Legoland, Welpen, Minicupcakes, Staatsschulden – es gibt so viele Dinge, die einfach dadurch besser werden, dass sie klitzeklein sind. Dazu zählen nun auch Brokkoli, Rotkohl und Mais: Klitzeklein heißen die Pflanzen Microgreens und sind die neuen Superfoods. Eigentlich sind es supernormale Foods, nur dass sie eben schon nach wenigen Tagen geerntet werden, wenn sie noch aussehen wie Kresse. Jung ist das Gemüse wohl gesünder, das haben Menschen und Brokkoli also gemein. Die kleinen Pflänzchen haben sich drum zum Ernährungstrend gemausert. Früher gab es nur Kresse, heute kann man in Microgreens-Onlineshops alle möglichen Samen kaufen, von Amaranth bis Zwiebel.
Das könnte als Beschäftigungstherapie für Hobbygärtner taugen, die von der Rückkehr des Winters in ihrer Wohnung eingepfercht wurden. Doch bevor man sich das Starterpaket für 95 Euro ordert, gilt es ein paar Fragen zu klären, vor allem für jene, die schon beim Anblick von Sprossen vor Panik Nasenbluten kriegen – die live beim EHEC-Skandal von 2011 dabei waren, als verseuchte Sprossen Tausende Menschen mit tödlichen Durchfallkeimen infizierten. Und jüngst meldet die europäische Seuchenbehörde mehr als 500 Salmonelleninfektionen seit 2023 – wegen Sprossen. Sind die Keimlinge also gesund – oder potentielle Killer? Und sind Sprossen und Microgreens dasselbe?
In beiden Fällen weicht man Samen zunächst ein, was sie auf mysteriöse Weise zum Leben erweckt. Sprossen wachsen im Einmachglas oder auf einem Sieb, schon nach drei Tagen kann man sie verspeisen. Microgreens sind die Teenager der Pflanzenwelt. Sie werden auf Erde oder Substrat, zum Beispiel Kokosfasern, gezogen und nach sieben bis 21 Tagen geerntet.

Beide sind tatsächlich besonders gesund. Durch die Keimvorgänge enthalten sie viele Nährstoffe, etwa Vitamin C, Vitamin A und Mineralstoffe wie Eisen und Magnesium. Und das, je nach Studie, bis zu vierzigmal mehr als adultes Gemüse. Diese verheißungsvolle Angabe bezieht sich aber auf das Gewicht, was den Hype relativiert. Um den vierzigfachen Effekt zu genießen, müsste man statt eines Brokkolis ein halbes Kilo Sprossen verspeisen. Das klingt so unappetitlich, dass die Warnung der AOK hinfällig ist, man könne „auf keinen Fall“ Gemüse durch Microgreens ersetzen. Ihre Sorge: Ballaststoffmangel! Microgreens enthalten nämlich wenige Pflanzenfasern.
Die Sorge der Autorin dieser Zeilen liegt woanders: Wollte man ein halbes Kilogramm Microgreens daheim züchten, droht enormer Stress! Das Anziehen ist so nervig, dass es die paar Lebensmonate, welche das mickrige Gemüse einem schenken mag, ausgleicht: Die erste Runde Samen verweigerte strikt die Keimung, auch nach Tagen des liebevollen und vorschriftsgemäßen Einsprühens mit Wasser. In der zweiten Runde vertrockneten die Keimlinge prompt, kaum dass sie 38 Stunden unbesprüht blieben. Der dritte Versuch hat nach vielversprechendem Start das Wachstum eingestellt und schimmelt nun, gut besprüht, auf der teuren, aber ästhetisch wenig ansprechenden Anzuchtschale vor sich hin. Und das alles nur, um 89 Cent zu sparen, die Rettichkresse im Supermarkt kostet.
Zudem nimmt einem das Selbstanziehen die Angst vor blutigem Durchfall nur bedingt. Keime können schon in den Samen stecken und vermehren sich fröhlich in Sprossen, weil die es auch gern feucht und warm mögen. Das Niedersächsische Landesamt für Lebensmittelsicherheit rät allen mit geschwächtem Immunsystem, gar keine Sprossen zu essen, weil sie in Proben immer mal wieder Krankheitserreger gefunden haben. Also: Hört auf die AOK, keine Altersdiskriminierung im Gemüseregal – esst (auch) erwachsenen Brokkoli!