Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz muss sich in diesen Tagen viele Vorwürfe anhören: Wählertäuschung! Wahlbetrug! Verrat! Noch bevor Merz Kanzler wird, steht er also schon als Wendehals, Lügner und Verräter da.
Zumindest als Täuscher sieht ihn auch die Mehrheit der Bevölkerung. In einer Forsa-Umfrage waren 55 Prozent der Befragten der Ansicht, dass Merz seine Wähler getäuscht habe. Auffällig zwar: Bei den CDU-Anhängern waren nur 18 Prozent dieser Ansicht. Doch auch der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) warf CDU und CSU „Wortbruch“ vor. Man tue „das Gegenteil dessen, was wir vor der Wahl gesagt haben“, sagte Seehofer. Das war nicht die einzige kritische Stimme aus der Union.
„Whatever it takes“
Grund der Vorwürfe ist das „Whatever it takes“ von Merz, also seine Wende in Sachen Neuverschuldung, die er am 4. März verkündete, gut eine Woche nach der Bundestagswahl. Alle Ausgaben für die Verteidigung, die oberhalb von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen, sollen künftig von der Schuldengrenze ausgenommen werden. Zur Ankurbelung der Wirtschaft will Merz 500 Milliarden Euro an neuen Krediten aufnehmen, um das Geld über zwölf Jahre in die Infrastruktur zu investieren. 100 Milliarden Euro davon sollen in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) gehen, mit dem Ziel, die Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 zu erreichen. Zudem soll die Schuldenbremse der Länder gelockert werden.

Das sind die Punkte, auf die sich Union und SPD mit den Grünen geeinigt haben. An diesem Dienstag soll der Bundestag die entsprechenden Grundgesetzänderungen beschließen, am Freitag der Bundesrat folgen. Am kommenden Dienstag dann konstituiert sich der neue Bundestag – zum spätestmöglichen Termin.
Zum Lügenbaron abstempeln
Die, die den CDU-Vorsitzenden nun zum Lügenbaron abstempeln wollen, berufen sich auf frühere Aussagen von Merz zur Schuldenbremse und zum Schuldenmachen. So hatte er beispielsweise noch am 9. Februar im TV-Duell mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) darauf verwiesen, dass man auch mit der bestehenden Schuldenbremse noch einmal 50 Milliarden Euro zusätzliche Schulden für das Jahr 2024 und 50 weitere Milliarden Euro Schulden für den Bundeshaushalt 2025 machen könnte. Und er hatte gefragt: „Wie weit wollen wir das eigentlich noch treiben mit unserer Verschuldung?“
Man habe doch auch eine Verpflichtung gegenüber den Kindern, die das irgendwann mal zurückzahlen müssten, so Merz. „Und deswegen sage ich grundsätzlich, wissend, dass das nicht immer einfach ist, aber grundsätzlich sollten wir irgendwann mal mit dem Geld auskommen, das wir an Steuern in Deutschland einnehmen – und das sind mittlerweile fast 1000 Milliarden Euro pro Jahr.“
In nahe liegender Zukunft ausgeschlossen
Ähnliche Aussagen von Merz gibt es viele: „Ich schließe eine Zustimmung meiner Fraktion zu einer Aufweichung der Schuldenbremse des Grundgesetzes heute von dieser Stelle aus erneut aus“ (Januar 2024). „Die Schuldenbremse, so wie sie im Grundgesetz angelegt ist, ist richtig“ (Juli 2024). „Jetzt noch kurz vor Toresschluss dieser Koalition das Grundgesetz zu ändern und die Schuldenbremse aufzuheben, das ist immer eine klare Antwort von uns gewesen: Nein, das werden wir nicht machen.“ (November 2024). „Ich will Ihnen mal sagen, warum ich bei der Schuldenbremse so klar bin: Die schützt das Geld und die Steuerzahlungen der jungen Generation“ (Dezember 2024).
Noch am 25. Februar, also zwei Tage nach der Bundestagswahl, sagte Merz: „Es ist in der nahe liegenden Zukunft ausgeschlossen, dass wir die Schuldenbremse reformieren.“ Das sei, „wenn es überhaupt stattfindet, eine ziemlich umfangreiche, schwierige Arbeit, die da zu leisten ist“.
„Dann kann die Antwort eine andere sein“
So zitierte er in der vergangenen Woche im Bundestag das, was er zur Schuldenbremse vor vier Monaten bei einer Veranstaltung der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) gesagt hatte: „Ich bin damals gefragt worden, ob denn das Grundgesetz für unveränderbar erklärt würde. Und meine Antwort war: Nein, nur einige Vorschriften des Grundgesetzes sind unveränderbar. Über alles andere könne man selbstverständlich reden.“
Nichts für die Ewigkeit
Weiter hatte der CDU-Kanzlerkandidat auf dem SZ-Wirtschaftsgipfel zur Schuldenbremse gesagt: „Selbstverständlich kann man das reformieren. Die Frage ist: Wozu? Mit welchem Zweck? Was ist das Ergebnis einer solchen Reform? Ist das Ergebnis, dass wir noch mehr Geld ausgeben für Konsum und Sozialpolitik? Dann ist die Antwort Nein. Ist es wichtig für Investitionen, ist es wichtig für Fortschritt, ist es wichtig für die Lebensgrundlage unserer Kinder, dann kann die Antwort eine andere sein.“
In einem Interview in der „Bild am Sonntag“ betonte Merz unlängst zudem, dass er schon vor der Wahl gesagt habe, man könne über eine Änderung des Grundgesetzes sprechen: „Ich habe das immer mal wieder – auch intern zu meinen Kollegen – gesagt: Lasst uns mal nicht zu sehr darauf fixiert sein, dass wir sie nie und nimmer ändern. In unserem Leben ist nichts für die Ewigkeit.“
Nicht ganz so eindeutig
Fest steht also, dass Merz mit etlichen Aussagen in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckte, seine Haltung zur Schuldenbremse sei eindeutig und unverrückbar. Zumindest für aufmerksame Beobachter wäre aber schon vor der Wahl erkennbar gewesen, dass die Sache doch nicht ganz so eindeutig ist.
So fehlt bei manchen Zitaten, die Merz nun vorgehalten werden, der Zusammenhang. Richtig ist, dass er im November im Gespräch mit dem Deutschlandfunk eine Grundgesetzänderung kurz vor Toresschluss der Ampel ablehnte. Merz zeigte sich aber offener für die Zeit nach der Wahl im Februar. Die Nachricht des Senders lautete daher richtigerweise: „CDU-Chef Merz lehnt Änderungen an Schuldenbremse vor Neuwahl ab.“
Es ist nun das Projekt Merz
Für Merz macht das natürlich einen großen Unterschied. Hätte er einer Änderung vor der Bundestagswahl zugestimmt, wäre er der Regierung Scholz entgegengekommen und hätte ihr aus dem Haushaltsdilemma herausgeholfen. Er hätte, wie jetzt die Grünen, vielleicht Bedingungen aushandeln können, aber darüber hinaus hätte er kaum einen Einfluss darauf gehabt, was mit den zusätzlichen Milliarden geschieht, ob die Koalition bei anderen Haushaltsposten spart und ob Strukturreformen beschlossen werden.

Das ist nun anders. Zwar musste er auf die Grünen zugehen, und ohne die Infrastrukturmilliarden hätte auch die SPD nicht mitgemacht, aber es ist nun das Projekt von Merz, nicht das von Scholz oder von Habeck, der Merz und der Union denn auch vorwarf, „jede Reformdebatte verhindert und lächerlich gemacht“ und den Wahlkampf auf eine Lüge gebaut zu haben. Merz muss freilich darauf vertrauen, dass die Sozialdemokraten in den Koalitionsgesprächen Bereitschaft zu Einsparungen und Strukturreformen zeigen, auch wenn die Grundgesetzänderung schon vorher unter Dach und Fach sein dürfte.
Eklat in Washington
Merz hat also eine Wende vollzogen. Er selbst begründet das mit der Sicherheitslage in Europa, die in jeder Hinsicht besorgniserregend sei, und mit den immer größer werdenden wirtschaftlichen Herausforderungen im Land.
Nur wenige Tage bevor Merz seinen Schuldenplan bekannt machte, war es zum Eklat in Washington gekommen, als US-Präsident Donald Trump den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aus dem Weißen Haus warf. Diese politische Eskalation im Oval Office wird vielfach als Erklärung für die Merz’sche Wendung herangezogen. Nach dem Motto: Was interessiert mich das Geschwätz von gestern, wenn nun so etwas passiert.

Allerdings änderte der Rauswurf in Washington nichts an den Bedingungen. Trump war auch vorher schon Trump, die Sicherheitslage auch davor besorgniserregend und die wirtschaftlichen Herausforderungen im Land ebenfalls schon groß. All das war Merz auch vor dem Eklat bewusst. So sagte er kurz nach der Wahl in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Blick auf Trump, man müsse lernen, mit der neuen Situation umzugehen: „Es könnte auch ein für uns sehr schlechtes Szenario mit gewaltigen Herausforderungen eintreten: dass wir nämlich die Verteidigung Europas selbst in die Hand nehmen müssen. Können wir das heute? Die Antwort ist Nein. Wollen und müssen wir das bald schaffen? Eindeutig ja.“
Über die Schuldenbremse sagte er in dem Interview übrigens: „Ich habe eine Reform der Schuldenbremse ja auch in der Vergangenheit nicht ausgeschlossen, aber das will schon sorgfältig beraten werden.“
„Oder alle lernen Russisch“
Warum also dulden laut Merz weitreichende Entscheidungen und damit Änderungen des Grundgesetzes nun keinen Aufschub mehr, duldeten ihn aber noch in den vergangenen Monaten? Fest steht: Der Eklat im Weißen Haus machte noch einmal sehr klar, dass Europa sich nicht auf Amerika verlassen kann und auf eigenen Beinen stehen muss. Wie Merz’ Stellvertreter im Fraktionsvorsitz Jens Spahn es in der F.A.Z. ausdrückte: „Was nützt die schönste Schuldenbremse, wenn der Russe vor der Tür steht? Wir Europäer haben doch zugespitzt gesagt nur zwei Möglichkeiten: Wir können uns verteidigen lernen oder alle Russisch lernen.“ Auch wenn die Demütigung von Selenskyj womöglich nichts an den schon vorhandenen Realitäten änderte, so hatte sie doch eine Symbolkraft.
Ohne den Rauswurf im Weißen Haus wäre es Merz wohl deutlich schwerer gefallen, seinen Plan zu diesem Zeitpunkt überzeugend zu begründen. Der Vorwurf der Lüge und der Vorwurf, seinen Plan nur jetzt in die Tat umzusetzen, weil künftig die Zweidrittelmehrheit im Bundestag fehlt, wären ihm umso heftiger entgegengeschlagen. Schließlich hatte Merz schon am Tag nach der Bundestagswahl auf die Frage, was die Sperrminorität von AfD und der Linkspartei mit Blick auf ein Sondervermögen bedeute, gesagt: „Der 20. Deutsche Bundestag ist im Amt bis einschließlich 24.3. Das heißt also, wir haben jetzt noch vier Wochen Zeit, darüber nachzudenken.“ Nutzten Linkspartei und AfD danach gemeinsam ihre Möglichkeiten, „dann haben wir keine Mehrheiten mehr, um das Grundgesetz zu ändern“.
Das klang tatsächlich nach innenpolitischen Erwägungen, so richtig sie auch sein mögen, aber nicht nach Zwängen der Weltpolitik. Nun aber kann Merz betonen, dass sich die Lage noch einmal dramatisch zugespitzt habe und es Ereignisse in der Welt gegeben habe, die die ganze Dramatik der sicherheitspolitischen Situation gezeigt hätten: „Deshalb mussten wir schnell handeln.“
Laut dem ARD-Deutschlandtrend von Infratest dimap sieht das eine Mehrheit in Deutschland auch so. 59 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus, dass Deutschland deutlich mehr Schulden machen soll. Im Trendbarometer von Forsa hielten sogar 71 Prozent eine Lockerung der Schuldenbremse für Verteidigungsinvestitionen für richtig und 76 Prozent das 500-Milliarden-Paket für die Infrastruktur. Merz’ Handeln trifft also auf große Zustimmung – ob Wortbruch oder nicht.