„Das hier war ein Schlachthaus“

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Aus einem der Gänge ertönt ein Ruf, der Hoffnung weckt. „Hierher, hierher“, brüllt jemand. Dann ist zu hören, wie Beton mit Spitzhacken und Eisenstangen bearbeitet wird. In einer kleinen Zelle haben ein paar Männer hektisch angefangen zu graben. Immer mehr Menschen drängen sich um das kleine Loch, das in den Boden gerissen wurde. Sie alle hoffen, einen Zugang zu einem bislang unentdeckten Gefangenentrakt zu finden.

Das berüchtigte Sednaja-Militärgefängnis, etwa dreißig Kilometer nördlich von Damaskus, ist seit Tagen befreit. Der Zivilschutz hat die Sucharbeiten längst eingestellt. Aber noch immer suchen hier Tausende nach Verwandten, die irgendwann in die Fänge des Assad-Regimes gerieten und nicht wieder auftauchten.

Tausende wurden exekutiert

Als Abu Muhammad den Tumult hört, wirft er sein Sturmgewehr über die Schulter, schaltet die Lampe seines Mobiltelefons ein und schreitet ins Halbdunkel. „Das hier war ein Schlachthaus“, knurrt er. Gerade hatte der Rebellenkämpfer erzählt, dass zwei seiner Verwandten an diesem Ort getötet wurden. Wie er in den Reihen der Islamistenallianz „Hay’at Tahrir al-Scham“ (HTS) aus der nordwestsyrischen Idlib nach Damaskus vorrückte und an jenem Ort endete, der wie kein anderer für die Grausamkeit des Assad-Regimes steht.

Tausende Gegner des syrischen Gewaltherrschers Baschar al-Assad wurden im Sednaja zu Tode gefoltert, ausgehungert, in Massenerhängungen getötet. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schrieb in einem Bericht von 2017, es seien zwischen 2011, als der Aufstand gegen Assad begann, und 2015 zwischen 5000 und 13.000 Menschen so exekutiert worden.

Anghörige suchen nach ihren Verwandten, die im Sednaja-Gefängnis inhaftiert gewesen sein sollen.
Anghörige suchen nach ihren Verwandten, die im Sednaja-Gefängnis inhaftiert gewesen sein sollen.Reuters

Die wenigen, die es schafften, freizukommen, berichteten von einem unmenschlichen Folterregime. Regelmäßig wurden die Häftlinge mit Schlägen traktiert, Wächter benutzten Eisenstangen, Rohre oder dicke Elektrokabel, aus denen scharfe Drahtenden ragten, die den Opfern die Haut aufrissen. Häftlinge wurden gezwungen, andere Insassen zu vergewaltigen. Niemand durfte sprechen oder gar flüstern. Das Einzige, was man gehört habe, berichteten frühere Insassen, seien die Schmerzensschreie ihrer Leidensgenossen. Wer nach Sednaja gebracht wurde, raunte man in Syrien, der komme nicht wieder zurück.

Dann kollabierte in Rekordzeit das Assad-Regime, und auch aus den Gängen des Sednaja-Gefängnisses, das schon 1987 unter Baschars Vater Hafiz in Betrieb genommen worden war, gelangten Bilder an die Öffentlichkeit, die Wochen zuvor undenkbar schienen: Blasse ausgemergelte Häftlinge strömten jubelnd aus den Zellen. Manche mussten entkräftete Mitgefangene tragen, manche konnten sich nur im Sitzen fortbewegen, weil ihnen wegen der brutalen Schläge die Beine versagten. Schnell bekam die Öffentlichkeit so einen lebendigen Eindruck von der Grausamkeit des Ortes. Ein Häftling hat nach 43 Jahren Haft das Gedächtnis verloren, ein anderer die Fähigkeit zu sprechen.

Sie wollen Beweise gegen die Folterknechte sammeln

Auch nach der Befreiung hängt eine Aura des Schreckens der weitläufigen Anlage nach. Eine gewundene Piste führt vorbei an zurückgelassenen Panzern durch Minenfelder einen kargen Hang hinauf, auf dem der Gefängnisbau wie eine Burg thront. Ein beißender Geruch liegt über der Szenerie, manche Gebäude wurden in Brand gesteckt. Am Haupttrakt, dem sogenannten Roten Gebäude, in dem Baschar al-Assad zunächst radikale Islamisten und während des Aufstands von 2011 Oppositionelle verschwinden ließ, drängen sich die Leute vor dem rostroten Eisentor. Die bärtigen Kämpfer haben große Mühe, dem Ansturm Herr zu werden. Hin und wieder öffnen sie es einen Spalt oder lassen Besucher durch eine schmale Öffnung am Fuße des Tors kriechen.

Abu Muhammad, der Kämpfer aus Idlib, beschreibt, wie Dutzende Häftlinge in eine kleine Zelle gezwängt wurden, kniend, die Handrücken vor den Augen ausharren mussten. Er zeigt auf Kalender, die Insassen in die Zellenwände ritzten, in der Hoffnung, bei allem Horror nicht ihr Zeitgefühl zu verlieren. „Das ist unmenschlich“, sagt er, als er über speckige Decken und eine zurückgelassene Uniformjacke steigt. „Solange der Ruf nach Gerechtigkeit ertönt, wird es Gerechtigkeit geben.“

Ein Mann hält zwei Seile mit Henkersknoten hoch, die er im Sednaja-Gefängnis gefunden hat.
Ein Mann hält zwei Seile mit Henkersknoten hoch, die er im Sednaja-Gefängnis gefunden hat.AP

Er macht sich auf die Suche nach der berüchtigten „Menschenpresse“, von der die Leute erzählen. Er wird in einem kleinen Raum fündig, in dessen Eingang ein rotes Kunststoffseil mit Henkersknoten liegt. Das Gerät, das dort steht, scheint eine Presse zu sein. Hinweise auf ihren angeblichen Zweck, Leichname zu quetschen, damit man sie leichter verschwinden lassen kann, gibt es nicht, nicht einmal Blutspuren.

Dokumente, die das Geschehen in dem Gefängnis verlässlich dokumentieren, liegen überall in der Anlage verstreut. Listen von Lebensmitteln, die in der Gefängnisküche verbraucht wurden. Oder ein Papier mit Regeln für den Umgang mit Inhaftierten. „Den Gefangenen ist es erlaubt, eigene Unterwäsche zu tragen, wenn sie mit eigenem Geld erworben wird.“ Ärzte hätten ankommende Gefangene zu untersuchen, ob sie zu „harter Arbeit“ in der Lage seien. Aber vieles liegt noch im Dunkeln, und das Chaos dürfte es nicht einfacher machen, Beweise gegen die Verantwortlichen und die Folterknechte zu sammeln.

Es gibt viele Gerüchte

Die Ungewissheit und die vielen offenen Fragen haben unter den verzweifelten Angehörigen eine eigene Dynamik entwickelt. Es hat Gerüchte über einen Geheimtrakt unter der Erde gegeben. Menschenrechtsaktivisten, die mit dem Foltergefängnis befasst sind, glauben nicht daran. Die „Gesellschaft für Inhaftierte und Vermisste im Sednaja-Gefängnis“ (ADMSP) spricht von einem „Mythos“.

Das Gefängnis war so berüchtigt, dass es zu einer Art Chiffre wurde: Das Regime unterhielt Dutzende Kerker, wenn jemand darin verschwand, wurde automatisch angenommen, er sei nach Sednaja gebracht worden. ADMSP hat ein Dokument veröffentlicht, laut dem zum Zeitpunkt der Befreiung etwa 4300 Gefangene in Sednaja einsaßen. Das entspreche in etwa der Zahl von Häftlingen, die nun freikamen.

Menschen versammeln sich vor dem Sednaja-Gefängnis um ein Feuer.
Menschen versammeln sich vor dem Sednaja-Gefängnis um ein Feuer.AFP

Solche Hinweise kommen kaum bei denjenigen an, die unter der Ungewissheit leiden. Zumal auch andere Zahlen kursieren. In ihrer Verzweiflung suchen die Leute weiter, streifen durch dunkle Gänge, rufen in Schachtöffnungen und klopfen an Wände in der Hoffnung, einen Hohlraum oder geheimen Eingang zu finden.

Ein Mann hat ein Internetvideo auf dem Telefon gespeichert, das eine Karte zeigen soll, auf der die Standorte der geheimen Eingänge eingezeichnet sind. Seine Versuche, sie zu lesen, wirken hilf- und orientierungslos. Eine Frau im schwarzen Vollschleier will einen Traum gehabt haben, über den sie in einer Traube Verzweifelter doziert. Dann zieht sie wie eine Wünschelrutengängerin mit zwei dicken Kupferdrähten los, der Tross folgt und wird sich keine Stunde später enttäuscht zerstreuen.

Viele Schicksale bleiben ungewiss

Fatimah al-Khali verfolgt die Prozedur aus der Entfernung. Sie hofft, dass die Ausländer mehr wissen. Den zweiten Tag in Folge ist sie schon hier, sucht nach ihrem Bruder, der vor neun Jahren in die Fänge des Regimes geriet und verschwand. Sie kommt aus Ghouta, jener Vorstadt von Damaskus, in der sich islamistische Aufständische einen jahrelangen Belagerungskrieg mit dem Regime lieferten. „Das sind Monster, keine Menschen!“, ruft sie. „Haben sie keine Kinder, keine Brüder?“

Sie gehört zu denjenigen, bei denen der Hass noch stärker ist als die Erleichterung darüber, dass der Gewaltherrscher gestürzt wurde. „Zwei meiner Brüder sind an einem Checkpoint des Regimes erschossen worden, ich weiß nicht, wie viele Verwandte während des Krieges durch Luftangriffe getötet wurden“, sagt sie. Ihr vermisster Bruder, ein Schmied, sei Opfer einer tragischen Verwechslung geworden. „Sie haben wahrscheinlich einen anderen Mann mit gleichem Namen gesucht.“

Durch Bestechungsgelder hätte ihre Familie Kontakt zu ihm aufnehmen können. „Er hat erzählt, dass er mit verbundenen Augen 90 Treppenstufen nach unten laufen musste“, sagt al-Khali. Aber viel mehr weiß sie nicht, und außer einem vergilbten Ausweis hat sie wie viele andere, die hier nach ihren Verwandten suchen, nichts in der Hand.

Vor einem der Zellenblöcke zieht ein älterer Herr in einer abgetragenen Strickjacke mit zitternden Händen ein paar gefaltete Papiere und ein Passbild seines Sohnes aus der Hosentasche, der im Jahr seines Universitätsabschlusses verschleppt wurde. „Dreizehn Jahre, sieben Monate und dreizehn Tage.“ Seine geröteten Augen sind von dunklen Ringen untermalt. Er hält es nicht lange aus, von der Geschichte seines Sohnes zu berichten, bis er in Tränen ausbricht. „Er hat nichts getan. Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist“, schluchzt er. „Meine Frau kann nicht mehr ohne Psychopharmaka überleben, wir schlafen nicht, weil wir nicht aufhören können, an ihn zu denken.“

Der Hof leert sich, als die Dämmerung anbricht. Gruppen Ausharrender sammeln sich auf dem harten Lehmboden vor dem Gefängnisbau um die Lagerfeuer. Eine Frau ist noch nicht bereit, die Suche an diesem Tag zu beenden. Sie sei mit zweien ihrer Brüder bei einer Demonstration gegen Assad festgenommen worden, erzählt sie. Um ihre Schwester zu schützen, hätten diese Geständnisse unterschrieben und seien in Sednaja verschwunden. Umstehende nicken grimmig und stumm, als wüssten sie alle, wovon die Frau spricht. „Was haben wir getan, dass sie Frauen und Kinder gefoltert haben, in unsere Häuser eingedrungen sind“, schimpft sie. „Warum – warum, warum?“