Die Dämmerung hat noch nicht eingesetzt, da präsentiert sich Poipet bereits so, wie es seine Opfer beschreiben: als Reich der Finsternis. Am Rand der Hauptstraße, die durch die Stadt bis zur Grenze zu Thailand führt, schreit der chinesische Fahrer eines schwarzen Minivans auf einen verschüchterten Polizisten ein. Rechts erscheint das Puli-Kasino, dessen Namen die Eigentümer aus China in gleich zwei Versionen geschrieben haben: einmal mit „i“ über dem gelben Tor, das Männer in schwarzen Uniformen bewachen. Einmal mit „y“ auf dem Schild vor der mit Stacheldraht und Gittern gesicherten Wohnanlage, auf deren Dach ein Dutzend Satellitenschüsseln stehen. „Ihr Drecksäcke“ hat jemand in grüner Farbe von außen auf die Mauer gesprüht, daneben einen Totenkopf.
In einem der Zimmer hinter den Gitterfenstern hatten vor zwei Jahren sieben Männer und eine Frau um drei Uhr nachts Feuer gelegt und das anschließende Chaos genutzt, um aus der Anlage zur Grenze zu fliehen, wo sie auf thailändischer Seite mit Schnittwunden an Händen und Armen ins Krankenhaus gebracht wurden. Gegenüber der Polizei sagten sie aus, sie wären ins Kasino verschleppt worden und hätten dort im 25. Stock als Onlinebetrüger arbeiten müssen. Eigentlich hatte die Fluchtgruppe noch zwei weitere Personen gezählt. Doch die Wächter hatten sie gekriegt.
Rechts von Poipets prächtigem Grenztor mit dem goldverzierten roten Dach steht ein weiterer, ungleich größerer Schauplatz des Verbrechens: das Crown-Kasino, wo am siebten Januar ein Mann aus dem Fenster gefallen ist. Die Polizei konnte den vermeintlichen Suizid nicht untersuchen, weil die Sicherheitsleute sie nicht aufs Gelände ließen. Gleich am nächsten Tag fiel im Crown ein weiterer Mann vom Dach. Am ersten Februar segelte im Crown ein dritter Mensch durch die Luft, am vierten März ein vierter.
Kambodscha und die Abzocke im Internet
Lokalen Medien zufolge sollen die Toten allesamt in einem der „Scam-Camps“ (Betrug-Camps) gearbeitet haben, die das weitläufige Gelände des Kasinos beherbergen soll. Als sich der Wagen des Reporters dem säulenverzierten Eingangstor nähert, dauert es zwei Sekunden, bis ein im Braun des kambodschanischen Militärs gekleideter Sicherheitsmann mit seinem Smartphone beginnt, Fotos von dem ihm unbekannten Fahrzeug zu schießen. Auf die Aufforderung, den Motor auszustellen und auszusteigen, reagiert der Fahrer mit einem Tritt aufs Gaspedal.
Die Vorsicht der Kasinobetreiber ist verständlich. Neben dem ebenfalls in Südostasien gelegenen Bürgerkriegsland Myanmar ist Kambodscha in den vergangenen Monaten auf der Welt zum Synonym geworden für das große Geschäft mit der Abzocke im Internet. Allein im Königreich sollen Schätzungen zufolge 150.000 Ausländer als Sklaven in Camps bis zu 20 Stunden täglich an Computern und Smartphones sitzen und versuchen, Zielpersonen in Europa, den USA und China auszumachen, die um ihr Vermögen gebracht werden sollen. 12,5 Milliarden Dollar soll der Betrug dem Land im Jahr geschätzt einbringen, was einem Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung entspricht.
Ob die Zahlen stimmen, ist schwer nachzuprüfen. Vermutlich liegen sie in Wahrheit höher. In Deutschland war nach offiziellen Angaben zufolge bereits jeder Vierte schon einmal Opfer von Cyberkriminalität. Im November hat die Nichtregierungsorganisation Global Anti-Scam Alliance, in dessen Beratergremium unter anderem Abgesandte von Amazon sitzen, den Schaden durch Onlinebetrug auf eine Billion Dollar innerhalb eines Jahres beziffert. André S. aus einer Kleinstadt in Thüringen hat 180.000 Euro zu der Summe beigesteuert. Der Deutsche, der von Beruf Sicherheitsingenieur bei einer Softwarefirma ist, war auf Instagram von einer hübschen asiatischen jungen Frau angeschrieben worden. Ein paar Wochen später war er Geld und Illusionen los.

Dass die Frau, die André S. auf seine tollen Urlaubsfotos bei Instagram angesprochen hatte, in Kambodscha saß, ist statistisch gesehen nicht unwahrscheinlich. Weil bei der Nennung des Landes immer mehr Menschen nicht mehr zuerst an die weltberühmte Tempelanlage Angkor Wat denken, sondern an die Scam-Camps, hat die Polizei an zwei Tagen Ende Februar im 150 Kilometer entfernten Poipet zwei davon gestürmt. Die 30 Camps, die allein das Crown-Kasino auf seinem Gelände beherbergen soll, hat sie nicht angetastet.
Die Online-Scam-Camps hätten sich in Südostasien während der Covid-Zeit entwickelt, nachdem die klassischen Kasinos mangels Besuchern ihre Spielaktivitäten aufs Internet ausgeweitet hätten, sagt das Verbrechenbekämpfungsbüro der Vereinten Nationen. Das Crown-Kasino in Poipet gehört Berichten zufolge Kok An, einem kambodschanischen Politiker und Geschäftsmann, der sowohl in Chinas Unterwelt als auch in der Regierung in Phnom Penh bestens vernetzt sein soll und mit weiteren Scam-Camps im Land in Verbindung gebracht wird.
Wie es im Inneren zugeht, berichtet der F.A.Z. ein Insider. Hinter dem Crown-Kasino führt die Fahrt eine halbe Stunde lang durch ein von chinesischen Schriftzeichen übersätes Unterhaltungsviertel mit Bars, Clubs und weiteren Kasinos und schließlich über eine von Schlaglöchern übersäte Sandpiste. Das hier ist Poipets sogenannte „Sonderwirtschaftszone“. Linkerhand liegt die Grenze. Vor einem Monat hat Thailands Regierung gedroht, hier eine Mauer zu bauen, wie es Donald Trump an der amerikanischen Grenze zu Mexiko vorhat. Thailand allerdings hat keine Angst vor kambodschanischen Immigranten. Die Mauer soll den Strom in die entgegengesetzte Richtung kappen: den Menschenhandel nach Kambodscha.
Immer öfter Chinesen in Scam-Camps verschleppt
Sieben Millionen Chinesen haben Thailand im vergangenen Jahr besucht, so viel wie keine andere Volksgruppe. Touristen bringen dem Land rund 50 Milliarden Dollar im Jahr ein, was ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts darstellt. Doch seit in dem Urlaubsland immer öfter Chinesen auf offener Straße entführt und über die Grenze nach Kambodscha und Myanmar in Scam-Camps verschleppt werden, leben die Touristen aus dem Reich der Mitte in Angst. Der Fall des Shanghaier Schauspielers Wang Xing, der Anfang des Jahres unter dem Vorwand eines Castings nach Thailand gelockt wurde und in einem der Sklavencamps in Myanmar landete, hat China in Angst und Schrecken versetzt.
Dabei hat Kambodscha mit keinem anderen Land auf der Welt so gute Beziehungen. Die Regierung in Phnom Penh, in der die „Volkspartei“ seit 1981 ununterbrochen an der Macht ist und die von der Familiendynastie des mit den im Land operierenden Wirtschaftstycoons bestens vernetzten Dauerherrschers Hun Sen geführt wird, empfängt in ein paar Wochen Chinas Präsident Xi Jinping, der dann die nach ihm neu benannte Straße in der Hauptstadt besichtigen kann. Doch auch die Unterwerfungsgeste wird kaum verhindern können, dass der Gast darauf drängen wird, endlich etwas gegen die Scam-Camps zu tun.
Irgendwo ein paar Hundert Meter rechts von der Sandpiste in der Sonderwirtschaftszone sitzt auf einem roten Plastikstuhl im Kreis der Familie ein Mann Mitte dreißig, der im Crown-Kasino eines der Scam-Camps bewacht. Drinnen seien keine Kambodschaner zu finden. Auch im Kasino dürften die Einheimischen nur Tee ausschenken oder als Croupier arbeiten. Die Menschen, die von den Gebäuden gefallen sind, seien bereits davor tot gewesen, behauptet der Wachmann, die Suizide nur vorgetäuscht.
Im Scam-Camp sei es an der Tagesordnung, dass die chinesischen Bosse ihren als Sklaven gehaltenen Landsleuten ein Messer in den Bauch rammten, wenn sie ihre Umsatzziele bei der Onlineabzocke nicht erreicht hätten. Einmal habe sich vor dem Kasino ein Minivan eine Verfolgungsjagd mit der Polizei geliefert. Als diese den Wagen stoppte, habe er vier Chinesen im hinteren Innenraum ausmachen können – ein blutender Mann mit den Händen am Sitz gefesselt, drei andere bereits tot. Als die Sicherheitsleute des Kasinos gesehen hätten, dass er Fotos gemacht hatte, habe er diese löschen müssen.
Dass die Camps von der chinesischen Mafia betrieben werden, hatte die Polizei in Poipet nach der jüngsten Razzia ganz offiziell bekannt gegeben. Ein Polizeifoto zeigte einen von Neonlicht erhellten Büroraum, vor dessen einzigem Fenster die Vorhänge verschlossen sind. Auf knallblauem Fußboden stehen fünf Reihen Schreibtische, auf denen aus Verpackungsmaterial und Schaumstoffplatten gebastelte Schallschutzkabinen aufgebaut sind, zum ungestörten Betrügen. Laptops von Hewlett-Packard liegen neben Stapeln ausgedruckter Seiten.
„Je mehr Details du kennst, umso besser“
Das Papier könnte Schulungsmaterial sein von der Sorte, wie es in den einschlägigen Chatgruppen der Betrüger im Dienst Telegram kursiert und der F.A.Z. zugespielt worden ist. Alle drei Power-Point-Folien sind auf Chinesisch abgefasst und tragen ähnliche Titel: „Vertrauen aufbauen“. Zu Beginn wird die Zielgruppe ausgegeben: „Singles, Kinderlose oder Scheidungsväter aus der Mittelschicht (die genug Zeit und Geld zum Investieren haben)“. Dann die nötige Vorarbeit zur erfolgreichen Zielerfassung: „Suche nach Namen, Geburtsdatum, Geburtsort und Besonderheiten von Wohnort, Essen und Gebräuchen. Studiere die lokale Kultur und Politik. Studiere die persönlichen Interessen, das Horoskop, die Namen der Familienmitglieder, den Arbeitsplatz, die Geschichte des Landes, Kultur, Landschaft, lokale Berühmtheiten, Filmstars, Musik, Tabus“. Auch der Grund für die Mühsal wird mitgeliefert: „Das sind alles Themen für Gespräche.“
Bevor der Betrüger sich auf sein Opfer stürzt, gehe er einer Frage nach, sagt Troy G., der selbst einen beträchtlichen Teil seines Geldes verloren hat und heute als „Investigator“ gegen die Abzocker im Internet vorgeht: „Wer bist du?“ Dann beginne das Gespräch mit einer angeblich versehentlich geschickten Nachricht etwa auf Whatsapp, für die sich der Sender entschuldige – und prompt einen Anlass habe, mit seinem späteren Opfer ins Gespräch zu kommen. „Je mehr Details du kennst, umso besser“, heißt es dazu auf der chinesischen Power-Point-Anleitung. Die ersten Minuten seien für den Betrüger am wichtigsten, sagt Troy G.: Er versuche herauszufinden, wie viel Geld der andere hat – und was er sich wünscht: „Bei Singles kann das Liebe sein.“
Er habe sich geschmeichelt gefühlt, als ihn die hübsche Unbekannte auf Instagram nach seinen Hobbys gefragt habe, sagt der Thüringer André S. im Gespräch mit der F.A.Z. am Telefon. Er will über die Methoden der Betrüger aufklären, aber die Sache ist dem Mittdreißiger auch peinlich. Die Frau habe gefragt und gefragt, aber auch vieles von sich selbst preisgegeben. „Wir haben uns gut verstanden.“ Und das auf Deutsch. Schon lange müssen die Betrüger in den Scam-Camps nicht mehr die Landessprache ihrer Opfer beherrschen, von Künstlicher Intelligenz befeuerter Software für die Übersetzung in Echtzeit sei Dank. Betrüger benutzen sogar Profilfotos nichts ahnender Menschen aus dem Internet und lassen von der KI ganze Videos mit dem gestohlenen Gesicht erstellen, in denen der Betrüger mit falscher Identität angeblich gerade durch eine bekannte Einkaufspassage im Wohnort seines Opfers spaziert. Wie dem auch sei, irgendwann habe ihm seine Bekanntschaft von der neuen Börse für Kryptowährung erzählt, sagt André S., der immer noch Single ist. „Und ich habe überwiesen.“ Warum, weiß er heute auch nicht mehr, nur eines: „Es kann jeden treffen.“