Der Todesmarsch aus dem KZ Katzbach vor 80 Jahren

9

Die Schilderungen sind nur schwer zu ertragen, auch 80 Jahre nach dem Verbrechen. Der Überlebende Andrzej Korczak Branecki berichtet davon, nachzulesen und im Originalton zu hören in der Gedenk- und Bildungsstätte in den Frankfurter Adlerwerken. Er erzählt von den Grausamkeiten im sogenannten KZ Katzbach und vom Todesmarsch, auf den die bis dahin überlebenden und noch gehfähigen Zwangsarbeiter kurz vor Kriegsende geschickt wurden. Die Route führte von den Frankfurter Adlerwerken durch das Kinzigtal bis ins osthessische Hünfeld.

Branecki schildert, wie er auf dem Weg immer schwächer wird, wie er verzweifelt vor Durst versucht, Wasser aus einem Bach zu schöpfen, und von den SS-Männern deshalb zusammengeschlagen wird. Die Männer hätten sich untergehakt und so auch einen, dem die Beine versagten, eine Weile mitgetragen. „Wir haben ihn gezogen und am Ende sagte er: ‚Lasst mich. Ich werde mich jetzt ausruhen.‘“ Ein anderer habe die Decke, in die sich die Gefangenen eingewickelt hatten, abgelegt. Ein SS-Mann habe ihm in den Kopf geschossen, als ob er eine Wassermelone wäre. „Der Kopf dieses Jungen ist auch so zerplatzt.“

Zygmunt Świstaks Zeichnungen sind die einzigen bildlichen Zeugnisse des Terrors in den Adlerwerken, Fotos sind nicht überliefert.
Zygmunt Świstaks Zeichnungen sind die einzigen bildlichen Zeugnisse des Terrors in den Adlerwerken, Fotos sind nicht überliefert.Zygmunt Swistak

Andrzej Branecki wurde 1930 in Warschau geboren. Zum Zeitpunkt des Todesmarschs war er 15 Jahre alt und hatte die Gefangenschaft in mehreren deutschen Konzentrationslagern überlebt. Wie viele der Zwangsarbeiter im KZ Katzbach, einem Außenlager des KZ Natz­­weiler, war er 1944 während des Warschauer Aufstands verhaftet worden. Zwei Monate wurde er in den Adlerwerken, einer Fabrik im Frankfurter Gallusviertel, für die Rüstungsindustrie des nationalsozialistischen Regimes ausgebeutet. Nach seiner Erinnerung war Frankfurt der schlimmste Ort, an dem er in seinem Leben gewesen ist.

Nur wenige überlebten das Grauen

Nur wenige überlebten das Grauen in den Adlerwerken und den Todesmarsch, nur wenige konnten so wie Branecki davon berichten. Zygmunt Świstak gehörte auch zu den Zeitzeugen. Er wurde 1924 in Działdowo nahe der deutsch-polnischen Grenze geboren. Als die Wehrmacht einmarschierte, war er 15 Jahre alt. Er tauchte unter, schloss sich dem Widerstand an und wurde im Warschauer Aufstand festgenommen. Die Deutschen verschleppten ihn, seinen Vater, seinen Bruder und seinen besten Freund nach Frankfurt in das KZ Katzbach.

In den Adlerwerken wurde sein Bruder von der SS erschlagen, sein Vater erschossen, und auch sein Freund überlebte das KZ nicht. Er selbst kam nach einem Arbeitsunfall nach Dachau und wurde Ende April 1945 von amerikanischen Truppen gerettet. Als er aus dem Konzentrationslager kam, sei er ein anderer Mensch gewesen, sagte er später. „Nicht nur weil ich meinen Bruder und meinen Vater verloren hatte. Ich wusste, wie sie gestorben waren, wie sie gelitten hatten.“

„Auf meinen Knochen war nichts, nicht einmal Haut“

Stimmen der Zeitzeugen: In den früheren Adlerwerken können Besucher die Überlebenden hören.
Stimmen der Zeitzeugen: In den früheren Adlerwerken können Besucher die Überlebenden hören.Maximilian von Lachner

Bei der Befreiung sei er ein lebendes Skelett gewesen. „Auf meinen Knochen war nichts, nicht einmal Haut.“ Die Ärzte im Krankenhaus hätten ihn physisch wiederhergestellt. Aber seelisch habe er nur überleben können, weil er zu malen begann. Das habe ihn geschützt: „Ich habe eine Barriere gegen die Erinnerungen an die Konzentrationslager errichtet.“ Die Zeichnungen der Zwangsarbeit, die Świstak aus dem Gedächtnis angefertigt hat, sind die einzigen bildlichen Zeugnisse der Lebensbedingungen und der Gewalt in den Adlerwerken, denn Fotos aus dem KZ gibt es nicht.

Nach dem Krieg wanderte Świstak nach Australien aus, studierte, heiratete und gründete eine Familie. 1988 kam er bei einem Besuchsprogramm ehemaliger Zwangsarbeiter nach Frankfurt, und als vor drei Jahren der „Geschichtsort Adlerwerke“ in der früheren Fabrik eröffnet wurde, nahm er mit einem Livestream und einer Videobotschaft daran teil. Wenige Monate danach starb er.

Das KZ Katzbach bestand seit August 1944, insgesamt 1616 Menschen aus elf Nationen, vor allem aus Polen, waren dort interniert, etwa ein Drittel von ihnen kam in Frankfurt um. Als das Lager aufgelöst wurde, hatten die alliierten Truppen schon den Rhein überquert. Am Abend des 24. März wurden die letzten im KZ verbliebenen etwa 360 Häftlinge von SS-Männern zu Fuß in Richtung Fulda getrieben. An diesen Marsch, auf dem es in Świstaks Worten „wahrscheinlicher zu sterben als zu überleben“ war, wird rund um den Jahrestag in vielen Veranstaltungen in der ganzen Rhein-Main-Region und insbesondere in den Städten und Gemeinden, die an der Strecke zwischen Frankfurt und Hünfeld liegen, erinnert.

Performance: Mit den Mitteln der Kunst soll – wie ein Jahr zuvor in Maintal – am 30. März in Wächtersbach des Todesmarschs gedacht werden.
Performance: Mit den Mitteln der Kunst soll – wie ein Jahr zuvor in Maintal – am 30. März in Wächtersbach des Todesmarschs gedacht werden.Fabian Wilking

„Das Schicksal der Menschen hing oft auch vom Verhalten der Anwohnerinnen und Anwohner in den Ortschaften ab, durch die der Marsch ging“, sagt die Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD), die das kommunenübergreifende Veranstaltungsprogramm gemeinsam mit dem Geschichtsort Adlerwerke initiiert hat. Durch die vielen Veranstaltungen in den Orten an der einstigen Todesmarschroute werde das Gedenken in der Region verankert.

Gedenkstele auf dem Frankfurter Hauptfriedhof

Diesem Zweck dient auch eine neue, durch eine Spendenaktion von verschiedenen Initiativen und Projekten finanzierte Gedenkstele auf dem Hauptfriedhof. Sie weist auf das dort schon seit 1948 bestehende Sammelgrab hin, das eines der größten für Opfer aus dem Warschauer Aufstand außerhalb Polens ist.

Nur fünf Tage nach der Auflösung des KZ Katzbach, am 29. März 1945, war der Zweite Weltkrieg in Frankfurt vorbei, etwas mehr als einen Monat später kapitulierte das nationalsozialistische Regime bedingungslos. Andrzej Branecki hatte den Todesmarsch überlebt, war in die Konzentrationslager Buchenwald, Flossenbürg und schließlich nach Dachau gebracht worden, das am 29. April 1945 durch amerikanischen Truppen befreit wurde. Danach kehrte der Fünfzehnjährige nach Polen zurück, wo er als Kons­trukteur arbeitet.

Bis zu seinem Tod 2020 war Branecki ein wichtiger Zeitzeuge, der sich für eine Gedenk- und Bildungsstätte in den Adlerwerken einsetzte. Anders als Świstak konnte er nicht mehr erleben, dass aus dem Vorhaben Realität wurde. An der zentralen Gedenkveranstaltung, die am Jahrestag des Todesmarschs in der Paulskirche stattfindet, wird für ihn sein Sohn Zbigniew Branecki teilnehmen. Und auch Jenni Hauwert-Swistak, die Tochter von Zygmunt Świstak, wird zu den Gästen sprechen.

Gedenken in vielen Formen

Mit einer Reihe von Veranstaltungen erinnern Kommunen in der Rhein-Main-Region an den Todesmarsch aus dem KZ Katzbach vor 80 Jahren. Am Freitag, 21. März, wurde auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, Gewann E, eine Gedenkstele für die Opfer enthüllt. Das Mahnmal erinnert an die 527 in Frankfurt umgekommenen und ermordeten Häftlinge des KZ Katzbach, für die 1948 ein Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof eingerichtet wurde.

Am Sonntag, 23. März, findet von 12 bis 18 Uhr im Frankfurter Geschichtsort Adlerwerke ein Tag der offenen Tür statt. Es werden Führungen durch die Dauerausstellung und über das Gelände der früheren Adlerwerke sowie durch den umgebenden Stadtteil angeboten. Um 11 Uhr beginnt nebenan im Gallus-Theater ein Konzert, das Terror und Leid sowie Erinnern thematisiert.

Für Montag, 24. März, lädt die Stadt Frankfurt in die Paulskirche zur zentralen Gedenkfeier ein, bei der auch Nachfahren der Opfer sprechen. Im Stadtteil Gallus widmet sich ein Kunstprojekt dem Thema. Unter dem Titel „Den Betroffenen ein Gesicht geben“ sind in den Schaufenstern des Jugendmigrationsdienstes, Frankenallee 103, Porträts im Streetart-Stil ausgestellt.

Um die Erinnerungen der Überlebenden geht es in Maintal am 25. März und Fulda am 27. März in ­Vorträgen zum Buch „Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben“ von Janusz Garlicki und in Fulda am 29. März im Vortrag zum Schicksal des lange als unbekannt geltenden Opfers Władysław Żukowski. Über die Verarbeitung von Traumata in der zweiten Generation spricht die Australierin Jenni Hauwert-Swistak, deren Vater, Onkel und Großvater im KZ Katzbach waren, am 26. März im Geschichtsort Adlerwerke.

Weitere Veranstaltungen in unterschiedlichen Formaten finden bis Anfang April unter anderem in Gelnhausen und Schlüchtern statt. Am 30. März zieht eine kollektive Performance der Künstlerin Ulrike Streck-Plath zum Gedenken an den Todesmarsch durch Wächtersbach-Aufenau. Für den selben Tag lädt der Motorradclub „Kuhle Wampe Frankfurt am Main“ zu einer Gedenkfahrt entlang der Todesmarschroute ein.

Das vollständige Programm findet sich hier.