Deutschland will endlich den Durchbruch schaffen. Bei Bürokratieabbau, Digitalisierung und der Modernisierung des Staates. Spricht man mit denjenigen, die Wege suchen, auf denen die nächste Regierung das hinkriegen kann, schwärmen sie vom Gotthardbasistunnel als Vorbild. So müsse es laufen. 2016 wurde in der Schweiz, ein Jahr früher als geplant und nur um ein Drittel teurer als veranschlagt, der längste Eisenbahntunnel der Welt eröffnet.
Nachdem sich in einer Volksabstimmung eine Mehrheit der Schweizer für das Projekt ausgesprochen hatte, gab es keinen Widerstand mehr. Es gab keine Bürgerinitiativen, die das Projekt auf den letzten Metern noch aufhalten wollten. Alle 14 Tage wurden alle, die mit dem Tunnel zu tun hatten, in Workshops geschult und auf den neuesten Stand gebracht. Alle hatten ein klares Ziel vor Augen, die zu erledigenden Aufgaben wurden präzise definiert. Die Risikoanalyse des Projekts wurde immer wieder angepasst. Die Verantwortlichen berichteten direkt an die Regierung, die Bahn durfte nicht reinreden. So wurde der Gotthard-Tunnel zum Erfolg.
Also auf Schweizer Seite. Nicht auf deutscher Seite. Denn in Deutschland verhinderten Bürgerinitiativen, dass die Zubringerstrecke rechtzeitig fertig werden konnte. So wurde der Gotthard-Tunnel, ein Durchbruch nach Maß, zur Blaupause für ein politisches Projekt, über das schon Jahre, eigentlich Jahrzehnte diskutiert wird, das aber nie verwirklicht wurde: eine umfassende Reform des Staates, damit vieles schneller, effizienter und günstiger wird. Das Stichwort Bürokratieabbau war schon lange ein sicherer Baustein von Koalitionsverträgen, doch jetzt hat das Thema eine noch größere Dringlichkeit bekommen. Denn die Wirtschaft lahmt, und der Glaube der Bürger an die Kompetenz des Staates ist auf einem Tiefpunkt.
Klingbeil wirbt für Mentalitätswechsel
Es mache in Deutschland keinen Spaß mehr, ein Unternehmen zu gründen, sagte SPD-Chef Lars Klingbeil kürzlich. Kontrollen müssten runtergefahren, dafür die Haftung hochgefahren werden. Man wolle den Bürgern und Unternehmern mehr Vertrauen entgegenbringen. „Wir müssen überall effizienter, zielgenauer und professioneller werden.“ Es brauche einen Mentalitätswechsel in Deutschland. Sonst würden auch die 500 Milliarden Euro, die in den nächsten Jahren in die Infrastruktur investiert werden sollen, nicht auf Straße und Schiene kommen. Auch der Bundespräsident hat sich des Themas angenommen, indem er die Schirmherrschaft für eine Reformrunde aus früheren Ministern, einem Verfassungsrechtler und einer Medienmanagerin übernommen hat.
Spitzenpolitiker von Union und SPD verknüpfen die Frage nach der Modernisierung des Staates inzwischen immer häufiger mit der Demokratiefrage: Nur ein gut funktionierender Staat werde von den Bürgern auch wertgeschätzt und unterstützt. „Strukturreformen sind eine Gelingensbedingung für den Erfolg unserer Regierung“ – heißt es gleich zu Anfang im Papier zur Staatsmodernisierung, das die Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des Koalitionsvertrages verfasst hat. Schwarz und Rot knüpfen ihr Schicksal an diese große Reform.
Im Ziel ist man sich also einig – doch über den Weg streitet man sich schon. In dem Arbeitsgruppenpapier waren noch viele Passagen blau oder rot, also strittig zwischen CDU/CSU und SPD. Als Faustregel gilt: Wo die Union auch mal mit radikaleren Maßnahmen den Knoten zerschlagen, sogar Personal reduzieren wollte, witterte die SPD den Sozialkahlschlag. Einen Gotthard-Moment konnte man lange nicht herauslesen.
Das Thema ist jedenfalls ganz oben angekommen. Nicht nur dass die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ der einstigen Bundesminister Thomas de Maizière (CDU) und Peer Steinbrück (SPD), des ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle und der Medienmanagerin Julia Jäkel von der Arbeitsgruppe Bürokratieabbau zustimmend erwähnt wurde. Schon während der Vorbereitung des Koalitionsvertrages wurden die Initiatoren der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ zugeschaltet zu den Beratungen der Arbeitsgruppe 13, die sich mit dem Bürokratieabbau befasste. Auf große Aufmerksamkeit stießen beispielsweise die Vorschläge zur Verbesserung der Digitalisierung. „Die Einrichtung eines Ministeriums für Digitalisierung und Verwaltung mit einem eigenen Budget und umfassenden Kompetenzen halten wir für eine der prioritären Aufgaben, die erfüllt werden müssen“, sagt Peer Steinbrück im Gespräch mit der F.A.Z.
Merz nennt Staatsmodernisierung zentrale Aufgabe
Auch der mutmaßlich nächste Bundeskanzler, Friedrich Merz, adelte den Vorstoß Mitte März vor dem Bundestag in der Debatte über die Grundgesetzänderung wegen der Aufnahme von Milliardenschulden. Man habe die 30 Vorschläge dieser „Reformkommission“ mit deren Mitgliedern erörtert, sagte der CDU-Vorsitzende. „Meine Damen und Herren, darunter sind Vorschläge, die wir außerordentlich ernst nehmen sollten.“ Merz versprach, man werde diese „Vorschläge für einen modernen Staat“ in der geplanten Koalition mit den Sozialdemokraten im Blick haben. Die Staatsmodernisierung sei die zentrale Aufgabe.
Dahinter steht die Erkenntnis, dass noch so viele Milliarden Euro nichts nutzen, wenn die Mühlen bei der Rüstungsbeschaffung oder der Genehmigung von Infrastrukturvorhaben weiter so langsam mahlen wie bisher. Die vier Initiatoren hatten sich ursprünglich bis zum Herbst dieses Jahres Zeit nehmen wollen, um ihre Vorschläge vorzulegen. Als die Bundestagswahl dann auf den Februar vorgezogen wurde, beschlossen sie, ihren Zwischenbericht schon im Frühjahr zu präsentieren. Er enthält Vorschläge zu einer wirkungsvolleren Gesetzgebung, zu einer Reform des Bund-Länder-Verhältnisses, zur besseren Digitalisierung von Staat und Verwaltung, zum Umgang mit Migration oder auch zum Datenschutz.
Im Inhaltsverzeichnis findet sich das Wort Bürokratieabbau zwar nicht. Aber es schwebt als Botschaft über vielen der Vorschläge: mehr Transparenz und Klarheit von staatlichen Verfahren. Das kann mal höhere Geschwindigkeit, mal mehr Gründlichkeit verlangen. Vor diesem Hintergrund war es eine Botschaft, dass die Koalitionäre in spe die ersten Ergebnisse ihrer Gespräche ausgerechnet im nutzbaren Teil des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses präsentierten. Als wollten sie zeigen, dass Schicksale wie das des nordöstlich vom Reichstagsgebäude gelegenen Komplexes mit Abgeordnetenbüros durch effektiveres staatliches Handeln künftig verhindert werden sollten.
Mit dem Bau des Lüders-Hauses war 2010 begonnen worden. Der westliche Teil ist seit Langem in Betrieb, der östliche steht bis heute ungenutzt da wie ein Mahnmal des Versagens am Bau. Die ursprünglich für 2014 geplante Eröffnung scheiterte an einer undichten Bodenplatte, durch die das Wasser der Spree in den Keller eindrang. Während der Reparaturarbeiten erblickte eine neue Verordnung der Europäischen Union das Licht der Welt, die schärfere Regelungen für technische Anlagen vorsieht, wenn diese erst nach dem 20. Dezember 2018 in Betrieb genommen werden. Also musste im Blockheizkraftwerk des Abgeordnetenhauses eine Abgasreinigungsanlage nachgerüstet werden. Wieder teurer. Wieder später.
Frustrierende Erfahrungen im Maschinenraum der deutschen Verwaltung
„Es gibt einfach keine Kenntnis darüber, wie Projekte funktionieren“, fasst es Christoph Verenkotte zusammen. Und das sei nicht eine Folge einer politischen Agenda, sondern „Ergebnis von Ignoranz und Wurschtigkeit“. Verenkotte hat viel erlebt im politischen Betrieb, als Ministerialdirektor im Bundesinnenministerium und Präsident des Bundesverwaltungsamts hat er frustrierende Erfahrungen im Maschinenraum der deutschen Verwaltung gemacht. Jetzt ist er Pensionär und hat die Befürchtung, dass Deutschland einfach so weitermacht wie bisher. Schwerfällig und langsam.
Ein Beispiel aus Verenkottes früherem Job: Das Bundesverwaltungsamt ist für eine Reihe von Verwaltungsaufgaben des Bundes zuständig. Etwa die Rückforderung von Bafög-Darlehen. Kein Student könne verstehen, was er genau tun müsse, sagt Verenkotte. Der Paragraph sei ein Beispiel für Bürgerabschreckung. Es habe bei seiner Formulierung kein Ziel gegeben, dem gefolgt worden sei. Das ist für Verenkotte eines der grundsätzlichen Probleme: Gesetze und Vorschriften werden in Deutschland nicht anhand von Zielen, die erreicht werden sollen, gemacht. Der CDU-Politiker Ralph Brinkhaus hat nachgerechnet: Im Koalitionsvertrag von 2021 gab es 453 Regierungsvorhaben. 98 Prozent waren Versprechen, dass man etwas tut. Nur zwei Prozent waren Versprechen, dass man einen konkreten Zustand erreichen will.
Politiker sind sich einig, dass mehr Ziele gebraucht werden. Politiker sind sich vermutlich aber auch darin einig, dass sie nicht kritisiert werden wollen, wenn sie diese Ziele verfehlen. Wie es Olaf Scholz beim Wohnungsbau erging. Und die Ziele, die die Arbeitsgruppe für die Modernisierung des Landes formuliert hat, findet der frühere Präsident des Bundesverwaltungsamts meist unzureichend.
Dass Eltern nach der Geburt automatisch einen Kindergeldbescheid bekommen sollen? Gibt es in Österreich schon seit zehn Jahren. Die Einführung einer digitalen Identität, um Behördengänge überflüssig zu machen? Da seien Indien und die baltischen Staaten längst weiter. Und dass die Union mindestens 15 Prozent weniger Personal in der Ministerial- und Bundestagsverwaltung wolle, sei zwar ein guter Ansatz – werde durch den demographischen Wandel aber eh passieren. Stattdessen brauche der Staat eine Strategie, wie er mit weniger Leuten und einer vermutlich dauerhaft hinterherhinkenden Digitalisierung umgehen wolle, findet Verenkotte. Die Enttäuschung der Bürger sei sonst programmiert. Der Fachmann liest insgesamt zu viel Vorsicht und Verzagtheit aus dem Papier. Die Union wolle immerhin ein Sofortprogramm für den Bürokratierückbau. Die SPD will es aber lieber nur „Programm“ nennen.
Für die künftige Mehrheit im Bundestag, also die vermutlich von Merz geführte Koalition, beginnen weite Teile der geplanten Verbesserungen mit dem Gesetzemachen. Viel Streit hatte es in der vorigen Legislaturperiode darüber gegeben, dass Beratungsfristen für Gesetze zu oft drastisch verkürzt worden waren. Auch hier haben die Initiatoren der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ Verbesserungsvorschläge.
Die Regelfristen für Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren müssten wieder eingehalten werden, schreiben sie in ihrem Zwischenbericht. „Wir brauchen weniger Gesetze, die aber gründlicher beraten werden müssen“, sagt Peer Steinbrück. „Dann werden sie besser und erübrigen Bürokratie.“ Der erste Test, ob die neuen Koalitionäre sich an solche Empfehlungen halten, kann umgehend stattfinden.