisiko für alle „Einwohner unabhängig von der Nationalität“ erhöhen. Erklärung: Hier gebe es neben der höheren Rate an deutschen Tatverdächtigen auch Faktoren wie die Arbeitslosenquote, die die „Chance auf legale Verdienstmöglichkeiten“ beeinflusse und somit die Straffälligkeit begünstigen könne. Ein weiterer Faktor sei die höhere Polizeipräsenz, also das Risiko, gefasst zu werden, sowie die Bevölkerungsdichte. Ausländer, die in diese Gegenden zögen, seien also nicht krimineller als die Bewohner, die schon da sind. Jean-Victor Alipour, einer der beiden Studienautoren, erklärt es auf Nachfrage so: „Das Kriminalitätsrisiko von jungen Geflüchteten, die in diese Regionen ziehen, wird gesteigert.“

Diese ortsspezifischen Faktoren sowie die demographischen Kriterien Alter und Geschlecht haben die Forscher deshalb für ihre Querschnittsanalyse für das Jahr 2023 statistisch herausgerechnet. Aber was heißt das genau, dieses „Herausrechnen“? „Wir haben aus den regionalen Unterschieden in den Kriminalitätsraten unter anderem denjenigen Anteil herausgerechnet, der mit einer unterschiedlichen Altersstruktur in den Kreisen erklärt werden kann. Das kann man statistisch machen“, sagt Alipour. Denn: Wenn in einem Landkreis der Altersdurchschnitt bei 65 Jahren und der Frauenanteil bei 70 Prozent liegt, wird dieser Kreis eine niedrigere Kriminalitätsrate haben als ein Kreis mit einem Altersdurchschnitt von 25 Jahren und einem Männeranteil von 70 Prozent.

Ebenso wie das Alter werden dann die Faktoren Geschlecht und ortsspezifische Kriterien herausgerechnet. „Und da haben wir gesehen, dass diese Faktoren die unterschiedlichen Kriminalitätsraten erklären. Die reine Herkunft der Tatverdächtigen spielt keine Rolle“, sagt Alipour. Die Forscher wollten so erreichen, dass die Kriminalitätsraten der Landkreise vergleichbar sind. Die Migranten seien also im Durchschnitt dann nicht krimineller als die Einheimischen.

„Eigentlich sollten alle Alarmglocken schrillen“

Für den zweiten Teil der Analyse wurde eine Längsschnittanalyse erstellt. Die Frage lautete hier: Wie verändert sich die Kriminalitätsrate, wenn Ausländer zuziehen? Der Vergleich galt jetzt nicht mehr unterschiedlichen Landkreisen, sondern dem Verlauf der Kriminalitätsrate in einem bestimmten Landkreis über die Jahre 2018 bis 2023. Das Ergebnis: „Nimmt die Anzahl an Ausländern zu, verändert sich die lokale Kriminalitätsrate nicht“, sagt Alipour. Ein paar Ausnahmen gebe es für Straftaten wie Sachbeschädigungen und das „Erschleichen von Leistungen“, wozu das Fahren ohne Fahrkarte zählt. Diese Taten nehmen demnach leicht zu. Bei den anderen Delikten, vor allem auch bei schweren Straftaten, gebe es jedoch keinen Einfluss auf die Kriminalitätsraten, wenn der Ausländeranteil steigt, sagt Alipour.

Ihre Studienergebnisse, so die Autoren, deckten sich mit den Erkenntnissen der internationalen Forschung. Doch die Analyse steht auch in der Kritik. Die Berechnungen der Forscher seien technisch richtig, sagt Martin Halla, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Wien. „Aber die Ergebnisse der Autoren beantworten nicht die zentrale gesellschaftspolitische Frage: Hätte Deutschland ohne Zuwanderung weniger Kriminalität?“ Letztlich blieben statistische Unklarheiten. Wenn die Studie zum Beispiel ortsspezifische Faktoren herausrechne, also das kriminelle Umfeld der Migranten, werde der Schluss gezogen, dass die Kriminalität dort nicht wegen der Ausländer steige. „Diese Berechnung beantwortet eine andere Frage – aus einem sehr eingeschränkten Blickwinkel“, kritisiert Halla.

Er erläutert dies so: Auf individueller oder Gruppenebene sind die Zahlen eindeutig – Ausländer haben eine signifikant höhere Kriminalitätsneigung als Deutsche. „Die Autoren aggregieren die Daten dann auf Kreisebene. Sie fassen sie also für diese Ebene zusammen und rechnen, wie in der ifo-Studie geschehen, bestimmte Faktoren heraus – wodurch sich das Ergebnis verändert.“ Hier wird nach Hallas Einschätzung eine sogenannte ökologische Inferenz betrieben. „Man versucht, mit Daten auf einem höheren Aggregationsniveau, zum Beispiel auf Kreisebene, Rückschlüsse auf individuelles Verhalten zu ziehen. Dieses Vorgehen wird als ökologische Inferenz bezeichnet.“ Statistisch gesehen entstehen laut Halla durch diese Aggregation zahlreiche potentielle Fehlerquellen, die zu einem sogenannten ökologischen Fehlschluss führen können. „Wenn das aggregierte Ergebnis wie in der ifo-Studie dann nicht mit den disaggregierten Kriminalitätsraten übereinstimmt, sollten eigentlich alle Alarmglocken schrillen.“

Politische Färbung der Studie

Mit ihrer Studie wollen die Autoren „Fehlwahrnehmungen“ entgegentreten, die Migration als „Sicherheitsrisiko“ sehen, schreiben sie. Denn diese „Fehlwahrnehmungen“ würden mehrheitsfähige Strategien zur dringend benötigten „Gewinnung ausländischer Arbeitskräfte“ erschweren. Somit stehen demnach „die stichhaltigen Belege, dass Migration die Kriminalität nicht systematisch erhöht“ im Kontrast zur öffentlichen Wahrnehmung. Dabei gehe es nicht darum, Taten zu relativieren, schon gar nicht „schreckliche Taten wie in München oder Aschaffenburg“, betont Alipour. Die Studie habe man lange vor diesen Taten begonnen.

Es bleibt jedoch die Frage, warum das ifo-Institut die Studie mit Schlagworten wie „mehr Ausländer bedeuten nicht mehr Kriminalität“ veröffentlicht hat – und zwar ausgerechnet ein paar Tage vor der Bundestagswahl. Denn eine politische Färbung hat die Studie durchaus: Als Beweis für eine „Fehlwahrnehmung“ von Migration werden vor allem Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) sowie des Kanzlerkandidaten der Union, Friedrich Merz, angeführt. Der meine, so die Studie, Migration bedeute, „man hole sich ‚Probleme ins Land‘“. Zudem wird als eine der Maßnahmen zur besseren Bekämpfung von Ausländerkriminalität ein Vorgehen genannt, das politisch umstritten ist: der „erleichterte Zugang zur Staatsbürgerschaft“. Die weiteren präventiven Maßnahmen, die die Autoren aufführen, bilden jedoch einen Konsens ab: schnellere Integration durch Sprachkurse sowie der erleichterte Zugang zum Arbeitsmarkt.

Das zentrale Fazit der Studie lautet somit, dass Ausländer in der PKS zwar überrepräsentiert sind – jedoch nicht aufgrund ihrer Herkunft. Dem stimmt auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter weitgehend zu. „Kriminalitätsneigung hat nichts mit Nationalität zu tun, sondern in erster Linie mit sozioökonomischem Status, Alter und Geschlecht“, sagt Bundesvorsitzender Dirk Peglow. Allerdings führt Peglow auch den Faktor Sozialisation an: So sei festzustellen, dass Gewalterfahrungen im Herkunftsland oder im innerfamiliären Kontext, aber auch gewaltverherrlichende Männlichkeitsnormen aggressives Verhalten befördern können – zum Beispiel auch den Einsatz von Messern bei Konflikten.

Dass die Herkunft im Sinne einer kulturellen Prägung durchaus eine bedeutende Rolle spielt, zeigte schon 2018 eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Untersucht wurde damals die Entwicklung der Gewalt in Deutschland unter Jugendlichen und Flüchtlingen am Beispiel von Niedersachsen. Es wurde ein deutlicher Anstieg von Gewalttaten in den Jahren 2015 und 2016 festgestellt, der zu rund 90 Prozent Flüchtlingen zuzurechnen war. Die Autoren führen dort eindeutig „gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen“ der islamisch geprägten Herkunftsländer als Risikofaktoren für Gewalttaten an.

Die ifo-Analyse will und kann nicht bestreiten, dass die Kriminalität zunimmt, wenn Zigtausende junge Männer aus überwiegend prekären Verhältnissen ins Land kommen. Die Forscher verneinen jedoch mit Verweis auf ihre Berechnungen den „systematischen Einfluss auf die Kriminalität im Aufnahmeland“. Das, was die Forscher als „scheinbares Paradox“ bezeichnen, kann man aus Opferperspektive als Haarspalterei wahrnehmen. Denn für ein Opfer ist es irrelevant, ob es vom Täter aufgrund dessen (in- oder ausländischer) Herkunft – oder wegen dessen Alters, Geschlechts und Wohnumfelds bestohlen, ausgeraubt, vergewaltigt oder totgeschlagen wird.