Im Warteraum des Standesamts von Baoding lassen sie das Licht ausgeschaltet. Es kommt eh fast niemand. Doch, da läuft ein Pärchen den Amtsflur herunter. Herzlichen Glückwunsch, haben Sie geheiratet? „Nein, Scheidung“, antwortet der Mann und muss grinsen. Auch seine frischgebackene Ex-Frau lächelt unter ihrer Mundschutzmaske. So schlimm scheinen die beiden das nicht zu finden.
Sie sind auch nicht allein. Im Amtszimmer mit dem Türschild „Scheidung“ sitzt noch ein weiteres Paar. In China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern werden mittlerweile ebenso viele Ehen geschlossen wie geschieden. Letztes Jahr heirateten nur etwa sechs Millionen Paare. Das waren 20 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Und nur halb so viele Paare wie elf Jahre zuvor. Es war der niedrigste Stand, seit es offizielle Aufzeichnungen gibt. Und in einem konservativen Land wie der Volksrepublik hat das direkte Auswirkungen auf die Geburtenrate, die ebenfalls dramatisch fällt.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Der Leiter des Standesamts heißt Zhao, steht zwei Jahre vor der Rente und hat noch ganz andere Zeiten erlebt in seinen dreißig Berufsjahren. „Den Rekord hatten wir zu Beginn der Olympischen Spiele 2008“, sagt er. Es war das in der chinesischen Kultur besonders glückverheißende Datum 8.8.2008. Zweihundert Paare kamen damals zum Heiraten in sein Standesamt. Heute seien es höchstens noch zehn pro Tag, sagt er. Letztes Jahr zu „Qi Xi“, dem chinesischen Valentinstag, seien immerhin dreißig Paare gekommen. Dafür hatten sie das Standesamt extra an einem Samstag geöffnet.
Um die Leute zum Heiraten zu bewegen, haben sie einiges geändert, sagt Herr Zhao. Er zeigt den neuen Saal, in dem sich Paare das Jawort geben, gleich hinter einer menschenleeren Bücherhalle. Links und rechts der weißen Holzkanzel hängen rote Kunstblumen und kristallene Leuchten, dahinter reihen sich weiße Schemel für die Gäste. 2023 hat das Amt den Saal renoviert, kurz nach der Covid-Pandemie, als die Regierung das Volk aufforderte, man möge wieder heiraten, Kinder kriegen und mehr konsumieren.
Wie sich beim Heiraten Geld sparen lässt
Zhao meint, dass wegen der Schönheit seiner Räume sogar Paare extra aus dem Umland herkommen. Wirklich viele Paare zieht es allerdings immer noch nicht an, gibt Zhao zu. Seine Erklärung: „China ist zu einem modernen Land aufgestiegen, da gehen die Ehe- und Geburtenraten zurück, wie bei euch in Deutschland.“
Und dann kommt doch noch ein Paar ins Standesamt, Händchen haltend und schüchtern blicken sie sich in den Amtsräumen um. Er sagt, er sei 27 Jahre alt und heiße mit Nachnamen Kou. Sie sagt, sie heiße Han, und sie seien heute nur hier, um sich anzumelden und nach den Formularen zu erkundigen, die man mitbringen muss. Denn im Freundeskreis seien sie die Ersten, die heiraten. Und sie wollen am selben Tag die Verlobung und die Hochzeit feiern, „das verdoppelt die Freude“. Und ihre Familien müssen nur einmal zusammenkommen, das spart auch Geld.
Was sie dazu bewegt, jetzt zu heiraten? Frau Han hält die Hand ihres Partners fest in die Höhe und lächelt. Er sagt, ihre Eltern seien etwas konservativ und drängten langsam auf die Hochzeit, seine Eltern würden das lockerer sehen. Herr Kou arbeitet als Logistiker im Theater von Baoding. Das Brautgeld zahlen seine Eltern, rund 100.000 Renminbi in diesem Fall, umgerechnet 15.000 Euro. Diese Summe für das „Caili“ sei immerhin geringer als auf dem Land, sagt er. „Je ärmer die Leute, desto höher das Caili.“ Was gleichzeitig bedeutet, dass sich immer weniger Leute das Brautgeld leisten können oder wollen.
Übertrieben hohe Brautpreise
Die Wirtschaftskrise verstärkt den Rückgang der Hochzeiten. Standesamtschef Zhao erzählt von übertrieben hohen Brautpreisen, die Männer insbesondere in den armen ländlichen Regionen zahlen müssten. In den Gang seines Standesamts hat Zhao deshalb eine Reihe von Slogans auf Holzscheiben drucken lassen: „Lehnen Sie exorbitante Brautpreise ab, und fördern Sie zivilisierte Hochzeitstraditionen.“ Oder: „Lehnen Sie extravagante Hochzeiten ab, wahre Liebe zeigt sich in dauerhaftem Engagement.“ Das Brautgeld ist eine Sicherheit für die Frauen, aber die hohen Raten liegen auch daran, dass es immer weniger Frauen gibt.
In der Zeit der Ein-Kind-Politik zwischen 1980 und 2015 waren viele weibliche Föten abgetrieben worden. Wenn schon nur ein Kind erlaubt war, dann sollte es für viele Eltern ein Junge sein. In dieser Zeit erhöhte der Machtapparat auch das Mindestalter für Hochzeiten und erleichterte Scheidungen. Die Folgen wirken bis heute nach. Seit 2021 propagiert die Regierung zwar eine Drei-Kind-Politik, doch die Geburtenraten sinken immer weiter. Während letztes Jahr sechs Millionen Babys geboren wurden, wird die Zahl der Hunde und Katzen auf 120 Millionen geschätzt. Chinesen kaufen sich lieber Haustiere.

Frau Han schildert noch ganz andere Probleme. „Die jüngere Generation schultert zu viel Druck“, sagt sie. In der Schule paukt man für einen guten Schulabschluss, um einen begehrten Studienplatz zu kriegen. Im Studium paukt man für einen herausragenden Uniabschluss, um dann auf einen der immer weniger werdenden Akademikerjobs zu hoffen. Und wenn man einen hat, heiraten vor allem die Frauen erst mal nicht, weil sie Geld verdienen wollen. Kinder sind teuer, auch wegen der hohen Wohnungspreise, die trotz der Immobilienkrise kaum sinken.
Die Tochter ist eigentlich eine gute Partie
„Unsere Generation ist auch etwas unabhängiger“, fügt Frau Han hinzu. Der Druck der Eltern sei weniger stark. „Aber nur ein kleines bisschen.“ Kinder jedenfalls könne sie sich schon vorstellen, aber erst später irgendwann. Immerhin sind die Wohnungspreise in der Stadt Baoding etwas niedriger als im 160 Kilometer entfernten Peking.
An einer Gabelung des Parkweges steht eine ältere Frau und hält ein laminiertes Papier in der Hand. „Weiblich, unverheiratet, Jahrgang 1995, Tierkreis Schwein, ein Meter sechzig, fünfzig Kilo.“ Es ist ihre Tochter, ihr einziges Kind.
Und ihre Tochter ist eine gute Partie. Sie hat einen Masterabschluss, eine Festanstellung in einem Staatsunternehmen und „kann eine Wohnung kaufen“. Ihre Mutter ist Lehrerin, ihr Vater Unternehmer, gebürtig aus Peking, und „beide haben zwei Versicherungen“. Eine wichtige Information, denn die Versorgung der Eltern ist eine Bürde, die meist den Kindern obliegt.

Die Mutter sagt, sie stehe hier zum ersten Mal im Park, aber bald wird klar, dass sie den Heiratsmarkt häufiger aufsucht. „Meine Tochter ist recht unabhängig“, sagt die Mutter, „sie mag Arbeiten und genießt ihr Leben.“ Sie wolle ihrer Tochter die Entscheidung auch nicht abnehmen und keinen Druck ausüben, beteuert die Mutter. Aber sie frage sich schon, wann sie mal Enkelkinder bekomme. „All die guten Jungs werden seit Tausenden Jahren verheiratet, wer übrig bleibt, sind stets die schlechtesten Männer – und die besten Frauen, weil sie wählerisch und unabhängig sind.“
Ihr selbst seien vor allem die Ausbildung und die Persönlichkeit des künftigen Gatten für ihre Tochter wichtig, Geld sei nicht so entscheidend. Dann bittet die Mutter darum, man möge doch ein Foto von ihrer Anzeige machen, um es über WeChat im eigenen Freundeskreis zu verbreiten.
Der Anteil der unverheirateten Frauen im Alter von 25 bis 29 Jahren ist in China von neun Prozent im Jahr 2000 auf 43 Prozent im Jahr 2023 gestiegen – und dieser Trend werde sich weiter beschleunigen, schätzt der Demograph und Gynäkologe Yi Fuxian, der über die Jahre mehrere chinesische Regierungen beraten hat, bis er in Ungnade fiel. Heute lebt Yi in den USA.
Die Behörden versuchen einiges
Yi nennt die Hauptgründe für diesen Trend: Rückgang der Bevölkerung im gebärfähigen Alter, veränderte Lebensgewohnheiten, die fortwährenden Auswirkungen der Ein-Kind-Politik, der anhaltende Überschuss an Männern und die hohe Jugendarbeitslosigkeit. „Auch die zunehmende Repression, die Schikanen für Unternehmer und die geopolitische Krisensituation verringern indirekt die Geburtenrate, indem sie das Wirtschaftswachstum senken und die Arbeitslosenquote weiter erhöhen.“ Hinzu komme die fehlende Kultur, sagt Yi: „Jahrzehntelange Familienplanungspolitik und antireligiöse Erziehung haben die Familienwerte untergraben.“
Die Behörden der Volksrepublik versuchen jetzt einiges, um Chinesen zum Heiraten zu bewegen. Mit mäßigem Erfolg. In der zentralchinesischen Millionenstadt Changsha eröffnete die Stadtregierung gerade eine „Heiratsschule“ zwischen Cafés und Einkaufsläden. Dort sollen sich junge Paare traditionelle Hochzeitskleider ausleihen und Selfies machen. In einem nachgebildeten Kinderzimmer können sie üben, wie man Windeln wechselt und Babybrei zubereitet. Für allgemeine Empörung sorgten Slogans an den Wänden der Heiratsschule: „Ich würde gern auf das Baby aufpassen“ oder „Ich mache gerne Frühstück“, schließlich: „Drei Kinder zu haben ist das Coolste“.

Das kommt auch in China weniger gut an. „Phantastisch – endlich ein Ort, wo das Zeigen des Mittelfingers aktiv gefördert wird“, schrieb einer im Internet. Eine andere nannte es „Halloween-Dekoration, Chinesischer Horror“. Nüchtern fasst jemand zusammen: „Die Förderung von Ehe und Kindern übersieht die wahren Probleme junger Menschen, wie Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne. Das ist schlichtweg eine Verschwendung von Steuergeldern.“
Die Stadtregierung von Changsha ist mittlerweile nicht mehr so erpicht darauf, ihre Heiratsschule vorzuzeigen. Eine Anfrage der F.A.S. auf Besichtigung lässt ein Sprecher nach anfänglicher Offenheit ins Leere laufen. Die Stadtverwaltung sei zunehmend vorsichtiger, Interviews anzunehmen, sagt er. Dabei haben die Bürokraten von Changsha offenkundig nur versucht, den Vorgaben der Zentralregierung zu folgen.
Staatschef Xi Jinping gab vor anderthalb Jahren die Losung aus, es sei „notwendig, aktiv eine neue Art von Ehe- und Gebärkultur zu kultivieren und junge Menschen in Bezug auf Liebe, Ehe, Geburt und Familie besser zu beraten“. Und auf dem Volkskongress im März hat die Regierung das Vorhaben von „Kinderbetreuungszuschüssen“ erstmals in ihren offiziellen Arbeitsbericht mit aufgenommen.
„Keine Wohnung, keine Kinder, keine nächste Generation“
Die Stadt Hohhot in der Provinz Innere Mongolei hat bereits einmalige Prämien für das erste (1500 Euro), zweite (6500 Euro) oder dritte Kind (15.000 Euro) ausgelobt, auch andere Städte fangen trotz klammer Kassen damit an. Bislang ohne größeren Erfolg. Es gibt kaum Aussicht auf eine Umkehr des Trends. Schon gar nicht in den reicheren Provinzen. In Shanghai lag die Geburtenrate zuletzt bei nur noch 0,6 pro Frau.
Auch in Baoding sieht es nicht viel besser aus. Die Inhaberin eines Geschäfts für Hochzeitsdekoration sagt, ihr Umsatz sei seit dem Vorjahr um dreißig bis vierzig Prozent gesunken. „Der Brautpreis ist einfach zu hoch“, klagt sie. „Junge Familien stehen unter zu großem Druck.“ Als sie vor acht Jahren ihren Laden öffnete, seien ihre Kunden noch in den Zwanzigern gewesen.
Heute kommen nicht nur weniger, sondern die Hochzeitspaare werden auch immer älter. „Kinderkriegen ist zu teuer geworden in Baoding, das ist mit einem Kind schon schwer genug, wie soll es dann mit zwei oder gar drei werden?“ Hinter dem Tresen liegen Stofftiere, Blumen und Kissen mit dem Aufnäher „Werde reich“. Für umgerechnet zweitausend Euro stattet sie eine ganze Hochzeitsgesellschaft aus, für ein wenig mehr verleiht sie dazu noch einen Mercedes mit Blumenschmuck. Der Bräutigam zahle.
Dann fragt sie, ob man den Spruch kenne, der unter jungen Chinesen kursiere. „Keine Wohnung, keine Kinder, keine nächste Generation.“