„Mama, ich lebe und werde dich wiedersehen“

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Switlana Logoscha träumt davon, endlich wieder ihren Sohn in die Arme nehmen zu können. So steht es auf dem Pappschild, das sie in den Händen hält. Seit drei Jahren schon ist Wadym Logoscha ein Kriegsgefangener der Russen. Mit Hunderten anderen steht seine Mutter am letzten Sonntag im März im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew und demonstriert für Wadyms Freilassung. Um die Schultern hat sich Switlana Logoscha, eine zierliche Frau Anfang 50, eine blau-gelbe Fahne gebunden. Logoscha weiß nicht, wie es ihrem Sohn geht. Sie weiß nicht einmal, ob er ihre Briefe erhält. „Ich schreibe ihm trotzdem“, sagt sie mit der Überzeugung einer Mutter, die nicht aufgeben will.

Wadym Logoscha hat in der Asow-Brigade gedient. Nach dem Schulabschluss zog er von Kiew in die südukrainische Hafenstadt Mariupol. Das war 2021, als der Krieg in der Ostukraine schon sieben Jahre lang tobte. Er wollte sein Land verteidigen, sagt seine Mutter. Als Russland im Februar 2022 seine Vollinvasion begann, kämpfte auch der Artillerist Wadym mit. Seine Einheit hielt dem russischen Bombenhagel bis Mitte März stand. Dann wurden sie gefangen genommen. Andere Teile der Brigade verschanzten sich mit weiteren ukrainischen Soldaten und Hunderten Zivilisten im Mariupoler Stahlwerk Asowstal. 86 Tage lang verteidigte die Asow-Brigade die Stadt. Wenn sie davon spricht, schwingt Stolz in Logoschas Stimme mit. Am 20. Mai 2022 kapitulierten die letzten Soldaten vor den russischen Truppen. Da lag die Stadt schon in Trümmern, und Tausende Zivilisten waren getötet worden.

„Free Azov“: Demonstrantinnen in Kiew Mitte Februar
„Free Azov“: Demonstrantinnen in Kiew Mitte FebruarGetty

In Kiew ist die Erinnerung an die Verteidiger Mariupols allgegenwärtig. Asowstal ist zum Symbol des ukrainischen Widerstands geworden. An der Fassade des Kiewer Rathauses fordert ein großes Transparent, die von Russland gefangen gehaltenen Soldaten zu befreien. An Hauswänden hängen Plakate, die auf ihr Schicksal aufmerksam machen. In Cafés hängen Schilder im Fenster: „Free Azov“.

Dennoch fürchten die Angehörigen, dass die Soldaten vergessen werden könnten. Jedes Wochenende rufen sie deshalb im ganzen Land zu Kundgebungen auf: von Lemberg (Lwiw) und Uschgorod im Westen bis in die näher an der Front gelegenen Städte Ochtyrka und Saporischschja. In Kiew findet immer sonntags eine Demonstration statt, jedes Mal an einem anderen Ort, aber immer um Punkt zwölf.

An diesem Sonntag haben sich die Demonstranten rund um eine Kreuzung im Stadtzentrum aufgestellt. Sie stimmen keine Sprechchöre an, rufen keine Parolen, sondern stehen bloß friedlich mit ihren Schildern in der Sonne. „Free Mariupol Defenders“ steht darauf oder „Schweig nicht, Gefangenschaft tötet“. Der Sound der Demonstration kommt von den vorbeifahrenden Autos, die in ein zwei Stunden andauerndes Hupkonzert einstimmen.

„Mach dir keine Sorgen, Mama“

Switlana Logoscha steht mit ihrem Schild direkt an der Straße, gut sichtbar. Sie sagt, die Asow-Kämpfer werden an verschiedenen Orten gefangen gehalten, sogar nördlich des Polarkreises. „Die Russen haben Angst vor Asow“, meint sie. Ihr Sohn kam nach seiner Gefangennahme zunächst nach Oleniwka im Osten der Ukraine. Als Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im Mai 2022 dorthin kamen, konnte sie kurz mit ihm telefonieren. „Mama, ich lebe, und es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen. Ich denke, ich werde dich in ein paar Monaten wiedersehen“, sagte er.

Wenig später geriet Oleniwka in die Schlagzeilen. Bei einer Explosion in dem russischen Gefängnis der Stadt wurden Ende Juli 2022 Dutzende ukrainische Kriegsgefangene verwundet und getötet. Die meisten waren Soldaten aus dem Stahlwerk Asow. Russland behauptete, die ukrainische Armee hätte das Gefängnis mit einer amerikanischen Rakete beschossen. Recherchen von Journalisten und Untersuchungen der Vereinten Nationen schließen diese Version aus. Wahrscheinlicher ist, dass die Russen selbst hinter der Explosion stecken.

Junge Demonstrantinnen Ende März in Kiew
Junge Demonstrantinnen Ende März in KiewOthmara Glas

Ob ihr Sohn bei der Explosion verletzt wurde, weiß Logoscha nicht. Was sie weiß: Nach seiner Zeit in Oleniwka wurde er in die russische Küstenstadt Taganrog am Asowschen Meer gebracht. Im September 2023 sah sie ein Interview, das er in Gefangenschaft gegeben hatte. Vier Monate später erfuhr sie, dass Wadym von einem russischen Gericht zu 24 Jahren Haft verurteilt worden war.

Im vergangenen Sommer dann erhielt Logoscha einen Brief von ihrem Sohn. Demnach ist er wieder in der Ukraine, in der russisch kontrollierten Stadt Makijiwka, gleich neben Donezk. Seitdem ist der Kontakt abgebrochen. Logoscha zieht ihr Telefon aus der Jackentasche und zeigt Fotos ihres Sohnes, der jetzt 23 Jahre alt ist. Wadym mit kurz geschorenen Haaren in Uniform, Wadym, strahlend, zwischen seinen beiden Schwestern.

842 Kämpfer der Asow-Brigade befinden sich nach Angaben ihres Kommandeurs Denys Prokopenko derzeit in russischer Kriegsgefangenschaft. Er selbst gehörte zu den letzten Verteidigern des Asowstal-Stahlwerks und geriet am 20. Mai 2022 in die Hände der Russen. Er kam vier Monate später in einem Gefangenenaustausch frei. Prokopenko kritisiert, dass die Soldaten seiner Brigade nicht vorrangig ausgetauscht werden, obwohl dies von der ukrainischen Regierung versprochen worden sei. Zwar verhandeln Russland und die Ukraine regelmäßig über den Austausch von Kriegsgefangenen, doch stehen Soldaten aus dem Stahlwerk nur selten auf den Listen. Als im Februar 150 Soldaten ausgetauscht wurden, war laut Prokopenko kein einziger aus der Asow-Brigade dabei. Beim bisher letzten Austausch Mitte März waren es sechs von 175.

Ukrainische Kriegsgefangene sind nach einem Gefangenenaustausch Mitte März in ukrainische Fahnen gehüllt.
Ukrainische Kriegsgefangene sind nach einem Gefangenenaustausch Mitte März in ukrainische Fahnen gehüllt.Reuters

Logoscha will sich nicht negativ über die ukrainische Regierung äußern. Sie fühlt sich von ihr gut unterstützt, steht auch in Kontakt mit dem ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten. Andere Angehörige drücken wie Prokopenko ihren Unmut darüber aus, dass sich fast drei Jahre nach dem Fall Mariupols noch immer Hunderte Asow-Soldaten in Kriegsgefangenschaft befinden.

Dass es noch immer so viele sind, dürfte auch damit zu tun haben, dass Asow einen prominenten Platz in Wladimir Putins Erzählung von den ukrainischen Nazis einnimmt, gegen die sich Russland verteidige. Die im März 2014 als Freiwilligenbataillon gegründete Gruppe hatte anfangs enge Verbindungen zur nationalistischen und rechtsextremen Szene. Ihr Abzeichen erinnerte an ein Hakenkreuz oder eine Wolfsangel, ein Symbol, das von Rechtsextremisten und Nationalisten in aller Welt benutzt wird.

Als Russland die Krim und Teile des Donbass besetzte, erzielte das Asow-Bataillon aufseiten der ukrainischen Armee wichtige Erfolge. Wenige Monate nach der Gründung wurde es in die ukrainische Nationalgarde eingegliedert. Seitdem hat sich die Gruppe mehrmals vom Rechtsextremismus distanziert und gilt heute vor allem als Eliteeinheit.

Wohl mehrere Tausend Ukrainer in Kriegsgefangenschaft

Für den Kreml spielt das keine Rolle. Wenige Tage nach der Explosion in Oleniwka wurde die Asow-Brigade zur „Terrororganisation“ erklärt. Ende März verurteilte ein russisches Gericht 23 ukrainische Kriegsgefangene wegen ihrer Zugehörigkeit zu Asow zu langjährigen Haftstrafen. Elf von ihnen waren während des Verfahrens gegen russische Soldaten ausgetauscht worden. Gegen sie erging der Schuldspruch in Abwesenheit.

Genaue Angaben, wie viele ukrainische Soldaten sich in russischer Kriegsgefangenschaft befinden, sind schwer zu bekommen. Es dürften mehrere Tausend sein. Zu den Demonstrationen der Asowstal-Familien kommen immer auch Angehörige von Soldaten anderer Einheiten. Manche von ihnen sind nicht einmal sicher, ob die Freunde und Verwandten, die sie vermissen, in russische Kriegsgefangenschaft geraten sind.

So ist es auch bei Anhelina. Vor einem Jahr hat sie den Kontakt zu ihrem Onkel verloren. Leonid war in der 241. Brigade, deren Einheiten auch im Donbass im Einsatz sind und unter anderem in der monatelangen Schlacht um Bachmut kämpften. Oleksej vermisst seinen Freund Ilhor. Er vermutet ihn in russischer Kriegsgefangenschaft und demonstriert jeden Sonntag. Auch Ilhor hat nicht in der Asow-Brigade gekämpft, sondern in einer anderen Einheit. „Wir warten auf seine Rückkehr, solange es nötig ist“, sagt Oleksej.

Manchmal ist der Protest auch laut: Kundgebung in Kiew Mitte März
Manchmal ist der Protest auch laut: Kundgebung in Kiew Mitte MärzReuters

Andere vermissen niemanden. Sie kommen zu den Kundgebungen, um ihre Unterstützung für die Gefangenen und ihre Familien auszudrücken. „Hierher zu kommen, ist alles, was ich tun kann. Die Leute nicht vergessen lassen, dass es die Kriegsgefangenen gibt“, sagt eine junge Frau namens Schenja. „Sie sind seit drei Jahren in Gefangenschaft, das kann einem schon Angst machen.“ Alle hier kennen die schrecklichen Bedingungen, unter denen die Gefangenen leiden.

Denn diese Bedingungen sind gut dokumentiert. Die Vereinten Nationen veröffentlichen regelmäßig Berichte zur Menschenrechtslage in der Ukraine, auch zur Situation der Kriegsgefangenen. Die aus russischer Gefangenschaft entlassenen Soldaten berichten von systematischer Folter, von Schlägen, Elektroschocks, sexueller Gewalt, Schlafentzug, zu wenig Essen. Oft wird trotz schwerer Verletzungen medizinische Hilfe verweigert. Viele der Ukrainer müssen die russische Hymne, Lieder und Gedichte lernen, in denen Russland glorifiziert wird. Die meisten haben keinen Kontakt zu ihren Familien.

Für die Schläge müssen sie sich bedanken

Das Medium „Ukrainska Prawda“ interviewte nach ihrer Freilassung mehrere Soldaten, die im Stahlwerk Asowstal gefangen genommen worden waren. Valerija Subotina, Presseoffizierin bei Asow, erinnert sich in dem Gespräch an ihre Ankunft in einem für seine Gewalt besonders berüchtigten Gefängnis in Taganrog: „Dich verfolgen und schlagen alle, die in den Korridoren stehen, mit einem Stock, mit ihren Händen. Sie schlagen dich hart, aber du bist auf Adrenalin und spürst nicht viel.“

In einem Büro wurde Subotina gezwungen, sich nackt auszuziehen. Sie schlugen sie auf die Brüste und den Hintern. „Sie demütigen dich.“ Subotina wurde als „Asow-Schlampe“ und „Prostituierte“ beschimpft. Und für alles müsse man sich bei der Russischen Föderation bedanken, sagt sie, auch für die Schläge.

Zuletzt mehrten sich die Berichte von ukrainischen Kriegsgefangenen, die aufgrund der Folter und mangelnden Versorgung ums Leben kamen. Die Vereinten Nationen stellten zudem fest, dass es vermehrt zu Hinrichtungen von ukrainischen Kriegsgefangenen gekommen sei. Demnach seien zwischen August vergangenen und Februar diesen Jahres 79 von ihnen hingerichtet worden. In dem Bericht heißt es auch: „Viele ukrainische Soldaten, die sich den russischen Streitkräften ergaben oder sich in deren Gewahrsam befanden, wurden auf der Stelle erschossen.“

Die Berichte der freigekommenen Soldaten ähneln sich. Viele magern in der Gefangenschaft ab. Einigen der Demonstranten in Kiew merkt man ihre Hilflosigkeit angesichts dieser Berichte an. Switlana Logoscha hingegen wirkt entschlossen. Die Kundgebungen geben ihr das Gefühl, nicht allein zu sein. „Diese Gemeinschaft ist eine Unterstützung“, sagt sie. Und zwar nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Soldaten, die aus der Gefangenschaft zurückkehren. Die Russen hätten ihnen vorher erzählt, dass sich niemand um sie kümmere, dass sie niemand brauche, dass es die Ukraine nicht mehr gebe. Dann sehen die Heimkehrer, wie sehr sie zu Hause unterstützt werden, und das helfe ihnen bei der Genesung, ist Logoscha überzeugt.

Sie will auch weitermachen, wenn Wadym wieder da ist. „Wir werden diese Kundgebungen so lange abhalten, bis der letzte Soldat freigelassen wird.“