Johann Wadephul ist erschüttert über Trump und Putin

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Herr Wadephul, die künftige Kabinettsliste ist noch nicht publik, deshalb werden Sie uns nicht sagen wollen, ob Sie bald Außen­minister werden. Aber sagen Sie uns etwas über sich selbst. Was hat Sie als Außenpolitiker geprägt?

Als junger Mann, als ich sehr bewusst Zeitsoldat geworden bin, war es die deutsche Teilung und ein hochgerüsteter Warschauer Pakt. Ich hatte Verwandtschaft in der DDR und erlebte so die Teilung mit all ihrer Brutalität, mit ihren Schießanlagen, mit ihrer Unterdrückung ganz aus der Nähe. Das hat es mir leicht gemacht, mich für die Verteidigung der Freiheit zu entscheiden.

Auch heute haben wir ein aggressives Regime in Moskau. Sehen Sie da Parallelen zu Ihrer Jugend?

Es gibt unzweifelhaft Parallelen, weil auch damals diese Rufe durch die Straßen schollen: „Lieber rot als tot“ oder „Frieden schaffen ohne Waffen“. So dachte die Mehrheit in meinem Abiturjahrgang und etliche meiner Lehrerinnen und Lehrer. Ich gehörte damals zu den wenigen, die zur Bundeswehr gingen. Ich will das nicht zur Heldentat stilisieren, aber das war nicht Mainstream. Wir haben damals auch eine hoch kontroverse Nachrüstungsdebatte gehabt, als die Sowjetunion SS-20-Raketen stationierte und die NATO mit Pershing II und Cruise-Missiles reagierte. Und so etwas erleben wir heute wieder. Sahra Wagenknecht und die AfD rufen dazu auf, „den Frieden“ zu wählen, aber in Wahrheit würde das nur zur Unterwerfung unter Putins Aggression führen. Anders als damals die Sowjetunion führt Russland aber heute Krieg mitten in Europa. Putin ist disruptiv, er ist aggressiv, er ist hungrig. Er will mehr, und er ist bereit anzugreifen.

Glauben Sie, dass er die Hegemonie über ganz Ostmitteleuropa möchte?

Zumindest muss man diese Möglichkeit sehr ernst nehmen. Er hat deutlich gesagt, dass für ihn die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts der Zusammenbruch der Sowjetunion war. Wer das beklagt und dann so vorgeht wie er in Moldau, in Georgien, in der Ukraine und mit hybriden Angriffen gegen NATO-Staaten, dem muss man unterstellen, dass er die Hegemonie über Ostmitteleuropa anstrebt.

Wird Deutschlands Freiheit also heute im Donbass verteidigt?

Definitiv. Es geht um uns alle. Es geht nicht um einige Quadratkilometer in der Ukraine, sondern es geht um die prinzipielle Frage, ob wir einen klassischen Eroberungskrieg in Europa zulassen. Und wenn wir ihn zulassen, dann ist das Vertrauen darauf, dass wir bereit sind, unsere Freiheit zu verteidigen, infrage gestellt. Dann steht auch infrage, ob wir überhaupt bereit sind, in der NATO zusammenzustehen.

In der Ukraine steht also auch die Zukunft der NATO auf dem Spiel?

Ja, denn wer in der Ukraine ausweicht, von dem muss man befürchten, dass er auch anderswo ausweicht.

Frankreich, Großbritannien und andere bereiten jetzt eine Koalition der Willigen vor, die Truppen in der Ukraine zum Schutz eines möglichen Waffenstillstands stellen könnte. Sollte Deutschland dabei sein?

Wir sollten zumindest bei der Konzeptionierung dieser Koalition der Willigen dabei sein, und das sind wir. Wie wir das konkret gestalten, das muss man dann entscheiden.

Warum diese Zweideutigkeit?

Sie müssen in Rechnung stellen, dass wir noch keine neue Regierung haben. Aber ich habe ja klar gesagt, wir sollten bei der Konzeptionierung dabei sein.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, sagt, dass Russland 2029 bereit sein könnte, die NATO in großem Maßstab anzugreifen. Zugleich rechnet er vor, dass Deutschland heute 350.000 bis 360.000 Soldaten mobilisieren könnte, einschließlich der Reserve. Zur Verteidigung seien aber 100.000 zusätzlich nötig. Hat er recht?

Der Generalinspekteur hat sicher recht, und deswegen haben wir als Union der SPD in den Koalitionsverhandlungen vorgeschlagen, sofort eine echte Wehrpflicht zu schaffen. Dazu waren die Sozialdemokraten nicht bereit, und deswegen werden wir jetzt noch mal einen ernsthaften Versuch mit der Freiwilligkeit machen. Aber wir werden sehr schnell feststellen müssen, ob das gelingt mit diesem Aufwuchs um immerhin 100.000 Soldatinnen und Soldaten. Ohnehin müssen ja schon regulär 40.000 ausscheidende Soldatinnen und Soldaten pro Jahr ersetzt werden. Zu denen müssen also genug hinzukommen, um das nötige Wachstum zu schaffen. Ich denke, dass wir uns da spätestens zum Jahresende in die Augen schauen und überprüfen müssen, ob das gelingt.

Wie viele zusätzliche Soldaten müsste Deutschland pro Jahr ausbilden?

Wir bräuchten über vier Jahre je 25.000 zusätzlich. Im ersten Jahr müsste es nicht die größte Zahl sein, weil wir erst Kapazitäten brauchen: Kasernen, Ausbilder, Waffen. Weil wir außerdem sowieso 40.000 Rekruten im Jahr regulär ausbilden müssen, ist das ambitioniert.

Zugleich wachsen die Zweifel an Amerika. Was haben Sie sich gedacht, als Sie den Umgang Präsident Trumps mit Präsident Selenskyj im Weißen Haus und den Auftritt des amerikanischen Vizepräsidenten Vance in München gesehen haben, als der Europa vorwarf, die gemeinsamen Werte zu verraten?

Das war erschütternd, und zwar emotional wie intellektuell. Bei aller Unkalkulierbarkeit der amerikanischen Politik unter Präsident Trump hätte ich nicht gedacht, dass man zu einer derartigen Umkehrung der Verantwortung für den Krieg in der Ukraine kommen könnte, wie das in diesem Wortwechsel im Oval Office geschehen ist. Und der Auftritt von Vance war ein Angriff auf unser freiheitlich demokratisches System in Europa. Darauf müssen wir selbstbewusst antworten.

Wir unterscheiden ja in Deutschland zwischen Gegnern, Alliierten und systemischen Rivalen. Ist Amerika ein Systemrivale?

Nein, in seiner Gesamtheit nicht. Amerika steht zur NATO. Aber es gibt Argumentationen und Verhaltensweisen, die verstörend sind und nicht dem Umgang unter Verbündeten und Freunden entsprechen.

Johann Wadephul: „Der Auftritt von Vance war ein Angriff auf unser freiheitlich demokratisches System“.
Johann Wadephul: „Der Auftritt von Vance war ein Angriff auf unser freiheitlich demokratisches System“.Jens Gyarmaty

Glauben Sie an Amerikas Schutz?

Ja, denn er liegt im ureigensten Interesse Amerikas. Amerika wird am Ende verstehen, dass es die Auseinandersetzung mit China und dessen Verbündetem Russland nur gemeinsam mit Europa gewinnen wird.

Jetzt droht ein Handelskrieg zwischen Europa und Amerika. Rechnen Sie damit, dass Trump irgendwann eskaliert und den Europäern sagt: Verteidigt euch doch allein, ich ziehe meine Soldaten ab?

Solche Ankündigungen hat es ja schon gegeben: Wer nicht genug für Verteidigung ausgibt, den schütze ich nicht. Andererseits hofiert Trump die italienische Premierministerin, obwohl Italien von zwei Prozent Verteidigungsausgaben weit entfernt ist. Ich sehe jedenfalls: Die Mehrheit der amerikanischen Elite weiß, dass eine Gefährdung der NATO eine Gefährdung der USA bedeutet.

Sollte es neben der nuklearen Teilhabe mit Amerika auch eine nukleare Teilhabe mit Groß­britannien oder Frankreich geben?

Wir sollten uns mit Frankreich und Großbritannien jetzt zusammensetzen und darüber nachdenken, was Sinn ergibt. Das muss auf die Tagesordnung. Wir werden zwar nicht in wenigen Jahren zu einer eigenständigen europäischen Abschreckung kommen, aber wenn man nie anfängt, wird man nie fertig.

Sie sprechen also von einer eigenständigen europäischen Nuklearabschreckung?

Zumindest müssen wir über Beiträge zu einer eigenständigen europäischen Abschreckung ernsthaft diskutieren. Ich finde auch, dass der von den Franzosen geprägte Begriff der Souveränität Europas ein Begriff ist, mit dem wir arbeiten sollten. Denn leider haben wir auf vielen Feldern mittlerweile Distanz zu Amerika.

Die Art, wie Meinungsfreiheit neuerdings in Amerika durchbuchstabiert wird, ist völlig anders als in Europa. Wir würden nicht Journalisten von Pressekonferenzen des Regierungschefs ausschließen oder politisch unliebsamen Universitäten die Mittel streichen. Wir würden nie den Betreiber einer Informationstechnologie wie Elon Musk so durch die Regierung protegieren, wie wir das in den USA sehen. Auch die amerikanischen Abschiebeflüge im Konflikt mit der Justiz machen mir Sorgen. Es gibt genug Anlass, als Europa souverän zu werden.

Dafür müsste Europa entscheidungsfähig werden. Im Augenblick aber kann es in der Außenpolitik nur einstimmig entscheiden. Vieles scheitert am einsamen Veto Ungarns, und Schwarz-Rot will deshalb die Einstimmigkeitsregel zurück­drängen. Das wiederum geht aber nur mit Ungarns Zustimmung, und die wird nicht so bald kommen. Eine Zwickmühle. Wie kommt man da raus?

Indem man allen Partnern sagt: Wenn die EU nicht entscheiden kann, gibt es Alternativen. In Bezug auf die Ukraine zum Beispiel hat sich eine Koalition der Willigen herausgebildet, ohne Ungarn. Man wird jetzt Ungarn und alle anderen fragen: Wollt ihr, dass wir die EU für die wirklich wichtigen Fragen am Rand stehen lassen und andere Formate bilden, oder wollt ihr die EU in eine Verfassung bringen, in der sie die Hauptrolle spielen kann? Letzteres ist der deutsche Vorschlag.

„Wer in der Ukraine ausweicht, von dem muss man befürchten, dass er auch anderswo ausweicht.“ Modell des Marschflugkörpers Taurus in Wadephuls Büro.
„Wer in der Ukraine ausweicht, von dem muss man befürchten, dass er auch anderswo ausweicht.“ Modell des Marschflugkörpers Taurus in Wadephuls Büro.Jens Gyarmaty

Neben den USA und Ungarn hat Deutschland unter Olaf Scholz bisher eine Einladung an die Ukraine zum NATO-Beitritt abgelehnt. Sollte Berlin hier den Kurs wechseln und beim nächsten NATO-Gipfel dafür werben, dass die Ukraine eine konkrete Einladung bekommt?

Wir sollten dazu stehen, dass die Ukraine auf einem unumkehrbaren Weg in Richtung NATO ist. Aber im Bündnis gibt es Zurückhaltung in Südwesteuropa und klaren Widerstand aus Amerika. Deswegen würde ich jetzt nicht empfehlen, diese Frage zu einem zentralen Punkt auf dem nächsten NATO-Gipfel zu machen. Der Gipfel muss das Signal sein, dass die NATO erstens zusammensteht und zweitens auch zur Ukraine steht. Die Ukraine muss, wie Friedrich Merz gesagt hat, „vor die Lage“ kommen. Es ist nicht hinnehmbar, dass weiter jeden Tag Hunderte Menschen sterben. Außerdem darf der Ukraine ein bedingungsloser Waffenstillstand, den Putin bisher in keiner Weise eingehalten hat, nicht aufgezwungen werden. Er besitzt ja sogar die Infamie, ausgerechnet am Palmsonntag Dutzende Zivilisten zu ermorden, wie gerade in Sumy. Europa muss Putin und den amerikanischen Verbündeten jetzt zeigen, dass es eine neue europäische Entschlossenheit gibt.

Trump hat nach dem russischen Raketenangriff auf Sumy der Ukraine die Schuld an diesem Krieg gegeben. Außerdem droht er, ihr weniger von den Flugabwehrwaffen zu liefern, welche Putins Raketen stoppen könnten. Was meinen Sie dazu?

Es ist eindeutig, dass Putin diesen Krieg vollständig zu verantworten hat. Alles andere können wir nicht mittragen.

Russische Marschflugkörper und Drohnen können gut mit Flugzeugen gestoppt werden. Mehrere Verbündete liefern welche, Deutschland nicht. Muss sich das nicht ändern?

Ich möchte dazu als Politiker nur sagen, dass wir liefern sollten, was benötigt wird, und dass Militärs entscheiden sollten, was das genau ist. Bei Flugzeugen käme dann die technische Frage auf, ob unsere deutschen Maschinen genau das sind, was man braucht. Ob deutsche Flugzeuge Sinn haben, kann ich Ihnen als Politiker erst einmal noch nicht beantworten.

Sie waren Flugabwehrsoldat. Sie wissen, dass Flugzeuge Luftangriffe stoppen können.

Deshalb haben Sie jetzt von mir ja auch kein Nein gehört. Aber ich würde gerne die Definition dessen, was sinnvoll ist, den Fachleuten überlassen.

Wie sehen Sie die Diskussion in der CDU über die Ukraine? Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagt zum Beispiel, man müsse demnächst wieder russisches Gas importieren.

Das ist in unserer Partei im Wesentlichen eine Diskussion zwischen manchen im Osten und manchen im Westen. Da gibt es Unterschiede, und darüber müssen wir miteinander diskutieren. Mir ist da aus westdeutscher Sicht manchmal zu viel Rosarot im Farbenspektrum mancher ostdeutscher Freunde. Zu wenig Bereitschaft, das Aggressive an Russland zu erkennen. Wir haben da ein wenig den Gesprächsfaden miteinander verloren, und wir müssen ihn wieder aufnehmen. Die Meinung in der CDU als Ganzes ist aber sehr eindeutig: Wir wollen uns nicht wieder in Abhängigkeit von Russland begeben, und wir wissen: Sicherheit und Frieden in Europa gibt es im Augenblick nicht mit, sondern nur gegen Russland.

Wie diskutieren Sie mit Kretschmer?

Wir haben viel miteinander gesprochen, mit unterschiedlicher Meinung, aber freundschaftlich und konstruktiv. Ich verstehe, dass es zu Zeiten der Teilung viele Kontakte zwischen den Menschen in der DDR und der Sowjetunion gab. Die waren zwar oft oktroyiert, aber oft auch tief und eng. Es gab in der Schule veranlasste Brieffreundschaften, man las sowjetische Jugendbücher und sah sowjetische Filme. Dann gab es den ersten DDR-Kosmonauten, der mit einer sowjetischen Rakete ins All flog. Das hat viele emotional angesprochen, und das will ich niemandem vorwerfen. Aber wir im Westen haben das nicht gehabt. Deswegen sind nicht die einen die Guten und die anderen die Schlechten. Wir haben einfach eine unterschiedliche emotionale Herkunft. Die müssen wir miteinander besprechen, denn es gibt immer noch Brüche durch Deutschland.