Ein Papst, der Wirbel machen wollte

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Der Rückflug war gebucht, die Predigt für den Palmsonntag 2013 schon geschrieben. Aber der Erzbischof von Buenos Aires kehrte nicht in seine Heimatstadt zurück. Jorge Mario Bergoglio blieb unter anderem Namen in Rom. Als Papst nannte er sich am 13. März 2013 Franziskus.

Er war der erste dieses Namens – und wollte es sein. Nach dem überraschenden Amtsverzicht des deutschen Papstes Benedikt XVI. hatten die Kardinäle der römisch-katholischen Kirche erstmals einen Angehörigen des Jesuitenordens und dann auch noch einen Nichteuropäer zum Oberhaupt der 1,2 Milliarden Katholiken gewählt. Bergoglio, ein Argentinier mit italienischen Wurzeln, ließ dem Bruch mit der Tradition viele weitere folgen: Franziskus sollte nicht ein Name sein, sondern Programm. Vier Monate nach seiner Wahl erläuterte er es anlässlich des Weltjugendtages im brasilianischen Rio de Janeiro: Der heilige Ordensgründer aus dem 13. Jahrhundert habe die Kirche wiederaufbauen wollen. Anspruch oder Anmaßung?

Den Kardinälen hatte der neue Papst schon unmittelbar nach der Wahl gezeigt, was die Stunde geschlagen hatte: Blechkreuz statt Gold und Edelsteinen, Straßenschuhe statt Plüsch und Pomp. Das Volk auf dem Petersplatz traute seinen Augen kaum, als der neue Papst auf die Benediktionsloggia trat, und noch weniger seinen Ohren: „Ehe der Bischof das Volk segnet, bitte ich euch, den Herrn anzurufen, dass er mich segne: das Gebet des Volkes, das um den Segen für seinen Bischof bittet.“ Der Papst verbeugte sich. „Gute Nacht und angenehme Ruhe.“

Straßenschuhe statt Plüsch und Pomp

Nach ungewöhnlich kontroversen Beratungen der Kardinäle vor dem Konklave war nur eines klar gewesen: So wie unter Benedikt XVI. (und schon unter Johannes Paul II.) dürfe es mit der römischen Kurie nicht weitergehen: Machtkämpfe unter Kardinälen und ihren Seilschaften, das päpstliche „Appartamento“ hohl wie ein Sieb („Vatileaks“), der Vatikan als Geldwäscheplatz in einer Reihe mit Offshore-Zentren der übelsten Sorte. Doch warum sollte ausgerechnet Bergoglio es richten können, ein 76 Jahre alter Kardinal „vom Ende der Welt“? Wäre dieser als Papst nicht nur ein Jahr jünger als jener Joseph Kardinal Ratzinger, der mit seinem Rücktritt nach acht Jahren das Papstamt auf eine radikale Weise verweltlicht hatte? Und überhaupt: Wer war dieser Mann?

Im Jesuitenorden war Kardinal Bergoglio seit vielen Jahren eine Persona non grata. Die einen brachten ihn noch immer mit der Verhaftung und der Folter von zwei argentinischen Jesuiten während der jüngsten Militärdiktatur in Argentinien (1976–1983) in Verbindung. Andere konnten in einem Standardwerk über die Jesuiten in Lateinamerika lesen, Bergoglio sei ein Mann mit „vorkonziliaren Überzeugungen und Werthaltungen“. Das konnten zumindest die Papstwähler aus Lateinamerika nicht bestätigen. Während der V. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates (Celam) im brasilianischen Marienwallfahrtsort Aparecida im Mai 2007 hatte man dem Kardinal von Buenos Aires die Redaktion des Schlussdokumentes anvertraut. Bergoglio löste die Aufgabe mit Kollegialität und Umsicht. Viel mehr war über ihn nicht bekannt, außer dass er im Konklave des Jahres 2005 von manchen als Gegenkandidat zu Joseph Kardinal Ratzinger ausersehen worden war. Doch warum ein solcher Mann, der nicht einmal Bischof hatte sein wollen, geschweige denn Kardinal, sondern nur Jesuit?

Lampedusa und die „Trägheit der Herzen“

Jorge Mario Bergoglio wurde am 17. Dezember 1936 als ältestes Kind von José Mario Francisco Bergoglio und Maria Regina Sívori in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires geboren. Seine Mutter hatte schon als Einwandererkind in Argentinien das Licht der Welt erblickt, sein Vater und dessen Eltern hatte dem bitterarmen Norden Italiens mit einer der letzten Auswanderungswellen Ende der Zwanzigerjahre den Rücken gekehrt. Um ein Haar, so hat es Jorge Mario noch in seiner im Januar in vielen Sprachen erschienen Autohagiographie erzählt, hätten sein Vater und seine Großeltern die Überfahrt nicht überlebt. Eigentlich hätten sie an Bord der „Principessa Mafalda“ sein sollen, die im Frühjahr 1927 bei ihrem Untergang vor der brasilianischen Küste mehr als 300 Auswanderer in die Tiefe riss. Die göttliche Vorsehung habe sie ein anderes Schiff nehmen lassen. Welch Wunder, dass Franziskus im Juli 2013 die Mittelmeerinsel Lampedusa zum Ziel seiner ersten Papstreise erkor. Dort betrauerte er das Schicksal der Bootsflüchtlinge, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft auf dem Mittelmeer ums Leben gekommen waren, und beklagte die „Trägheit der Herzen“ derer, die das Schicksal dieser Menschen nicht rühre.

Seine Aktentasche will er selbst tragen: Papst Franziskus besteigt im November 2019 ein Flugzeug der Alitalia für seine Reise nach Japan und Thailand.
Seine Aktentasche will er selbst tragen: Papst Franziskus besteigt im November 2019 ein Flugzeug der Alitalia für seine Reise nach Japan und Thailand.dpa

Das Argentinien, in dem Jorge Mario Bergoglio das Licht der Welt erblickte, war schon nicht mehr das Land, in das seine Familie kaum zehn Jahre zuvor ihre Hoffnung gesetzt hatten. Dem Pro-Kopf-Einkommen nach war es noch immer eines der reichsten Länder der Erde. Doch die Weltwirtschaftskrise hatte ihre Spuren hinterlassen – bis dahin, dass das Militär zum ersten (und nicht zum letzten) Mal im 20. Jahrhundert geputscht hatte. Zwanzig Jahre später wird der Peronismus, der sich als antiamerikanisch gefärbter Mittelweg zwischen Katholizismus und Kommunismus ausgab („Mate sí, Whisky no“), das Land durch staatlichen Klientelismus und ausufernde Korruption zum ersten, aber nicht zum letzten Mal an den Rand des Zusammenbruchs gebracht haben. Als Papst stand Franziskus in keiner Tradition stärker als der seiner peronistischen Jugend.

Die Bergoglios fingen dort an, wo sie in Italien aufgehört hatten, in bescheidenen Verhältnissen. So lernte der Älteste früh, die Eltern mit ihren insgesamt fünf Kindern durch Arbeit zu unterstützen. Ein Studium kam für den Jungen aus einfachen Verhältnissen nicht infrage. Jorge Mario wurde Chemielaborant – zunächst.

Im Alter von 16 Jahren wollte er die Berufung verspürt haben, Priester zu werden. Doch sollten Jahre vergehen, ehe er diesem Ruf folgte. Erst trat er in das Seminar der Erzdiözese Buenos Aires ein, 1958, nach einer lebensbedrohlichen Lungenerkrankung, fast zweiundzwanzigjährig in den Jesuitenorden. Zum Priester geweiht wurde er elf Jahre später. Dann ging alles ganz schnell. Schon 1971 wurde er mit dem Amt des Novizenmeisters der argentinisch-uruguayischen Ordensprovinz betraut: Eine heikle Aufgabe in den turbulenten Jahren nach dem II. Vatikanischen Konzil. Geistliche gaben in Scharen ihr Amt auf, die Zahl der angehenden Priester und Ordensleute sank rapide. Manchen Bischöfen und Theologen waren längst zu viele der Reformen ins Werk gesetzt worden, anderen noch viel zu wenige. Der Riss ging auch in Argentinien mitten durch die Kirche.

Für die Doktorarbeit nach Frankfurt

Auch in der Bevölkerung gärte es: Fast überall in Lateinamerika standen sich Guerrillabewegungen und eine zunehmend repressivere Staatsmacht gegenüber. Argentinien versank in einer Orgie linker und rechter Gewalt. 1976 putschte das Militär und etablierte die brutalste Diktatur, die das Land im 20. Jahrhundert erlebt hatten. Bergoglio wurde darüber skeptisch gegenüber innerkirchlichen Frontstellungen, wie sie sich damals vor allem an der sogenannten Theologie der Befreiung entzündeten. Für ihn sollte das Leben des „gläubigen Volkes“ Maßstab der Seelsorge wie Inspiration der Theologie sein.

Als die Militärjunta 1983 abdankte, hatte Bergoglio sich nichts vorzuwerfen. Sechs Jahre lang war er als Provinzial für die argentinischen Jesuiten verantwortlich gewesen, drei weitere Jahre für das größte Ausbildungshaus der Provinz, das Colegio Máximo San Miguel. Bis auf die beiden Jesuiten, die im März 1973 verhaftet worden und auf Druck von vielen Seiten nach einem halben Jahr freigelassen worden waren, war niemand der Seinen zu Schaden gekommen. Mehr noch: Dutzenden Verfolgten hatte Bergoglio in aller Stille geholfen, das Land zu verlassen.

1986 war er es, der Argentinien verließ. Das Ziel hieß Frankfurt am Main, dort, so hieß es, sollte er promovieren. Nicht einmal ein Jahr später war Bergoglio zurück, ohne Doktorarbeit. In den selbstgewählten Auskünften über sein Leben erfährt man über diese Zeit nichts. Einfach hatten es seine Ordensbrüder mit ihm immer weniger. Die einen zog er als Professor und Pastor magisch an, die andern stieß er mit seiner fordernden Art heftig ab. Bergoglio polarisierte. Als die Lage unerträglich wurde, schickten ihn seine Oberen nach Córdoba ins Exil.

Kungeln mit Kommunisten

Nach zwei Jahren war Bergoglio wieder in Buenos Aires: Kardinal Antonio Quarracino hatte den Jesuiten als Weihbischof an der Seite haben wollen. Der Erzbischof traute Bergoglio, den er wegen seiner Spiritualität schätzen gelernt hatte, bald noch mehr zu – zumal dieser sich in den „villas miserias“ von Buenos Aires wohler fühlte als in den gutbürgerlichen oder gar elitären Zirkeln der Hauptstadt. Gegen massiven Widerstand aus der Politik und von Bischöfen in Argentinien und im Vatikan setzte Quarracino Bergoglio bei Papst Johannes Paul II. 1998 als seinen Nachfolger durch. Im Februar 2001 nahm ihn Johannes Paul II. am selben Tag in das Kardinalskollegium auf wie den Mainzer Bischof Karl Lehmann und seinen Ökumene-Bischof Walter Kasper.

Genießt das Bad in der Menge: Papst Franziskus während einer Generalaudienz im Februar 2015 im Vatikan
Genießt das Bad in der Menge: Papst Franziskus während einer Generalaudienz im Februar 2015 im Vatikandpa

In Argentinien ging es bald wieder hoch her. Nach dem Zusammenbruch der von Präsident Menem auf neoliberalistischen Kurs gebrachten Wirtschaft war Néstor Kirchner im Mai 2003 Präsident geworden. Die Kritik des Erzbischofs an den zunehmenden sozialen Missständen strafte der Linksperonist mit Missachtung. Bergoglio focht das nicht an, zumal sich die wechselseitige Abneigung schnell auf Kirchners Frau und Nachfolgerin im Präsidentenamt, Cristina Fernández de Kirchner, übertrug. Nach der Wahl Bergoglios zum Papst konnte es jedoch nicht genug Bilder mit dem Mann in Weiß geben. Bald hofierten auch andere Linkspopulisten den Mann aus Argentinien – und dieser sie. Denn als Papst richtete er mit Worten wie „diese Wirtschaft tötet“ den Bannstrahl unverdrossen gegen den Kapitalismus, vor allem gegen die Finanzmärkte. Für die nicht nur in Lateinamerika skandalöse Schwäche des Rechtsstaats und der demokratischen Institutionen, die endemische Korruption oder die Unterentwicklung des Bildungswesens fand er als Peronist auf dem Papstthron stets mildere Worte – wenn überhaupt. Als Papst Franziskus im September 2015 vor einer Reise in die USA und zu den UN Kuba besuchte, ließ er sich vor die Propagandamaschine der Castros spannen. Von den massiven Repressionen gegen Hunderte Dissidenten und Menschenrechtler wollten er und seine Entourage nichts mitbekommen haben.

Im Vatikan war der Erzbischof von Buenos Aires in den letzten Jahren des Pontifikates von Johannes Paul II. und den acht Jahren von Benedikt XVI. nur selten gesehen worden. Er sei häuslich, ein „casalingo“, hieß es, bis dahin, dass er sich für die Zeit nach seiner Emeritierung im Jahr 2011 schon ein Zimmer in einem Altenheim für Priester in seinem heimatlichen Stadtviertel Flores ausgeguckt habe. Die Distanz zu Rom hinderte ihn jedoch nicht daran, sich recht unverblümt über kirchliche Vorgänge zu äußern. Für die Annäherungsversuche Benedikts an die Piusbruderschaft etwa hatte er wenig Verständnis, für die Rehabilitierung des Holocaustleugners Bischof Williamson keines. Stattdessen pflegte er demonstrativ die Freundschaft mit Rabbiner Abraham Skorka und knüpfte Kontakte mit Repräsentanten der Muslime. Wie viele seiner Freundschaften sollten auch diese den Umzug Bergoglios nach Rom einige Jahre überdauern. Als Papst Franziskus im Frühjahr 2015 Jordanien, Palästina und Israel besuchte, reiste man gemeinsam.

Überhaupt: Als Papst tat Jorge Mario Bergoglio vieles, was er schon in Argentinien getan hatte. Doch Rom war nicht Buenos Aires. Am Gründonnerstag 2013 etwa wusch er jungen Gefangenen in einem römischen Gefängnis die Füße, ohne Ansehen der Religion. Skandal! Kurz zuvor, am Sonntag nach der Wahl zum Papst, hatte er öffentlich das jüngste Buch des vormaligen Kurienkardinals Walter Kasper gelobt. Dessen ebenso schlichter wie programmatischer Titel: „Barmherzigkeit“. Drei Jahre später rief Franziskus ein ganzes „Jahr der Barmherzigkeit“ aus.

An keine Gesetze gebunden

Und die Kurie? Schon mit der Wahl seiner Wohnung im Gästehaus Santa Marta signalisierte der neue Papst, dass er sich nicht dem Zugriff der alten Mächte auszuliefern gedenke. Dann machte das (auch in Kaspers „Barmherzigkeit“ enthaltene) Wort von einer „armen Kirche für die Armen“ die Runde. Als subversiv klingende Zitate aus den morgendlichen Stegreifpredigten des Papstes verbreitet wurden (Kirche als „Feldlazarett“), da ahnten auch die Begriffsstutzigsten, dass mit dem Papst, der sich Franziskus nannte, nicht gut Kirschen essen war.

Doch wie die Kirche wiederaufbauen? Über eine Blaupause verfügte Franziskus nicht. Bei der Reform der Finanzen des Vatikans und der Stärkung des Kinderschutzes konnte Franziskus an die Pionierarbeiten seines Vorgängers Benedikt XVI. anknüpfen. Doch zwischen der Ankündigung der Einrichtung einer Kommission, die sich weltweit dem Thema Kinderschutz widmen sollte, vergingen fast eineinhalb Jahre. Wie es heute um diese Kommission steht, machte deren langjähriger Spiritus rector, der deutsche Jesuit Hans Zollner, Ende März 2023 klar. Er legte das Mandat nieder. Auch das hinderte den Papst nicht daran, sich in seinem letzten Buch zum obersten Kinderschützer der Kirche zu erklären.

Die Reform der römischen Kurie kam nicht weniger schleppend voran. Der symbolträchtige Rat aus Kardinälen aus allen Erdteilen, der ihm dabei helfen sollte, die Kirche zu regieren, erwies sich als überfordert. Die Reform der vatikanischen Kurie, die Franziskus nach neun Jahren am Pfingstfest 2022 in Kraft setzte, hat mit den Prinzipien guter Regierungsführung wenig gemein. Nach wie vor ist die Kurie, bei der Franziskus kurz vor dem Weihnachtsfest „geistlichen Alzheimer“ diagnostizierte, ein Hof und der Papst an keine Gesetze gebunden. Immerhin leitet seit wenigen Monaten eine Ordensfrau eine der „Dikasterium“ genannten Behörden. Ansonsten ist es mit der Kurie wie mit der Kirche insgesamt. Sie hat, um mit Mephistopheles zu sprechen, einen großen Magen.

Eine deutliche Aufwertung gleich zu Beginn des Pontifikates hatte die aus dem Geist des II. Vatikanischen Konzils hervorgegangene römische Bischofssynode erfahren. Für den Herbst 2014 und 2015 setzte Franziskus zwei Vollversammlungen der Bischofssynode über das „heiße Eisen“ Ehe und Familie an. Diese wurden erstmals durch Befragungen des Kirchenvolkes vorbereitet und fanden in einer von Freimut geprägten Atmosphäre statt, wie sie unter seinen Vorgängern undenkbar war.

Die Aneignung der Ergebnisse der Beratungen und Abstimmungen durch ein sogenanntes Nachsynodales Schreiben, diesmal unter dem Titel „Amoris laetitia“, folgte indes den üblichen Mustern. Die Mehrzahl der Bischöfe in Deutschland etwa sah sich ermutigt, den Ausschluss von wieder verheirateten Geschiedenen von den Sakramenten zu überdenken. In den Vereinigten Staaten hingegen fühlte sich die Mehrzahl der Bischöfe in ihrer Wahrnehmung bestärkt, dass Franziskus auf gefährlichen Abwegen wandele und die Kirche in ein Schisma führe.

Eine protestantische Kirche sei genug

So ging es weiter. 2018 wurde eine „Jugendsynode“ veranstaltet, 2019 ging es um „Amazonien“. 2022, so hatte es Bergoglio noch im März 2020 verfügt, sollte die Synode sich dem Thema „Synodalität“ widmen. Als sie im Herbst 2024 zu Ende ging, waren Gegner wie Befürworter einer Kirche, in die Macht nicht länger in den Händen einer männlichen Klerikerkaste liegt, nicht viel schlauer als zuvor. Dass Frauen der Weg in die Weiheämter geebnet würde, war in Franziskus’ Wiederaufbauprojekt nicht vorgesehen. Und auch daran hat Franziskus nie einen Zweifel gelassen: Der „Synodale Weg“ der Deutschen Bischofskonferenz und Laien des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) war von Übel. Eine protestantische Kirche in Deutschland sei genug.

Von Jahr zu Jahr mehr erwies sich Franziskus als Papst, der mal sehr klare, aber auch sehr schwer zu entschlüsselnde, ja widersprüchliche Signale aussandte. Zu ersteren zählen die vielen Berufungen in das Kardinalskollegium, aber auch wichtige Bischofsernennungen. An vielen wichtigen Orten, zuletzt in Washington D.C., kamen Persönlichkeiten zum Zug, die es mit einem von Franziskus’ Lieblingsworten hielten: Freimut. Unter dem späten Johannes Paul II. oder Benedikt XVI. hätten diese keine Chance gehabt. Traditionelle Vorrechte bei der Auswahl neuer Kardinäle waren dem Argentinier herzlich egal. Tonga statt Turin, Guatemala statt Berlin – so radikal-symbolisch hat noch kein Papst auf die Kirchen des globalen „Südens“ gesetzt.

Trauer um Benedikt XVI.: Franziskus während der Totenmesse für seinen Vorgänger im Januar
Trauer um Benedikt XVI.: Franziskus während der Totenmesse für seinen Vorgänger im Januardpa

Über alldem machte sich Franziskus Gegner, wenn nicht Feinde. Dass der Papst regelmäßig Kurienorgane überging und sie gleichzeitig durch Personen seines Vertrauens kontrollierte, die er im zweiten oder dritten Glied arbeiten ließ, schärfte den Sinn für Loyalität nicht. Schon nach der Ansprache, die Franziskus vor dem Weihnachtsfest 2014 an die Mitglieder der Kurie richtete und in der er allerlei Krankheiten wie „geistlichen Alzheimer“ diagnostizierte, war der Bruch nicht mehr zu kitten.

Mindestens irritierend war die Botschaft, die Franziskus an Europa richtete: Was er von der EU hielt, ließ Franziskus im November 2014 anlässlich seines Besuchs bei den europäischen Institutionen in Straßburg wissen: ein alternder, in sich verschlossener Kontinent, dem es an Sendungsbewusstsein wie an Aufnahmebereitschaft für die vielen Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten mangele. Überhaupt: Besuche. Wenn er Europa überhaupt besuchte, dann nur an dessen Rändern. Deutschland hat der Papst in den fast zwölf Jahren seines Pontifikates nie besucht, in Frankreich machte er zuletzt den rebellischen Korsen seine Aufwartung.

Ein Schlag ins Gesicht

Alle Konventionen sprengte Franziskus auch mit der Art seiner Kommunikation. Wie schon unter Benedikt, so waren die Sprecher des Vatikans nicht selten die Letzten, die von neuen Entwicklungen erfuhren. Neu war aber, dass sein erster Sprecher, der Jesuit Federico Lombardi, die spontanen Pressekonferenzen verschriftlichen musste, die Franziskus an Bord von Flugzeugen abzuhalten pflegte. Der Nachrichtenwert war zumindest anfangs beträchtlich: Mal ging es um Katholiken, die sich angeblich wie Karnickel vermehrten, mal um Väter, die gut daran taten, ihren Kindern nur den Hintern zu versohlen, anstatt sie ins Gesicht zu schlagen, mal um Homosexuelle, die der Papst zu verurteilen sich außerstande sah.

Auch in anderer Hinsicht legte Franziskus sich keine Rücksichten auf: In seiner programmatischen Erstlingsschrift „Evangelii gaudium“ nahm er im November 2013 Partei für eine arme Kirche für die Armen. In seinem zweiten Lehrschreiben, der mit Blick auf die Weltklimakonferenz Ende 2015 in Paris geschriebenen Enzyklika „Laudato si’“, verwandelte sich Franziskus in den Advokaten einer gemarterten Natur, an der sich die Menschheit so sehr versündigt habe, dass sie mit ihr zugrunde zu gehen drohe. Was nicht zu seiner Apokalypse passte, wurde wohlweislich ausgeblendet. Dass die Armut in der Welt und damit auch die Mütter- und Kindersterblichkeit so stark abgenommen hatten, wie es noch bei der Verabschiedung der „Millenium Development Goals“ (MDG) durch die UN Anfang der Neunzigerjahre als nahezu utopisch galt – Fortschritte waren dem Papst nicht die Rede wert.

Mochten die ökonomischen Analysen und die Therapievorschläge noch so krude sein, das Echo gab Franziskus zunächst recht. Eine Zeitlang galt er, wie Johannes Paul II. zu seinen hellsten Zeiten, als Gewissen der Welt. Doch mit jedem Jahr nahmen die Zweifel an der Weisheit des Mannes an der Spitze der weltgrößten Glaubensgemeinschaft und das Vertrauen in die Integrität der von ihm repräsentierten Institution ab. Der Tiefpunkt war schon lange vor seinem Tod erreicht. Als Franziskus im März 2019 eine mit großem Aufwand organisierte Kinderschutzkonferenz im Vatikan mit einer Rede beschloss, in der er in Sachen Missbrauch nicht Kinderschänder im Priesterrock am Werk sah, sondern den Teufel, war dies ein Schlag ins Gesicht all derer, die seit Jahren gegen moralische Lethargie in der Kirche in Sachen Gewalt gegen Kinder, Schutzbefohlene und auch Frauen, vor allem Ordensfrauen, ankämpften.

Entscheidung über Woelki steht seit drei Jahren aus

In dieses Bild passte auch, dass nicht zuletzt der Papst selbst durchaus flexible Vorstellungen von Rechtskultur in der Kirche hatte. Dass er selbst Missbrauchsfälle an sich zog und nach Gusto entschied, passte ebenso in das Bild einer unberechenbaren Amtsführung im Geist des Absolutismus wie der willkürliche Umgang mit kirchenrechtlichen Bestimmungen, die er selbst erlassen hatte, um Bischöfe für Fehlverhalten im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs besser zur Rechenschaft ziehen zu können. Über das von ihm im Februar 2022 erzwungene Rücktrittsersuchen des Kölner Erzbischofs Rainer Maria Kardinal Woelki wegen mutmaßlichen Fehlverhaltens beim Umgang mit dem Thema Missbrauch hat er nicht innerhalb von drei Monaten entschieden, wie es das Kirchenrecht vorsieht, sondern auch drei Jahre später noch nicht.

Wer am Ende des Pontifikates von Benedikt XVI. noch geglaubt hatte, mit der Regierungskunst der Päpste könne es nicht noch weiter bergab gehen, der sah sich am Ende des Pontifikates seines Nachfolgers eines Besseren belehrt. Nur in einem dürften seine Bewunderer wie seine Verächter konform gehen. Bis in seine letzten Tage hielt es Bergoglio mit dem Motto, das er in seinem langen Leben immer wieder jungen Menschen auf den Lebensweg gegeben hatte: „Macht Wirbel.“ Nachdem Franziskus im Februar dieses Jahres mit doppelter Lungenentzündung in die Klinik eingeleifert wurde, hatten viele Gläubige das Schlimmste befürchtet. Doch der Papst konnte das Gemelli-Krankenhaus noch einmal verlassen und verlas am Sonntag sogar den traditionellen Ostergruß.
Am Ostermontag aber ist Papst Franziskus, der erste dieses Namens, im Alter von 88 Jahren im Vatikan verstorben.