Sie wollen ihr Land wieder aufbauen

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Miskal al-Halil will nur für ein paar Tage rüber nach Syrien. Er will seinen Bruder finden, der vor 13 Jahren im Foltergefängnis von Saidnaya verschwunden ist. Auf den Listen der Toten und auf den Listen der Über­lebenden haben sie seinen Namen nicht gefunden. „Wir wissen nicht, ob er noch lebt“, sagt Halil. Der Syrer steht in einer Warteschlange vor dem Grenzübergang Cilvegözü in der südtürkischen Provinz Reyhanlı. Knapp hundert Leute stehen hier am Mittwochmorgen. Sie müssen ihre türkischen Flüchtlingspässe abgeben und unterschreiben, dass sie freiwillig nach Syrien zurückgehen. Einen Weg zurück gibt es für sie dann nicht mehr, jedenfalls keinen legalen. Es sei denn, sie haben eine Sondergenehmigung.

Halil dachte, er hätte eine. Auf Tiktok hatte ein Syrer solche Geneh­migungen für 400 Dollar angeboten. Der Mann hatte zugesagt, ihm die Unterlagen an der Grenze zu übergeben. Halil will erst einmal mit den Grenzbeamten klären, ob sie echt sind, bevor er das Geld bezahlt. „Ohne Sondergenehmigung kann ich nicht gehen“, sagt er. Zu Hause in Mersin warten seine Frau und seine Kinder. Sie wollen nicht zurück nach Syrien. Zumindest noch nicht. „Idlib ist noch nicht sicher, und unser Haus dort ist zerstört.“

Hat der Bruser seinen eigenen Namen vergessen?

Falls es klappen sollte mit der Sondergenehmigung, will Halil in Damaskus die Krankenhäuser und Moscheen nach seinem Bruder absuchen. Er weiß, dass viele, die von den Rebellen befreit wurden, von der Folter verrückt geworden sind. Vielleicht hat der Bruder seinen eigenen Namen vergessen? Oder sein Leichnam liegt noch irgendwo in einem verborgenen Kerker? Der Bruder sei von Assads Schergen inhaftiert worden, weil er sich angeblich vorzeitig von seinem Wehrdienst entfernt habe. „Wenn ich ihn finde, wird das der schönste Tag meines Lebens sein.“

Die meisten Leute, die hier an der Grenze warten, wollen in Syrien ein neues Leben beginnen. Es sind nicht die Studierten und Integrierten, sondern Tagelöhner, die in der Türkei seit Jahren von der Hand in den Mund leben. Oft mit prekärem Status. In zwei Reihen stehen sie vor dem Grenzübergang, eine für Männer, eine für Familien. Kamar Kiali will mit ihrem Mann und ihren drei Kindern nach Idlib zurückkehren. „Als wir gehört haben, dass das Regime gefallen ist, haben wir uns sofort entschieden“, sagt die Achtundzwanzigjährige. „Wir haben so lange auf diesen Moment gewartet. Wir wollen zum Wiederaufbau unseres Landes beitragen.“ Der Abschied fällt ihr nicht allzu schwer. Ihre Kinder hätten in der Türkei nicht zur Schule gehen können, weil sie keine Ausweisdokumente gehabt hätten, erzählt sie. Von ihrer Fahrt zur Grenze hat sie ein Video gemacht und auf Instagram gepostet. „Wir fahren nach Hause“, sagt sie darin strahlend in die Kamera.

„Es gibt für mich keinen Grund, in der Türkei zu bleiben“, sagt auch Marnan al-Eksa. Als Tagelöhner auf dem Bau hat er umgerechnet 30 Euro am Tag verdient. „Mein Leben bestand nur aus Arbeit.“ Eksa hat sich freiwillig gemeldet, als die Familie jemanden suchte, der die Lage in Idlib eruiert. Sein Bruder Bischr, der ihn am Grenzübergang verabschiedet, hat vorerst nicht vor zu gehen. „Die Situation ist nicht stabil“, sagt er. Au­ßerdem sei seine Tochter krank. Die Gesundheitsversorgung in Syrien sei schlecht. Auch der Bauarbeiter Uran al-Masri wird von seiner Familie vorgeschickt. Er soll schauen, ob das Haus in Hama noch steht. Um seine eigene Sicherheit macht er sich keine Sorgen. „Ich vertraue auf Gott“, sagt er. Masri freut sich auf Syrien. „Ich will die Freiheit spüren und all die Traurigkeit vergessen, die ich in der Türkei empfunden habe.“

Die 43 Jahre alte Erntehelferin Nadiye al-Nayef wollte eigentlich erst im Sommer zurückkehren. „Dann könnten wir in einem Zelt bleiben, solange wir ein neues Haus bauen.“ Aber ihre Mutter, die in Idlib lebt, habe sie nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad angefleht zurückzukehren. „Sie hat Angst, dass sie sterben könnte, bevor wir uns noch einmal sehen.“

Hundert Rückkehrer an einem von elf Grenzübergängen – sind das viele oder wenige? In der Türkei ist da­rüber ein Streit entbrannt. Das Innenministerium hat verkündet, die Grenzkapazitäten seien auf 20.000 täglich ausgebaut worden. Die Regierungspartei AKP erwartet, dass bis zu 60 Prozent der Syrer zurückkehren. Die Opposition spricht von 10 bis 15 Prozent.