Die liberale Demokratie befindet sich in ihrer größten Krise. Thomas Etzemüller ist in seiner Antwort auf meinen am 4. Februar im Feuilleton der F.A.Z. veröffentlichten Artikel über die Bundestagssitzungen der letzten Januartage im Licht der Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts auf Schweden eingegangen, das in meinem Beitrag nur am Rande vorkam, im Zusammenhang mit „anderen Demokratien“. Hilft das Beispiel Schweden, 1936 von einem bekannten amerikanischen Autor als „The Middle Way“ gepriesen, bei der Frage nach den Krisenlösungspotentialen der liberalen Demokratie heute?
Zur Debatte steht der Anteil linker und konservativer Parteien an der Rettung der Demokratie. Niemand behauptet, dass nur konservative Parteien eine Demokratie gegen Rechtsextremisten stabilisieren können, von Bedeutung waren sie dennoch. Über einige der Zugeständnisse, zu denen sich linke Parteien in Schweden zugunsten der Rettung der Demokratie bereitfanden, lässt sich in Etzemüllers Beitrag mehr erfahren. Wirtschaftspolitische Kompromisse und die Übernahme des konservativen „Volksheims“ gehörten dazu. Am schmerzhaftesten war das Zugeständnis, den Sozialismus als Erwartungshorizont aufzugeben, sich dauerhaft mit einer wohlfahrtsstaatlichen Form des Kapitalismus zu versöhnen und die liberale Demokratie als Selbstzweck zu verstehen. Danach war die Linke eine andere. Um einige Beispiele zu erwähnen: 1926 veröffentlichte Nils Karleby, ein brillanter Vordenker der sozialdemokratischen Hegemonie, das Buch „Sozialismus in der Wirklichkeit“, um die Gemeinsamkeiten von Sozialismus und Liberalismus herauszustellen. In Dänemark verteidigte der Sozialdemokrat Hartvig Frisch 1933 das Ideal einer liberalen „nordischen Demokratie“ gegen jede Form der Diktatur. Sozialdemokratische Politiker, die den schwedischen Wohlfahrtsstaat aufbauten, ließen sich wie Ernst Wigforss, Finanzminister von 1932 bis 1949, durch den britischen Liberalismus oder wie der junge Olof Palme durch den „New Deal“ inspirieren. Das waren große Schritte hin zur Nüchternheit der liberalen Demokratie, aus Verantwortung und Einsicht in die Notwendigkeit.
Ein in der Krise damals in vielen Ländern von der demokratischen Linken bis zur demokratischen Rechten geprägter integrativer Demokratiebegriff wäre eine der wenigen eindeutig auf die heutige Lage übertragbaren Lektionen. Es war die das demokratische Lager rhetorisch spaltende, den Nationalsozialismus verharmlosende Instrumentalisierung des historischen Vergleichs im Bundestag, die zu meiner Intervention Anlass gab.
Demokratie als „Fahnenwort“
Was war die Rolle der Konservativen? Die Stabilität von Demokratien, die von rechtem Extremismus bedroht wurden, hing in der Zwischenkriegszeit von Finnland bis Großbritannien wesentlich von der Stärke konservativer Parteien ab, die sich zunehmend als demokratisch definierten, so lautet eine Pointe der vergleichenden Forschung von David Ziblatt und anderen. Auch die skandinavischen Wohlfahrtsdemokratien waren nicht allein das Werk der Sozialdemokraten. Ihre bürgerlichen und bäuerlichen Gesprächs-, Verhandlungs- und Regierungspartner leisteten einen eigenen Beitrag. Die skandinavischen Demokratien kämpften ab den Zwanzigerjahren mit antiparlamentarischen und faschistischen Strömungen. Von der Verwundbarkeit der Demokratie war die Rede. Die dänischen Sozialdemokraten plakatierten den Slogan „Stauning oder das Chaos“ (Thorvald Stauning war von 1924 bis 1926 und von 1929 bis 1942 Premierminister) – und Dänemark verfügte über eine vergleichsweise stabile politische Ordnung, wie Etzemüller bestätigt. Von 1920 bis 1932 lösten in Schweden zwölf Ministerpräsidenten einander ab. Arvid Lindman formte aus der schwedischen Rechten eine liberal-konservative Partei und bekleidete zweimal das Amt des Ministerpräsidenten. Liberal-individualistische Überzeugungen, wie sie Lindman dem schwedischen Konservatismus einpflanzte, hielten antidemokratische Sympathien bei den Rechtsparteien in Schach. Liberale und moderate Sozialdemokraten wiederum verschmolzen im Wesentlichen zur Partei des demokratischen Kapitalismus.

Was sagen uns diese historischen Beobachtungen heute? Nützlich ist Etzemüllers Hinweis auf die praktische Seite der „mobilisierenden politischen Utopie“ des „Volksheims“, die „dezidiert auf den Einschluss der Menschen ausgelegt“ gewesen sei. „Schwedens Sozialdemokraten hatten eine grundlegend integrierende Vorstellung für ihr Land, und die Konservativen folgten ihnen.“ Damals reisten Politiker durch die Lande und warben für die Demokratie als Lebensform. Demokratie wurde zum „Fahnenwort“, hinter dem sich alle, die den rechten wie den linken Extremismus ablehnten, sammeln konnten. Das war anspruchsvoll auch für die Bürgerinnen und Bürger, die gerade in Schweden zur Selbsterziehung angehalten wurden.
Was könnte diese integrierende Idee einer demokratischen Bürgergemeinschaft für unsere Zeit sein? Was lässt die liberale Demokratie wieder aus der Defensive treten – und wachsende Mehrheiten wieder mit Thomas Mann an den „zukünftigen Sieg“, an das Beglückende der liberalen Demokratie glauben? Welcher radikaler Reformen bedarf es in diesem Augenblick? Wann, wenn nicht jetzt, ist die Diskussion darüber zu führen, scharf und präzise in der Sache, aber mit Generosität und Gemeinsinn, parteiübergreifend im demokratischen Lager? Die entschlossenen und tiefgreifenden Reformen der Dreißigerjahre veränderten die durch multiple Krisen erschütterten Demokratien im Westen fundamental – sie machten sie endgültig zu liberalen Demokratien. Damit begann eine zuvor unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte.
Tim B. Müller ist Historiker. Er veröffentlichte 2014 das Buch „Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien“ und lehrt an der Universität Mannheim.