Der 24. März ist nicht der schlimmste Tag im Jahr für Annika Sondenheimer. Die Trauer kommt zu anderen Gelegenheiten. „Meine Kinder und ich haben besondere Rituale für Patricks Geburtstag, auch für Weihnachten, aber nicht für den Todestag meines Mannes“, sagt Sondenheimer. „Bei mir kommt da vor allem diese Unsicherheit von damals zurück, diese Ungewissheit.“
Am 24. März vor zehn Jahren steuerte der 27 Jahre alte Ko-Pilot Andreas Lubitz einen Airbus 320 der damaligen Lufthansa-Tochter Germanwings in selbstmörderischer Absicht gegen das Bergmassiv Trois-Évêchés in den französischen Alpen.
Kurz nach dem Start in Barcelona hatte Lubitz Flugkapitän Patrick Sondenheimer aus dem Cockpit ausgesperrt. Als Sondenheimer von einem kurzen Toilettengang zurückkehrte, forderte er Lubitz über die Sprechanlage auf, die Tür zu öffnen. Doch der Ko-Pilot reagierte nicht. Immer energischer schlug Sondenheimer gegen die Tür, rief. Zuletzt versuchte er, sich mit einer Axt Zutritt zu verschaffen. Vergebens.
Hoffen und Bangen
Der 24. März 2015 war ein Dienstag. Im nordrhein-westfälischen Landtag am Düsseldorfer Rheinufer waren die Fraktionen wie jede Woche zusammengekommen. Im Saal E3 D01 jene der SPD, für die Juristin Sondenheimer damals als Referentin arbeitete. Die Sitzung lief schon eine Weile, als Ministerpräsidentin Hannelore Kraft eine Mitteilung machte. Gerade laufe über den Ticker, dass ein Flugzeug auf dem Weg nach Düsseldorf in den französischen Alpen vom Radar verschwunden sei.
„Mir war gleich klar, dass es sich wohl um die Maschine meines Mannes handelt. Rein rational, weil man von Barcelona kommend auf dieser Route unterwegs ist und weil ja auch zeitlich alles passte.“ Annika Sondenheimer erinnert sich an das Hoffen und Bangen. Und dann kam die Nachricht: Eine Hubschrauberbesatzung hat die weiträumig verstreuten Trümmer der Maschine erspäht.

„Germanwings-Flug 9525“ ist die Chiffre für eine der größten Katastrophen in der Geschichte der europäischen Luftfahrt – und für eines der verstörendsten Verbrechen der jüngeren Vergangenheit. Für die Ermittler in Frankreich und Deutschland besteht kein Zweifel, dass Andreas Lubitz, ein junger Mann aus Montabaur in Rheinland-Pfalz, der immer schon Pilot werden wollte und nach seiner Ausbildung in der Lufthansa-Verkehrsfliegerschule in Bremen seit 2013 endlich in seinem Traumberuf arbeiten konnte, die Maschine vorsätzlich und bewusst in das Felsmassiv steuerte, weil er seinem Leben ein Ende setzen und dabei zum Massenmörder werden wollte.
Mit ihm kamen seine fünf Crewkolleginnen und -kollegen und 144 Passagiere um, darunter auch 16 Schüler und zwei Lehrerinnen eines Gymnasiums in Haltern am See, die auf dem Rückflug von einem Austausch an ihrer spanischen Partnerschule waren. Der mittlerweile pensionierte Schulleiter Ulrich Wessel erinnert sich daran, wie er den Eltern und Angehörigen die furchtbare Gewissheit überbringen musste. „Es war der schlimmste Moment in meinem bisherigen Leben.“ Auf dem Schulhof des Gymnasiums steht eine Gedenktafel, die an 18 Absturzopfer erinnert. Der Hausmeister sorgt auch nach zehn Jahren dafür, dass daneben immer eine Kerze brennt.
An den 24. März 2015 erinnert sich auch Bernard Bartolini genau. „Für mich war es der Beginn eines Albtraums.“ Die Maschine stürzte im Gebiet seiner Gemeinde Prads-Haute-Bléone ab, die von den Bergen eingeschlossen ist und deren Häuser entlang der kurvigen Straße wie unbewohnt aussehen.

Seit 1983 stand der gebürtige Korse mit dem grauen Schnurrbart als Bürgermeister der 195-Seelen-Gemeinde vor, die sich auf acht Dörfer in den südlichen Alpen verteilt. Im Sender „Alpes 1“ erzählt der Dreiundsiebzigjährige, wie das Böse in die wilde Bergwelt einbrach. „Wir waren mitten in der Sicherheitszone, wo Ermittler nach den sterblichen Überresten, nach Gegenständen der Passagiere und Wrackteilen suchten.“ Es sei eine große Herausforderung gewesen, mit einer Katastrophe dieses Ausmaßes umzugehen.
„Die Wunde ist nicht verheilt. Ganz und gar nicht“, sagt der frühere Bürgermeister. „Wir sahen das Grauen aus unserer Nähe. Ich kann es immer noch nicht erzählen, so unaussprechlich ist es.“ Er hatte den Bergungsteams und den Ermittlern des französischen Untersuchungs- und Analysebüros für die Sicherheit der zivilen Luftfahrt (BEA) den Weg durch das unwirtliche, schroffe Berggelände bis zur Unglücksstelle gewiesen. Eine Marmorstele zum Gedenken an die Opfer wurde auf der anderen Seite des Berges, in Le Vernet, errichtet, das für Busse besser erreichbar ist.
Bürgermeister Bartolini unterzeichnete im Schnitt fünf bis sechs standesamtliche Dokumente pro Jahr, Hochzeiten eingeschlossen. Das änderte sich schlagartig, als er nach der Katastrophe Todesurkunden für die 149 Opfer ausstellen musste, oftmals in mehreren Fassungen für die Versicherungen. „Ich schlief nicht mehr, ich stellte mir immer wieder vor, wie das Flugzeug vorbeiflog und die Opfer nichts tun konnten.“ Dieses Bild habe ihn jahrelang verfolgt. Den Absturz werde er immer in Erinnerung behalten: „Wir empfangen die Familien das ganze Jahr über, wir öffnen ihnen unsere Herzen und unsere Häuser.“ Und jeden Morgen blicke er etwas bange in den Himmel.
Ein vorsätzlicher Absturz
Die Ermittler des französischen Untersuchungsbüros BEA haben in ihrem 122 Seiten langen Untersuchungsbericht von März 2016 das Szenario eines vorsätzlichen Absturzes des A320 von Germanwings belegt. Demnach hat Ko-Pilot Andreas Lubitz „absichtlich die Anweisungen des Autopiloten verändert, um einen Sinkflug des Flugzeugs bis zur Kollision mit dem Bergrelief herbeizuführen“.
Die Aufzeichnungen des Stimmrekorders deuten darauf hin, dass Lubitz geplant hatte, sich im Cockpit einzuschließen. So forderte er Flugkapitän Patrick Sondenheimer wiederholt auf, er könne nun doch die Toilette aufsuchen. „Du kannst jetzt gehen.“ Der Flugkapitän ließ noch zwei Minuten verstreichen, dann sagte er zu seinem Ko-Piloten: „Du kannst übernehmen.“
Daraufhin ist zu hören, wie die Cockpittür ins Schloss fällt. 29 Sekunden später wurde im Autopilot die Flughöhe von 38.000 Fuß auf 100 Fuß reduziert. Nun begann der rapide Sinkflug wie vor einer Landung. Um 10.34 Uhr erhöhte Lubitz die Fluggeschwindigkeit auf 323 Knoten. Die zuständigen Fluglotsen in Marseille kontaktierten Lubitz mehrere Male, aber erhielten keine Antwort. Ein Mirage-Kampfflugzeug der französischen Flugabwehr stieg auf, versuchte das Cockpit dreimal per Funk zu erreichen.
Doch Lubitz blieb stumm. Derweil zeichnete der Stimmrekorder laute, metallische Geräusche auf, die klingen, als schlage jemand mit einem Gegenstand gegen die gepanzerte Cockpittür, „fünfmal“ heißt es im Bericht. Um 10.37 Uhr ist in der Aufzeichnung eine „entfernte Stimme“ zu vernehmen, die „mehrfach“ darum bittet, die Tür zu öffnen. Kurze Zeit später ertönte der Alarm „Terrain – Pull up – Pull up“. Um 10.40 Uhr schrillt der Alarm „Master Caution“, um 10.41 Uhr „Master Warning“. Um 10.41 Uhr und sechs Sekunden verstummt die Aufzeichnung.
Gravierende gesundheitliche Probleme des Ko-Piloten
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf schloss die Akten im Fall Flug 4U9525 Anfang 2017. Monatelang waren Ermittler der Frage nachgegangen, ob jemand durch Unterlassen, Fehlverhalten oder Verletzung von Dienstvorschriften zu Lubitz’ Wahnsinnstat beigetragen haben könnte. Doch sie fanden „keinen Anlass, strafrechtlich gegen eine lebende Person zu ermitteln“.
Bei der Durchsuchung von Lubitz’ Wohnung hatten Kriminalbeamte zahlreiche Belege für gravierende gesundheitliche Probleme des Ko-Piloten gefunden. Seine Ausbildung bei der Lufthansa hatte er 2008 wegen depressiver Störungen unterbrechen müssen und hatte einem Arzt einer Flugschule offenbart, Selbsttötungsgedanken zu haben. Lubitz wurde mit einem Psychopharmakon behandelt und konnte seine Ausbildung fortsetzen.
Im Februar 2022 stellte auch die Staatsanwaltschaft Marseille ihr Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung ein. Die französischen Untersuchungsrichter kamen zu dem Schluss, dass „die Handlung von Andreas Lubitz nicht vorhersehbar war“. Der Staatsanwalt von Marseille, Brice Robin, sagte, dass Lubitz „41 Ärzte in fünf Jahren“ aufgesucht habe, davon sieben im Monat vor dem Absturz. Er hätte am 24. März nicht fliegen sollen, war eigentlich wegen des Verdachts einer schweren Psychose krankgeschrieben.
In den Monaten vor dem Absturz war Lubitz von der Angst geplagt, zu erblinden und nicht mehr fliegen zu dürfen. All das verheimlichte Lubitz seinem Arbeitgeber. Laboruntersuchungen an seinen sterblichen Überresten ergaben, dass er unter mehreren Antidepressiva und einem Schlafmittel stand.
Mehrere Prozesse
All diese verstörenden Informationen empfanden viele der Angehörigen als Katastrophe nach der Katastrophe. Dass niemand etwas mitbekommen wollte, konnten sie nicht glauben. Jahrelang versuchten einige Angehörige, mutmaßliche Mitverantwortliche für den Tod ihrer Lieben ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Sie führten mehrere Prozesse gegen die Lufthansa. Doch die angerufenen Landgerichte sahen keine Versäumnisse des Konzerns.
Im September 2021 verwarf auch das Oberlandesgericht Hamm Ansprüche gegen das Unternehmen, gab aber den Hinweis, dass die Sachverständigen bei der Pilotenuntersuchung eine hoheitliche Aufgabe wahrnähmen. Daher müsse sich die Haftung gegen das Luftfahrtbundesamt richten.
Der Düsseldorfer Opferanwalt Julius Reiter hofft, dass in Braunschweig nun bald der von 32 Hinterbliebenen angestrengte Prozess gegen das Amt beginnt. „Der Schluss liegt nahe, dass der psychisch erkrankte Ko-Pilot nicht mehr im Cockpit hätte sitzen dürfen und es nicht zum Absturz gekommen wäre, wenn er ordnungs- und pflichtgemäß untersucht worden wäre“, sagt Reiter. Seinen Mandanten gehe es nicht nur um weitere Schadenersatzzahlungen. „Sie hoffen, durch eine gerichtliche Feststellung aller Verantwortungszusammenhänge einen Schlusspunkt finden zu können.“
Eine Dokumentation nährt Spekulationen
Eine weitere Belastung sind für viele Angehörige die Zweifel, die manche beharrlich streuen. Lubitz’ Eltern betreiben eine Internetseite, auf der sie seit Jahren bestreiten, dass ihr Sohn für die Katastrophe verantwortlich war, 2017 veröffentlichten sie ein als Generalabrechnung mit den Ermittlungen der französischen und deutschen Behörden gedachtes Gutachten. Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft wies die Vorwürfe umgehend zurück. Das Ermittlungsverfahren habe „eine klare Verantwortlichkeit von Andreas Lubitz“ belegt.
Zum zehnten Jahrestag produzierte ein privater Fernsehsender gleichwohl eine dreiteilige Dokumentation, in der es um ähnliche Spekulationen geht. Die „alternativen“ Theorien zum Fall Flug 4U9525 kreisen stets um dieselben Erwägungen: Lubitz könnte plötzlich ohnmächtig geworden sein, als er allein im Cockpit war. Der Sinkflug könnte durch einen technischen Defekt eingeleitet worden sein. Die Cockpittüre könnte defekt gewesen sein. Könnte, könnte, könnte.
Annika Sondenheimer hat sich auch diese neueste Dokumentation angeschaut. „Ich kann mir vorstellen, dass solche Beiträge für viele Angehörige eine Zumutung sind, dass Wunden aufgerissen werden.“ Für sie als Juristin sei es wichtig, alle Informationen zu kennen, die im Umlauf sind, und seien sie noch so abwegig. „Wenn ich alle Informationen kenne, habe ich das Gefühl, Herrin der Lage zu sein.“

Am 24. März vor zehn Jahren stand Annika Sondenheimer plötzlich ohne ihren Ehemann da, ihre damals drei und fünf Jahre alten Kinder ohne ihren Vater. „Wir hatten das große Glück, dass wir umgehend sehr viel Unterstützung erfuhren und uns auch zwei professionelle Trauerbegleiter zur Seite standen.“ So viel sei inmitten des Schocks, der Verzweiflung, der Trauer mit einem Mal zu entscheiden und zu bedenken gewesen. „Was kommt auf uns zu bei der Beerdigung? Darf ich vor den Kindern weinen? Ich hatte mich mit dem Thema Trauer und Tod noch gar nicht auseinandergesetzt.“
Für die Hilfe empfindet Annika Sondenheimer große Dankbarkeit. Sie hat sich nicht nur selbst zur Trauerbegleiterin ausbilden lassen, um Menschen beizustehen, die einen Angehörigen verloren haben. Zwei Jahre nach der Katastrophe gründete sie einen Stiftungsfonds. Er trägt den Namen ihres Mannes und vermittelt und finanziert Trauerbegleiter und baut Trauergruppen auf.
Vergangenes Jahr hat Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) die Juristin für ihr Engagement mit dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet. Sondenheimer ist die Ehrung fast etwas unangenehm. „Andere haben sie mehr verdient als ich. Ich habe sie angenommen, um das Instrument der Trauerbegleitung bekannter zu machen.“
An diesem Wochenende ist Annika Sondenheimer mit ihren Kindern in die französischen Alpen aufgebrochen. Am Montag wollen sie wie viele Angehörige in Le Vernet an der Gedenkveranstaltung zum zehnten Jahrestag der Katastrophe teilnehmen. In dem Ort gibt es einen Gedenkstein, in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof sind die sterblichen Überreste beigesetzt, die keinem der Opfer eindeutig zugeordnet werden konnten. Unmittelbar am unwegsamen Absturzort erinnert als zentrales Gedenkelement eine Sonnenkugel an die Opfer. Sie besteht aus 149 vergoldeten Elementen – der Ko-Pilot wurde bewusst nicht berücksichtigt.