In den Verhandlungen mit Washington will Wladimir Putin unter anderem erreichen, dass seine bisherigen Annexionen ukrainischer Gebiete anerkannt werden. Diese kontrolliert Russlands Präsident zwar trotz opferreicher militärischer Bemühungen nur zum Teil. Doch dort, wo seine Leute das Sagen haben, treibt er die sogenannte Säuberung in seinem Sinne voran: Er zwingt Ukrainer, die noch in den besetzten und völkerrechtswidrig von Moskau beanspruchten Gebieten leben, ohne die russische Staatsangehörigkeit angenommen zu haben, formal zu Russen zu werden. Andernfalls sollen sie ihre Heimat verlieren.
Aus einem Erlass, den der Kreml am Donnerstag veröffentlichte, folgt, dass Ukrainer, die sich ohne eine von den Invasoren anerkannte Rechtsgrundlage „in der Russischen Föderation“ aufhalten, „verpflichtet sind“, diese „selbständig zu verlassen“ oder „ihren Rechtsstatus“ bis zum 10. September dieses Jahres „zu regulieren“. Betroffen davon sind insbesondere Ukrainer ohne russischen Aufenthaltstitel, die in den besetzten Teilen der ostukrainischen Gebiete von Donezk und Luhansk sowie der südukrainischen Gebiete von Cherson und Saporischschja leben. Diese vier Regionen hat Moskau im Herbst 2022 angeschlossen.

Es mag zudem noch Ukrainer auf der schon vor elf Jahren annektieren Halbinsel Krim geben, die der neue Erlass betrifft. Putin erhöht den Druck auf Bewohner der vier 2022 annektierten Gebiete ohne russische Staatsangehörigkeit zudem, indem er sie durch den neuen Erlass verpflichtet, sich schon bis zum 10. Juni medizinischen Tests auf Infektionskrankheiten wie HIV und Rauschgiftkonsum zu unterziehen.
Masseneinbürgerungen schon seit 2019
Ausnahmslos allen Ukrainern hatte Putin schon 2022 die Möglichkeit gegeben, in einem „vereinfachten Verfahren“ die russische Staatsangehörigkeit zu erhalten. Das spiegelt seine Überzeugung, bei Ukrainern handele es sich um „kleine“ Russen, die „befreit“ und umerzogen werden müssten. Schon seit 2019 bürgert Russland Bewohner der 2014 errichteten prorussischen „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk zu Hunderttausenden ein. Putins entsprechende Erlasse wurden seinerzeit nicht nur in Moskau als eines von mehreren Signalen der Härte an den damals neu gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gewertet, der den Konflikt in direkten Verhandlungen beilegen wollte. Aber solche lehnte der russische Präsident schon damals ab.
Zugleich bereitete die Masseneinbürgerung der Donbass-Bewohner den Großangriff von 2022 vor, nach einem aus Georgien bekannten Muster. Dort hatte Russland zunächst zahlreiche Pässe an Bewohner der von Tiflis abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben und den Einmarsch im August 2008 dann mit einer Pflicht erklärt, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen“. Im Mai 2022 weitete Putin die Einbürgerungsregelung dann auf die Bewohner der Gebiete Cherson und Saporischschja aus, ehe sie Moskau im Herbst jenes Jahres annektierte.
Repressionen gegen Ukrainer sind gut dokumentiert
Welchen Repressionen die geschätzt sechs Millionen Ukrainer in den besetzten Gebieten seit 2014 ausgesetzt sind, ist gut dokumentiert. Vor allem die Krim, deren Annexion sich in dieser Woche jährte, dient als Blaupause für russische Repressionen gegen Ukrainer. Unter anderem hat sie die renommierte ukrainische Journalistin Natalya Gumenyuk dokumentiert, ihre Reportagen von der besetzten Krim sind schon 2020 auf Deutsch erschienen.
In einem kürzlich erschienen Beitrag für die Zeitschrift „Foreign Affairs“ führt sie aus, wie Moskau die Krimbewohner unter Druck gesetzt hat, damit sie die russische Staatsbürgerschaft annehmen: begrenzter Zugang zu medizinischer Hilfe und Arbeit, Zusatzsteuern, Enteignungen. Festnahmen aus fadenscheinigen Gründen sind an der Tagesordnung. Gleichzeitig wurde die Halbinsel zu einer Militärbasis ausgebaut und die Bildung zunehmend kontrolliert. „Jegliche Hinweise auf die ukrainische Vergangenheit wurden getilgt.“
Die sogenannte Junge Armee sollte die Jugend indoktrinieren und auf den Militärdienst vorbereiten. Mittlerweile dient sie auch der Umerziehung von nach Russland entführten ukrainischen Kindern. Mit der Ausweitung des Kriegs 2022 wurden Ukrainer in den zuvor annektierten Gebieten mobilisiert – ein Verstoß gegen das Völkerrecht. In den danach von Russland eroberten Gebieten kamen die auf der Krim erprobten Werkzeuge wieder zum Einsatz. „Wenn Sie ein Ukrainer unter Besatzung sind, können Sie sich schon glücklich schätzen, wenn Sie nicht verhaftet werden oder Ihr Eigentum enteignet wird“, fasst Gumenyuk die Lage zusammen.
Foltergefängnisse, Vergewaltigungen und Erschießungen von Zivilisten
Es gibt zudem etliche Zeugen, die den Horror in den russischen Foltergefängnissen belegen. Hinzu kommen Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen und Erschießungen von Zivilisten. Von ukrainischen Medien abgeschnitten, sind die Menschen der russischen Propaganda ausgeliefert. Für Putins Ziel, die Vernichtung der ukrainischen Nation, greift der Kreml auf eine weitere bekannte Methode der Sowjetzeit zurück: den Zuzug Zehntausender Russen.
Angaben der ukrainischen Regierung zufolge sind zwischen 2014 und 2022 gut 800.000 Russen auf die Krim gezogen; sie machen mittlerweile mehr als ein Drittel der Bevölkerung aus. Ähnliches ist aus den besetzten Städten im Donbass zu hören. In der fast komplett zerstörten Hafenstadt Mariupol waren ukrainischen Angaben zufolge nach der Eroberung durch russische Truppen etwa 90.000 Menschen verblieben. Mittlerweile gibt Moskau die Einwohnerzahl mit 240.000 an und bewirbt die Stadt heftig.
Nach elf Jahren Krieg blicken viele Ukrainer skeptisch auf die Verhandlungen zwischen Trump und Putin. „Lieber kein Deal als ein schlechter Deal“, zitiert sie Gumenyuk. Viele sehen in Russlands Kriegsverbrechen und Repressionen in den besetzten Gebieten nicht nur brutale Exzesse Einzelner, sondern einen zentralen Teil der russischen Kriegsstrategie. Nicht zuletzt gab Russland in den Jahren seit dem Kriegsbeginn in der Ostukraine schon einmal vor zu verhandeln – und bereitete gleichzeitig den Großangriff vor.