Es gibt sie wieder, die Wächter an Deutschlands Grenzen. Seit September vergangenen Jahres finden an allen Zufahrten in die Bundesrepublik Grenzkontrollen statt, vorübergehend, zur Eindämmung der illegalen Migration. An der Grenze zu Österreich wird schon seit zehn Jahren wieder kontrolliert. Der voraussichtliche nächste Bundeskanzler Friedrich Merz hat sich im Wahlkampf dafür ausgesprochen, Grenzkontrollen dauerhaft einzusetzen. Das wäre der endgültige Bruch mit einem Prinzip der europäischen Einigung, dessen Einführung sich just in diesen Tagen zum dreißigsten Mal jährt.
Die Rede ist von „Schengen“. Das nach einem Luxemburger Dorf benannte Abkommen, das zwischen zunächst fünf Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Grenzkontrollen beendete, trat am 26. März 1995 in Kraft.
Der Eindruck, dies habe den Weg in die unkontrollierte Migration geebnet, ist indes falsch. Schengen war nicht nur die Grundlage für die Öffnung von Grenzen, sondern auch für ihre Schließung. Einst fanden sich übrigens auch viele Deutsche auf der falschen Seite wieder.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Die Blockade der 10.000 Lastwagen
Auch wenn es heute angesichts des rechts- wie linkspopulistischen Widerstandes gegen offene Grenzen anders wirken mag: Schengen war keineswegs nur ein Projekt einer kosmopolitischen Elite. Ein Vorläufer des Abkommens, der 1984 in Saarbrücken beschlossene Abbau der deutsch-französischen Grenzkontrollen, entstand unter großem öffentlichem Druck. Tausende Lastwagenfahrer blockierten im Februar 1984 für sechs Tage mit ihren Fahrzeugen Grenzübergänge in ganz Westeuropa, aus Protest gegen langwierige Zollkontrollen. Die Wartezeit an den innereuropäischen Grenzen konnte für sie damals schon einmal zwanzig Stunden betragen. Der Aufstand der Trucker brachte für eine Woche den Waren- und Personenverkehr zwischen Ärmelkanal und Alpen vollends zum Stillstand. In Frankreich mussten Fabriken stillgelegt werden. Heizöl, Fleisch und Gemüse wurden in Teilen des Landes knapp.
Die „Blockade der 10.000 Lastwagen“ sollte deutlich machen, wie weit die Europäische Gemeinschaft von ihrem luftigen Ziel des freien Verkehrs innerhalb eines gemeinsamen Binnenmarktes entfernt war. Die Kosten, die durch die Grenzformalitäten innerhalb des gemeinsamen Wirtschaftsraums entstanden, entsprachen nach Berechnungen der Europäischen Gemeinschaft etwa zehn Prozent des gehandelten Nettowarenwertes – obwohl Zölle eigentlich gar nicht mehr erhoben wurden.
„Es gab auch den politischen Druck“
Die Lastwagenfahrer legten den Finger in die Wunde. In einer Phase mit ohnehin steigender Arbeitslosigkeit in Mitgliedstaaten wie Frankreich traf der Einbruch des Warenverkehrs die Volkswirtschaften empfindlich und erhöhte den politischen Druck. Die Bevölkerung zumindest in Frankreich stand hinter den Truckern. 54 Prozent der Franzosen, berichtete der „Spiegel“ damals, „billigten die Aktionen der Transportunternehmen“. Zwei Drittel glaubten, ihre Forderungen seien berechtigt.
Es habe für Schengen „mehrere Impulse“ gegeben, sagt der amerikanische Historiker und Journalist Isaac Stanley-Becker, der für sein Buch „Europe without borders“ als einer der Ersten Einblick in die Aufzeichnungen zum Vertragsprozess bekommen hat. Er hat dafür auch den Briefwechsel zwischen zwei prägenden Akteuren ihrer Zeit untersucht, Bundeskanzler Helmut Kohl und Frankreichs Präsident François Mitterrand.
Schengen sei zwar einerseits „ein von Eliten gesteuerter Prozess in den Ministerien der Mitgliedstaaten“ gewesen. „Aber es gab auch den politischen Druck und eine populäre Unterstützung für freieres Reisen.“ Das sei sehr wichtig für die Verhandlungen gewesen, sagt Stanley-Becker: „Dass das etwas ist, das man für die einfachen Leute tut.“

Die Proteste erzielten ihre Wirkung. Und Politiker sprachen damals noch ganz anders als heute über offene Grenzen. Die von den Lkw ausgelöste Grenzkrise habe die Bevölkerung „traumatisiert“, sagte der damalige französische Außenminister Roland Dumas. Die Begrenzung der Freizügigkeit sei „unerträglich“ geworden.
Noch im Herbst desselben Jahres begann der Abbau der Grenzkontrollen zwischen den einstigen Erbfeinden Deutschland und Frankreich. Die Lkw-Fahrer waren nicht die Einzigen, die sich für offene Grenzen starkmachten. Es kam, etwa in der Nähe von Aachen nahe der deutsch-belgischen und deutsch-niederländischen Grenze, auch zu Demonstrationen der örtlichen Bevölkerung, für welche die Kontrollen ein regelmäßiges Ärgernis darstellten.
Bald darauf fanden sich neben Deutschland und Frankreich auch Belgien, Luxemburg und die Niederlande zusammen, um einen gemeinsamen Raum ohne Grenzkontrollen zu schaffen. Im Februar 1985 saßen die Diplomaten erstmals zusammen, am 14. Juni stand das Abkommen, also fast zehn Jahre vor seinem Inkrafttreten. Zur Unterzeichnung trafen sich die Unterhändler auf dem Schiff MS „Princesse Marie-Astrid“, das auf der Mosel bei Schengen vor Anker gegangen war.
Ostdeutsche ausgeschlossen
Die Politiker hätten durchaus große Ambitionen gehabt, sagt Historiker Stanley-Becker, „eingefangen in Mitterrands Konzeption eines Europas der Bürger“. Zwischen Deutschland und Frankreich galt es, vierzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg engere Bande zu knüpfen. „Aber es gab zugleich auch sehr pragmatische Überlegungen, allen voran die Vollendung des Binnenmarktes. Schengen wurde dafür als Labor angesehen.“ Während das Abkommen erstmals Freizügigkeit für Menschen als solche und nicht nur für Wirtschaftssubjekte einräumte, sei es letztlich doch um die Legitimierung einer wirtschaftlichen Einigung gegangen.
Schon zum Zeitpunkt der Unterzeichnung hatten die Politiker allerdings nicht nur das Öffnen, sondern auch das Schließen von Grenzen im Sinn. Ein Binnenmarkt ohne Grenzkontrollen war nach ihrer Überzeugung nur dann möglich, wenn sich die Staaten auf eine gemeinsame Politik an den Außengrenzen verständigen konnten. Die Reisefreiheit war folgerichtig von vornherein auf europäische Bürger beschränkt.
In einem Anhang zum Schengener Abkommen hielten die Unterzeichnerstaaten zudem eine Liste unerwünschter Nationalitäten fest, für die in Zukunft besonders strenge Visavorschriften gelten sollten. Darauf fanden sich zahlreiche ehemalige Kolonien der europäischen Staaten, Länder wie Algerien, Jemen, Haiti – und auch die DDR.

Diese explizite Abweisung der Ostdeutschen wurde nicht zuletzt auf den Wunsch Westdeutschlands hin geheim gehalten. „Sobald die Mauer fiel, waren die Westdeutschen erpicht darauf, dass Ostdeutschland nicht als Ausland klassifiziert wird“, sagt Stanley-Becker. „Aber bis dahin waren sie an Bord bei der Planung, dass die innerdeutsche Grenze die Ostgrenze des Schengenraums ist.“
Während heute die Flüchtlingsströme in den Schengenraum vor allem aus südlichen Mitgliedstaaten kommen, war es in den 80er-Jahren die Ostgrenze, die den Politikern Sorge bereitete, allen voran die innerdeutsche. „Das Berlin-Problem“ wurde kontrovers diskutiert, war doch der Westteil der Stadt ein Einfallstor für Asylbewerber aus den kommunistischen Staaten Osteuropas. Mit dem Mauerfall wurde das Problem akut. Deutschland bestand nun darauf, dass Ostdeutsche nicht länger als Ausländer angesehen wurden, Frankreich fürchtete den Kontrollverlust an der Außengrenze. Fast wäre die Ratifizierung von Schengen an der Wiedervereinigung gescheitert.
Auch danach blieb die Umsetzung des Abkommens bis in die frühen Neunzigerjahre hinein kontrovers. Auch wenn heute mancher bei offenen Grenzen vor allem an die unkontrollierte Zuwanderung von Asylbewerbern denkt: In Deutschland ebnete Schengen den Weg für das genaue Gegenteil. Denn das Abkommen erforderte eine Harmonisierung der Asylregeln. Der einfache Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, der damals noch ohne Einschränkung in Artikel 16 des Grundgesetzes stand, ging weit über das hinaus, was das Schengener Abkommen Flüchtlingen zubilligte.
Der Weg zum schärferen Asylrecht
Die Regierung von Bundeskanzler Kohl rechtfertigte eine Verschärfung des Asylrechts, die durch die stark gestiegenen Flüchtlingszahlen der frühen Neunzigerjahre und eine Welle rechtsextremer Anschläge befeuert wurde, auch mit der bevorstehenden Öffnung der Grenzen in Europa. Als der Bundestag im April 1992 über das Schengener Abkommen debattierte, geschah das in einem gemeinsamen Tagesordnungspunkt mit der Änderung des Asylartikels.
Das deutsche Asylrecht, argumentierte der damalige Innenminister Rudolf Seiters (CDU), hindere Deutschland daran, gemäß den Schengenregeln Ausländer an andere Staaten zurückzuverweisen. Der Bundestag müsse „zur Kenntnis nehmen, dass sich ein europäisches Asylrecht nicht auf der Grundlage des Artikel 16 unseres Grundgesetzes verwirklichen lässt“, denn das würden andere Mitgliedstaaten kategorisch ablehnen.
So ging die Öffnung der europäischen Binnengrenzen einher mit der weitgehenden Schließung des Asylpfades nach Deutschland. Auch in Frankreich kam es etwa zur selben Zeit zu einer ähnlichen Verfassungsänderung. „Es ist eine der Ironien von Schengen, dass dem Abkommen die Schuld an Europas Migrationsproblemen gegeben wird“, sagt der Historiker Stanley-Becker. „Dabei hat es in wichtigen Punkten eine Verschärfung der Einwanderungs- und Asylbeschränkungen ermöglicht und gerechtfertigt.“

Deutschland ratifizierte das Abkommen als letzter der ursprünglichen Schengenstaaten. Im März 1995 konnte es in Kraft gesetzt werden. Während die Wiedervereinigung die Ostdeutschen vor dem Ausschluss bewahrte, fand man sich andernorts im ehemaligen Ostblock plötzlich auf der falschen Seite eines europäischen Binnenmarkts wieder, der sich intern öffnete, aber nach außen abschottete. „An der polnisch-deutschen Grenze weigern sich die Autofahrer aus Polen, sich in die eigens für sie eingerichtete Fahrspur für Bürger von außerhalb der EU einzureihen“, schrieb die F.A.Z. drei Tage nach dem Schengenstart. „Sie wollen nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, sagen sie.“
Auch die Ungarn bekamen die neue Zweiklassengesellschaft zu spüren, als ihr Nachbarland Österreich schon einige Wochen vorher den Ernstfall probte. Neun Stunden Wartezeit an der Grenze waren die Folge. Was für die Schengenbürger eine Entlastung war, bedeutete für diejenigen, die von außerhalb einreisen wollten, neue Hürden.
Die Freizügigkeit im Schengenraum, dem heute außer Zypern und Irland alle EU-Mitgliedstaaten sowie die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen angehören, ist trotz Migrationsdebatte nach wie vor populär. In Deutschland gaben in einer Umfrage der EU jüngst 72 Prozent der Befragten an, Schengen biete für sie persönlich mehr Vor- als Nachteile.
In Viktor Orbáns Ungarn stimmten dem sogar 79 Prozent zu. Dabei haben sehr viele EU-Bürger überhaupt erst während der Grenzschließungen in der Corona-Pandemie erstmals von Schengen gehört. Etwa jeder dritte Befragte sagte, vorher sei ihm nicht klar gewesen, welche Auswirkungen „Schengen“ auf sein Leben habe.
Das zeigt, wie sehr offene Grenzen für viele Europäer zum Normalzustand geworden sind. Für Bürger anderer Staaten waren sie das in Europa dagegen nie.