Masern sind eine weltweit verbreitete Infektionskrankheit. Da es einen guten Impfstoff gibt, bemühen sich die Länder aber, die Viren auszurotten. Den USA war das bereits gelungen – nun gibt es einen sehr großen Ausbruch. Der Internist und Virenexperte Leif Erik Sander von der Berliner Charité erklärt, welchen Fehler die USA im Umgang mit dem Virus gemacht haben und was Europa davon lernen kann.
Herr Sander, in den USA gibt es gerade einen Masernausbruch mit mehr als 300 Infizierten. Muss uns das in Europa Sorgen machen?
Die Masern waren offiziell seit dem Jahr 2000 in den USA ausgerottet, seither gab es allerdings schon einige Ausbrüche. Aber es ist natürlich beunruhigend, wenn sich nun wieder ein größerer Ausbruch andeutet, der in Texas seinen Ausgang nahm und sich jetzt bereits auf den Nachbarstaat New Mexiko und 14 weitere Bundesstaaten ausgebreitet hat.
300 Fälle klingen nun aber auch nicht nach besonders viel.
In Bezug auf die gesamte Bevölkerung der USA sicherlich nicht. Aber im gesamten Jahr 2024 gab es in den USA rund 280 Fälle. Und nun haben wir im März bereits mehr. Zudem ist ein Kind an Masern gestorben, der letzte Maserntodesfall eines Kindes trat 2003 auf. Das zeigt, dass sich die Masern wieder ausbreiten.
Masern kann man sehr, sehr leicht eintragen. Die Masern sind global in vielen Ländern der Welt verbreitet, auch in Europa sind sie ja weiterhin endemisch. In Texas gelangte es in eine Gemeinschaft von Mennoniten, die Impfungen traditionell ablehnen. Allerdings gibt es auch in anderen Bevölkerungsgruppen Impflücken. Das Geschehen in den USA sollte uns daran erinnern, wie gefährlich Masern sind.

Masernviren sind extrem ansteckend.
Ja, es gibt beispielsweise sehr eindrückliche Fallbeschreibungen davon, an wie viele Menschen ein infizierter Reisender das Virus an einem Flughafen weitergegeben hat. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den in der Pandemie breit diskutierten R0-Wert. Es ist ein theoretischer Wert, der besagt, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt anstecken kann, ohne Schutzmaßnahmen und Impfung. Bei Masern liegt dieser Wert bei 12 bis 18, bei Sars-CoV-2 lag er bei unter 5. 95 Prozent der ungeimpften Menschen, die dem Masernvirus ausgesetzt sind, infizieren sich. Das erklärt auch die schnell steigenden Fallzahlen in den USA.
Müssen wir uns nun Sorgen, dass Reisende das Virus zu uns nach Deutschland bringen?
Nein, da müssen wir nicht auf Importe aus den USA warten: Das Virus kursiert ja diesseits des Atlantiks. In Europa hatten wir im vergangenen Jahr und auch in den ersten Monaten dieses Jahres deutlich mehr Masernfälle als in den USA. Vor allem in Deutschland, Österreich, aber auch Italien, Frankreich und Belgien gibt es viele gemeldete Infektionen.
In Deutschland und Österreich ist die Impfskepsis traditionell vergleichsweise hoch. In der Pandemie sind zudem Impfungen bei Kleinkindern ausgefallen. Und die zum Teil emotionalen Diskussionen um etwaige Nebenwirkungen der Covid-Impfung haben die Skepsis und Abwehrhaltung gegenüber allen Impfungen bei einigen Menschen leider erhöht.
Gerade gegen Masernimpfungen haben viele Menschen Vorbehalte. Liegt das noch immer an dieser fehlerhaften Studie von Andrew Wakefield aus dem Jahr 1998?
Warum Eltern ihre Kinder nicht gegen Masern impfen lassen, ist sehr individuell. Sicherlich wollen auch sie nur das Beste für ihr Kind. Die Dreifachimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR-Impfung) ist aber tatsächlich vor allem durch die fehlerhaften Arbeiten des britischen Arztes Andrew Wakefield in Verruf geraten. Er hatte den Anstieg von Autismusdiagnosen mit der Einführung dieser Impfung in Zusammenhang gebracht. Tatsächlich steigen die Diagnosen, allerdings nicht infolge der Impfung. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig und liegen auch in der erhöhten Sensibilisierung von Ärzten und Eltern für diese neurologische Entwicklungsstörung.
Die Wakefield-Studie wurde damals im renommierten Fachblatt „The Lancet“ publiziert.
Ja, und sie hat natürlich viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber schon damals war das Nebenwirkungsprofil der Masernimpfung gut dokumentiert. Und der Zusammenhang zwischen der Impfung und Autismus konnte seither in keiner weiteren Studie belegt werden, obwohl viele Wissenschaftler das untersucht haben. Die Wakefield-Studie hatte schwerwiegende methodische Fehler – und wurde deshalb zurückgezogen. Um es klar zu sagen: Autismus ist keine Folge der Masernimpfung. Diese Impfung ist von ihrem Nebenwirkungsprofil her sogar eine besonders sichere.
Es kann, wie bei allen Impfungen, zu Rötungen an der Einstichstelle kommen. Es kann nach der Impfung zu Fieber kommen, es sind in seltenen Fällen auch Fieberkrämpfe beschrieben. Aber all das lässt sich gut behandeln. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass durch die Masernimpfung pro Jahr zwei Millionen Todesfälle verhindert werden. Hingegen gibt es keine dokumentierten Todesfälle durch die MMR-Impfung. Nur immungeschwächte Personen und Frauen in der Schwangerschaft dürfen die Impfung nicht bekommen.
Wie gefährlich ist eine Maserninfektion?
In dem aktuellen Ausbruch in den USA ist ein sechsjähriges Mädchen gestorben, ein weiterer Todesfall wird noch untersucht. Generell sagt man: Eine von 1000 infizierten Personen stirbt. Masern sind nicht nur sehr ansteckend, sondern auch sehr gefährlich.
Das liegt auch daran, dass Masern nicht, wie viele denken, nur Fieber und Ausschlag machen, richtig?
Viele Kinder werden schwer krank, im aktuellen Ausbruch in den USA sind es etwa 20 Prozent, die im Krankenhaus mit Atemschwierigkeiten oder einer Lungenentzündung behandelt werden müssen. Je jünger die Kinder, umso gefährlicher ist es für sie. Es kann auch zu neurologischen Spätkomplikationen wie einer Entzündung des Gehirns kommen.
Erst vor wenigen Jahren wurde bekannt, dass das Virus auch noch andere Spätfolgen hat: Es führt dazu, dass die genesenen Patienten eine Zeit lang anfälliger für andere Erkrankungen sind. Können Sie das erklären?
Masernviren befallen die zentralen Lymphorgane, in denen unser Immungedächtnis beheimatet ist. Dort sind auch die Abwehrzellen gespeichert, die bei anderen Infektionen aktiviert werden. Masernviren können sie abtöten, und somit sind die Patienten nach der Infektion anfälliger für viele andere Infektionen mit Viren und Bakterien. Das erworbene Schutzgedächtnis des Immunsystems wird teilweise gelöscht, man spricht auch von einer Immunamnesie. Der Schutz wird dann durch erneute Infektionen oder Impfungen wieder aufgebaut.
Wie gut schützt die Impfung?
Die Impfung ist sehr effektiv. Nach zwei Impfungen liegt der Impfschutz bei 97 Prozent und sollte ein Leben lang andauern. Die Impfung schützt übrigens auch vor anderen Infektionen, wie Studien in Afrika gezeigt haben: Die Gesamtsterblichkeit an Infektionen, nicht nur an Masern, sank in den Gemeinden, in denen gegen Masern geimpft wurde. Das könnte auch an der Verhinderung der Komplikationen durch Masern liegen.
Das Virus ist hoch ansteckend, eine Erkrankung kann sehr schwerwiegende Folgen haben – und der Impfstoff ist sicher. Besteht die Hoffnung, dass die USA den aktuellen Masernausbruch bald in den Griff bekommen?
Ich bin da ehrlich gesagt etwas skeptisch. Zwar sind über 93 Prozent der Kinder im Alter von unter fünf Jahren geimpft, allerdings gibt es regionale Unterschiede, und die Zahlen gehen seit Jahren leicht zurück. Auch werden derzeit eher impfskeptische Narrative geschürt. Somit kann es sein, dass die Infektionen weiter ansteigen.
Kann Europa die Masern loswerden?
In Europa gibt es immer häufiger Masernausbrüche, sie sind zum Teil auch sehr groß. Gerade hat die WHO Zahlen veröffentlicht, wonach im Jahr 2024 127.350 Masernfälle in der Europäischen Region gemeldet wurden – doppelt so viele wie im Jahr 2023. Es ist die höchste Zahl seit 1997. In Deutschland gibt es seit ziemlich genau fünf Jahren die Impfpflicht für Kinder, die in die Kita gehen wollen. Das Ziel ist eine Impfrate von über 95 Prozent in der Bevölkerung. Das würde Ausbrüche verhindern. Die Quote der im Alter von 15 Monaten doppelt geimpften Kinder lag 2023 allerdings nur bei 77 Prozent. Auch im Alter von fünf Jahren waren 2023 erst 92 Prozent der Kinder vollständig mit MMR geimpft. Diese Abweichungen können bei Masern aber schon zu Ausbrüchen führen.
Der amerikanische Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. lässt trotz des radikalen Einsparprogramms auch bei den amerikanischen Seuchenkontrollbehörden ausgerechnet diesen längst widerlegten Wakefield-Autismus-Mythos erneut untersuchen. Warum?
Er ist schon lange als Impfkritiker bekannt, und ich denke, diese Untersuchungen werden weitere Zweifel säen. Wenn Eltern hören, dass staatliche Stellen eine solche Untersuchung durchführen, dann werden sie eher skeptisch gegenüber der Impfung. Denn Eltern wollen selbstverständlich keine Risiken für ihre Kinder. Grundsätzlich ist es immer gut, wenn Forscher Zusammenhänge wissenschaftlich untermauern. Aber diese Studie halte ich für überflüssig, und sie erscheint mir eher politisch motiviert. Und wir wissen auch nicht, wie transparent und neutral diese neue Studie aufgelegt wird – jetzt, wo viele Daten seitens der Seuchenkontrollbehörden nicht mehr transparent zur Verfügung gestellt werden. Vielleicht wird auch die Wissenschaft selbst, nicht nur die Masernimpfung, in Misskredit gezogen. Ich finde diese Haltung des „Ich stelle nur Fragen“ gefährlich, wenn es dem Fragesteller eigentlich darum geht, Gewissheiten und klar belegte Evidenzen infrage zu stellen und Unsicherheiten zu schüren. Die Masernimpfung zählt zu den sichersten und effektivsten Impfungen überhaupt. Jüngsten Berechnungen zufolge hat die MMR-Impfung seit ihrer Einführung bereits 94 Millionen Menschenleben gerettet.