Mit zwei Sprüngen federt der Kandidat auf die kleine Bühne, aus deren Lautsprechern gerade noch „Highway To Hell“ und „T.N.T.“, Hardrock der australischen Band AC/DC, brüllte. Als Systemsprenger sieht sich auch Sławomir Mentzen, der jetzt ein „Guten Tag, Kraśnik!“ über den Markplatz der Kleinstadt im Südosten Polens ruft, auf dem sich an diesem Nachmittag rund 500 Menschen versammelt haben.
Und Mentzen legt sofort los, spricht direkt eine Niederlage an, die er gerade vor Gericht kassiert hat, weil er Lügen über Polens Parlamentspräsidenten im Zusammenhang mit Migranten verbreitet hatte. Vor seinem Publikum deutet er das Urteil in einen Sieg um und macht sich über die Richter lustig.
Das kommt an. „Der traut sich was“, lautet der Tenor. Im Publikum sind vor allem junge Menschen, in den ersten Reihen fast ausschließlich Schüler, die gerade Unterrichtsschluss haben. Viele dürfen noch gar nicht wählen, aber sie sind sichtlich begeistert von dem Kandidaten.
Die Stimmung changiert zwischen „Endlich mal was los in unserer Kleinstadt“ und „Ach, du auch hier“-Begegnungen. Einige wedeln mit „Mentzen 2025“-Fähnchen, die Helfer verteilt haben, andere haben weiß-rote polnische Flaggen mitgebracht. Viele halten ihre Handys hoch, machen Selfies oder nehmen Videos auf, die sie später im Internet auf Instagram oder Tiktok teilen.
Mentzens Erfolg ist ein Schock für die PiS
Mentzen, 38 Jahre alt, ist Vorsitzender der Konfederacja, einer Partei, die Wirtschaftsliberale, Rechtsextreme, Monarchisten und Eurokritiker vereint und im Sejm, dem polnischen Parlament, drittstärkste Kraft ist. Auf Tiktok, einer bei Jugendlichen beliebten Plattform für kurze Videos, ist er ein Star. 1,6 Millionen Menschen folgen ihm dort, mehr als allen anderen elf Kandidaten zusammen, die am 18. Mai bei der Präsidentschaftswahl mit ihm antreten. Dann entscheiden die Polen, wer Nachfolger Andrzej Dudas wird, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten darf.
Lange sah es so aus, als ob auch der neue Präsident aus einem der seit 20 Jahren die polnische Politik bestimmenden Lagern kommen wird: entweder aus dem liberal-mittig-konservativen Feld der Bürgerkoalition (KO) von Ministerpräsident Donald Tusk, die den Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski nominiert hat, oder aus dem nationalistisch-rechtskonservativen Spektrum der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), die mit dem Historiker Karol Nawrocki antritt.
Bisher führte Trzaskowski, der vor fünf Jahren nur knapp gegen Duda verloren hatte, alle Umfragen an. Doch jüngst schob sich mehrfach Mentzen vor den bisher Zweitplatzierten Nawrocki. Das ist vor allem für die PiS ein Schock, die nach dem Machtverlust bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren das Präsidentenamt verteidigen will. Doch auch für Trzaskowski wäre eine Stichwahl gegen Mentzen ein hohes Risiko.
Seit dem Herbst auf Tour durch Polen
Denn Mentzen positioniert sich bewusst als Außenseiter des Politikbetriebs, was ihn vor allem für Enttäuschte und Politikverdrossene attraktiv macht. Politiker der Bürgerkoalition und der PiS hätten Polen ins Chaos geführt und die Gesellschaft gespalten, erklärt Mentzen. Er hingegen werde die Gräben zuschütten und die Nation wieder einen.
Auf einem seiner Tiktok-Videos steht er vor einer Leinwand und sieht sich 20 Sekunden lang das (vermeintliche) politische Chaos in Polen und der Welt an. Dann dreht er sich um, richtet seine Krawatte, knöpft sein Sakko zu und schreitet entschlossen nach vorn, während hinter ihm die polnische Flagge, sein Name und die Jahreszahl 2025 ins Bild wehen.
Mit diesem Macher-Image tourt Mentzen bereits seit vergangenem Herbst durch Polen. Er war der Erste, der seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl bekannt gab. Seitdem ist er in 249 Städten gewesen, Kraśnik ist an einem Mittwoch Anfang April die 250. Station. An manchen Tagen hat er vier Auftritte in verschiedenen Städten, fast immer im ländlichen Polen.
„Wir machen diese Arbeit und investieren viel Zeit und Energie, weil wir uns so sehr wünschen, dass sich die Dinge in Polen endlich ändern“, ruft er. „Weil es uns so sehr am Herzen liegt, dieses System zu ändern, mit dem wir seit so vielen Jahren leben und das wir so satthaben.“ Er schimpft auf die Eliten in Warschau, die Polens Souveränität an Brüssel verkauften, geißelt Bürokratie, ein dysfunktionales Gesundheitssystem, „Ökowahn“ und immer wieder Migranten, die sowohl die PiS als auch die KO ins Land ließen, was zulasten der Einheimischen gehe.
Seine Brauerei stellt „Mentzen-Bier“ her
Mentzen ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Er stammt aus Thorn (Toruń), studierte Ökonomie, promovierte zum Thema Staatsverschuldung und machte sich anschließend mit einer Steuerberatungsfirma selbständig, die auch Filialen in Danzig und Warschau hat. In einer eigenen Brauerei stellt er „Mentzen-Bier“ her und sponsert den Fußballverein seiner Heimatstadt.
Lange versuchte er vergeblich, auch politisch Fuß zu fassen. Er blieb erfolglos bei Bürgermeister- und Kommunalwahlen in Thorn und beim Versuch, ins EU-Parlament und den Sejm zu gelangen. Erst bei den Wahlen 2023 erreichte er als Vorsitzender der Konfederacja mit knapp sechs Prozent der Stimmen in einem Warschauer Wahlkreis ein Mandat im Sejm.
Mentzen will Glücksspiel, Marihuana und Waffen erlauben
Seine politische Vision hat er mal in dem Satz „Jeder polnischen Familie ein Haus, ein Grill, zwei Autos“ zusammengefasst. Sein Wahlprogramm mit dem Titel „Starkes, reiches Polen“ umfasst 20 Punkte, darunter die Verteidigung Polens vor dem Einfluss der EU und der polnischen Grenzen vor dem „Ansturm von Kriminellen aus dem Nahen Osten“, die Privatisierung von Staatsbetrieben, der Abbau von Regulierungen sowie niedrigere und einfachere Steuern.
Er will das Bargeld und den Złoty erhalten, verspricht, „kranke Experimente an der Gesellschaft“ zu stoppen und „Kinder vor linken Demoralisierern“ zu bewahren. Er fordert, „das Niveau der persönlichen Freiheit radikal zu erhöhen“ und somit Glücksspiel, Marihuana und Waffen freizugeben sowie die Impfpflicht zu beenden. Bei Abtreibungen endet sein Freiheitsbegriff jedoch: Sie gehören seiner Ansicht nach selbst bei Vergewaltigungen verboten.
Anders als im Wahlkampf vor zwei Jahren verzichtet er auf die Forderung nach einem Austritt Polens aus der EU, macht aber weiter gezielt Stimmung auch gegen ukrainische Flüchtlinge, von denen mehr als eine Million in Polen leben. Er behauptet, sie würden den Staat mehr kosten, als sie ins System einzahlen, was die Staatliche Entwicklungsbank widerlegt hat: Ein Großteil der Ukrainer in Polen arbeitet und zahlt mehr Beiträge und Steuern, als ihre Landsleute an Sozialleistungen erhalten.
Seine Wähler sind männlich und jung
Am dritten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine fuhr Mentzen nach Lemberg (Lwiw), agitierte gegen einen angeblichen „Bandera-Kult“ in der ukrainischen Regierung und versuchte, die Massaker ukrainischer Nationalisten an der polnischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Und er spricht sich strikt gegen eine Beteiligung Polens an Friedenstruppen in der Ukraine aus.
Umfragen zeigen, dass nicht wenige Sympathisanten Mentzens durchaus Schwierigkeiten mit einzelnen seiner Forderungen haben, doch überwiegen der Glaube, dass es schon nicht so schlimm kommen werde, und die Hoffnung auf tatsächliche Veränderung. Seine Attraktivität zieht er vor allem aus dem Umstand, anders zu sein und aufzutreten als alle anderen.
Er versammelt hinter sich Handwerker und Mittelständler, die von Bürokratie und Abgaben genervt sind, aber auch Menschen mit Universitätsabschluss, die von der Polarisierung zwischen KO und PiS genug haben. Seine Wähler sind überwiegend männlich und vor allem jung; bei den Parlamentswahlen 2023 wurde die Konfederacja unter Wählern bis 29 Jahren mit Abstand stärkste Kraft. Seine Anhänger loben seine Authentizität; sie sind der Meinung, dass etablierte Parteien und Medien ihn gezielt schlechtmachten, und verteidigen ihn deshalb.
Mentzen tritt eloquent und humorvoll auf
Hinzu kommt, dass Mentzen nicht verbissen, sondern eloquent und auch humorvoll, ja selbstironisch auftritt. Weil seine Partei noch nie regiert hat und er noch nie ein Regierungsamt hatte, kann er unbeschränkt klare Kante zeigen. Das unterscheidet ihn von seinen Gegnern von KO und PiS, denen stets auch vorgehalten wird, was ihre Parteien an der Macht vollbracht haben. Sie versuchen, vor allem Fehler zu vermeiden, und erscheinen deshalb eher blass.
Nun hat Polen seit dem EU-Beitritt enorme Fortschritte hingelegt, die auch in Kleinstädten sichtbar sind. In Kraśnik ist der Marktplatz frisch granitgepflastert, kofinanziert von der EU, worauf ein Schild in der Nähe der Bühne Mentzens hinweist. Auch die Läden rund um den Platz sind belebt, es gibt Lebensmittel, Handys und Blumen sowie Brillen und Hörgeräte. Aber wie in vielen Ländern Europas haben auch die ländlichen Regionen in Polen mit Abwanderung und Überalterung zu kämpfen. Schön gemalerte Fassaden und neu asphaltierte Straßen zählen als Erfolge der Vergangenheit, während längst die Frage „Und was wird aus uns?“ dominiert.
Sławomir Mentzen scheint den Nerv dieser Leute zu treffen. Ob er am 18. Mai in die Stichwahl einzieht, ist nicht ausgemacht, wäre für ihn aber eine Sensation. Und es könnte entscheidend zur Mobilisierung im derzeit eher schleppend anlaufenden Wahlkampf beitragen.
Mentzen ist darauf vorbereitet, seine Kampagne ist hochprofessionell und eng getaktet, seine Auftritte folgen dem immer gleichen Muster. Nach seiner Rede macht er noch schnell einige Selfies und fährt dann auf einem E-Roller dynamisch davon zu seinem um die Ecke geparkten Wagen. Die Schüler posten unterdessen schon Videos von und mit ihm. Noch können sie ihn nicht wählen, aber sie verbreiten kostenlos seine Botschaften.