Was Ostern über Politik lehrt: Die Macht der Kleinen

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Als es den Grünen zuletzt gelang, trotz ihrer Wahlniederlage die Union zu massiven Zugeständnissen in Sachen Sondervermögen zu bewegen, sagten Kritiker, es könne ja wohl nicht sein, dass eine 11,6-Prozent-Partei eine 28,5-Prozent-Partei so an die Wand drücke. Ähnlich waren nun die Reaktionen auf das Verhandlungsergebnis von Union und SPD. Die „Bild“-Zeitung fragte SPD-Chef Lars Klingbeil, wie er angesichts von gerade einmal 16,4 Prozent sieben Ministerien herausverhandeln konnte. Und Caren Miosga wollte von CDU-Chef Friedrich Merz wissen, warum ausgerechnet Markus Söder, Chef einer Partei, die deutschlandweit sechs Prozent erreichte, alles bekommen habe, was er wollte.

Doch erstaunlich war in Wahrheit weniger, dass es den Kleinen gelang, den Größeren zu düpieren, sondern dass das so viele erstaunlich fanden. Haben sie denn nicht Carl Schmitts „Theorie des Partisanen“ gelesen, wo es über den französischen Heeresoffizier Raoul Salan heißt, er habe in den Dschungeln und Reisfeldern Indochinas erlebt, dass Bauern „ein Bataillon erstklassiger französischer Soldaten in die Flucht schlagen konnten“?

Natürlich ist der Größere, der zahlenmäßig Überlegene in vielerlei Hinsicht im Vorteil, selbst dann, wenn ihn einmal die eigenen Kräfte verlassen. „Too big to fail“, hieß es in der Finanzkrise über taumelnde Großbanken, die folgerichtig gerettet wurden. „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“, lautet ein gut begründetes Urteil über die Praxis des Rechtsstaats. Aber Größe kann auch täuschen. Man denke an die Dinosaurier. Oder an Nokia. Oder an Ralf Moeller in seinen besten Zeiten. Wen hätten Sie in einer Schlägerei lieber an Ihrer Seite: Ihn? Oder Gervonta Davis, 1,66 Meter klein, Boxweltmeister im Leichtgewicht?

Das Kleine ist beweglicher

Asymmetrische Konstellationen haben großes kontraintuitives Potential. Im Journalismus gilt die Regel, wenn etwas kaum Nachrichtenwert hat, dann macht man es entweder gar nicht – oder ganz groß. Goethe (oder irgendein anderer großer Dichter) soll mal geschrieben haben: „Ich schreibe dir einen langen Brief, weil ich für einen kurzen keine Zeit habe.“ Recht hatte er, aber man muss ein bisschen darüber nachgrübeln, warum. Anderes liegt eher auf der Hand. Das Kleine ist beweglicher, schneller, anpassungsfähiger als das Große. In der Politik hat sich dafür das Bild vom „Schnellboot“ gegenüber dem „Tanker“ eingebürgert – Söder hat es schon benutzt, um die Vorteile der CSU gegenüber der CDU zum Ausdruck zu bringen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Das Kleine ist im Bewusstsein seiner Kleinheit motiviert, sich mehr anzustrengen als die selbstsicheren, satten Großen. Das Kleine wird übersehen oder zumindest unterschätzt. Im Kleinen kann man sich eher wiederfinden. Das galt sogar für Donald Trump, solange er für sich selbst die Rolle des Underdogs reklamieren konnte. Das Kleine muss, zumindest wenn man etwas von ihm will, pfleglich behandelt werden, und zwar umso mehr, je verunsicherter es ist, siehe SPD. Das Kleine ist auch feiner. Man erkennt das am pejorativen Titel „Großschriftsteller“. Grass oder Walser bekamen ihn angeheftet, weil sie wegen ihrer erdrückenden Allgegenwart zwar als mächtig, aber auch als uncool galten.

Das Wissen um derlei Zusammenhänge spielt in den gegenwärtigen Debatten über Geopolitik und Weltwirtschaft verblüffenderweise kaum eine Rolle. Viele, die als Fürsprecher des Selbstbestimmungsrechts kleiner und kleinster Staaten auftreten und sich gegen das Denken in Großmachtkategorien wenden, haben dieses bereits übernommen. Deutschland, heißt es allenthalben, sei zu klein, um militärisch oder wirtschaftlich zu bestehen. Abhilfe schaffe nur das Zusammenwirken in größeren Einheiten wie der EU.

Es gibt gute Gründe, so zu denken: Auch Schweden und Finnland, die lange von ihrer Kleinheit profitiert haben, sind unter den Schutzschirm der NATO geschlüpft. Auf dem Schlachtfeld in der Ukraine zeigt sich jeden Tag, dass Masse natürlich einen Unterschied macht. Und doch ist die relative Kleinheit der Ukraine nicht nur ein Nachteil: Sie hilft ihr, weltweit Sympathien und Mitgefühl zu wecken und so die Chancen zu erhöhen, besser ausgerüstet zu werden.

Kleine Gesten, ungeheuerliche Wirkung

Soziale Medien sind nicht nur in dieser Auseinandersetzung zentral. Selbst das kleinste Licht kann heute einen Shitstorm erzeugen, der viel Größere hinfort fegt. Auch die Macht, die ein einzelner Terrorist durch seine Tat ausübt, ist gewaltig – und gerade deshalb soll hier nicht näher darauf eingegangen werden. Unter bestimmten Umständen können aber auch gewaltlose Gesten enorme Wirkung erzielen. Wie Greta dort sitzt. Wie Subcomandante Marcos auf einem Pferd reitet. Wie ein altgedienter F.A.Z.-Redakteur von einem Tag auf den anderen mit einem Brilli im Ohr zur Arbeit kommt, ohne jede Erklärung. Gegen eine derartige Ungeheuerlichkeit kommt nicht einmal der Flügelschlag eines Schmetterlings an.

Aber auch auf dem Schlachtfeld kann das Kleine obsiegen oder zumindest standhalten, Stichwort Vietnam, Stichwort Spartaner an den Thermopylen. Drohnen für ein paar Hundert Euro schalten heute mehrere Millionen Euro teure Kampfpanzer aus. Carl Schmitt schrieb Anfang der Sechzigerjahre mit Bezug auf Hermann Foertsch, dass nach 1945 alle kriegerischen Aktionen Partisanencharakter angenommen hätten: „weil die Besitzer von Atombomben deren Anwendung aus humanitären Erwägungen heraus scheuten und die Nichtbesitzer auf diese Bedenken bauen konnten“. Gilt das noch in Zeiten von Putin? Auch der russische Präsident baut auf Bedenken, aber auf die, dass er doch zum Äußersten bereit sein könnte. Er ist ein imperialistischer Usurpator, der Elemente aus dem Guerilla-Krieg adaptiert hat (etwa Soldaten ohne Hoheitszeichen) und so zeigt, dass Klein und Groß keine fixen und auch keine primär moralischen Kategorien sind.

In seiner „Theorie des Partisanen“ hat Schmitt mehrere Kriterien formuliert, die einen Partisanen im Vergleich zur Übermacht einer regulären Armee auszeichnen. Eines davon: Er kämpfe irregulär, man könnte auch sagen: unorthodox. Ein anderes: Er habe „tellurischen Charakter“, das bedeutet, er verteidige ein Stück Erde, zu dem er eine autochthone Beziehung habe. Das entfesselt ungeahnte Kräfte, wie sich immer wieder nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch auf dem Fußballfeld zeigt, Stichwort Bielefelder Alm.

Eine Urszene des ungleichen Kampfes findet sich im Alten Testament: Der kaum geschützte und nur mit einer Steinschleuder bewaffnete David besiegt den hochgerüsteten Goliath. Aber vor allem das Neue Testament ist voller Stellen, die das Kleine gegenüber dem Großen stark machen. Es fängt an beim Kind in der Krippe und hört bei der Weigerung Jesu, sich gegen die zu wehren, die ihn schließlich ans Kreuz nageln, noch nicht auf. Seine Auferstehung ist ein Triumph, der unscheinbar daherkommt, aber die Welt mehr verändert hat als jeder Gewaltakt und jede Machtdemons­tration. Das ist viel eher die österliche Botschaft als die dicken Eier, die es an diesem Sonntag womöglich auch wieder geben wird, im Nest oder auf dem Instagram-Account von Markus Söder.