Als der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion gerade nach Ostern mit Journalisten zum Frühstück zusammensaß, sprach er auch über die Personalspekulationen, die das politische Berlin in diesen Tagen überfluten. Thorsten Frei (CDU) erzählte also, dass alles, was er zum Personal, zu den künftigen Ministern so lese, nur Einschätzungen seien, Mutmaßungen und „Plausibilitätsüberlegungen“, die aber nicht zuträfen, jedenfalls nicht im Einzelnen. Daher werde es „sicherlich auch Überraschungen“ geben. Eine solche könnte sich an der Spitze der künftigen Fraktion jetzt abzeichnen: mit dem möglichen Aufstieg von Jens Spahn. Zumindest wird das intensiv eingeschätzt, gemutmaßt und plausibilitätsüberlegt.
Sicher ist, dass der bisherige Unionsfraktionsvorsitzende Friedrich Merz zurück ist aus dem Osterurlaub und intensive Tage vor sich hat. Am 6. Mai soll er zum Bundeskanzler gewählt werden, bis Mitte nächster Woche stimmen die SPD-Mitglieder noch über den Koalitionsvertrag ab, und schon am Montag kommen Delegierte der CDU zu einem kleinen Parteitag, dem Bundesausschuss, in Berlin zusammen, um ebenfalls über den Koalitionsvertrag zu befinden. Eine Zustimmung gilt als sicher.
Doch wird auch erwartet, dass nun die letzten Puzzleteile ins Bild fallen: die Personalentscheidungen. Dabei ist neben der Frage, wer Minister für die CDU wird, entscheidend, wer die Politik des Kanzlers und seiner Regierung an der Spitze der Fraktion durchsetzt. Ist es Jens Spahn? Zumindest scheint man bei der CSU in München und in Berlin keine Einwände gegen die Personalie zu haben. Spahn selbst und sein Umfeld schweigen hingegen eisern zu den Spekulationen.
Neben dem Chef des Bundeskanzleramts muss Merz sechs Ministerposten besetzen: Wirtschaft, Auswärtiges, Bildung, Gesundheit, Verkehr und Digitalisierung. Dass außerhalb des Kabinetts vor allem der freie Fraktionsvorsitz als attraktiv gilt, ist kein Geheimnis. Dass Spahn Interesse an dem Posten hat, ebenso wenig. Doch wurde in den Berliner Plausibilitätsüberlegungen auch immer ein Argument gegen ihn vorgetragen: Warum sollte Merz einem so ehrgeizigen Parteifreund vertrauen – und ihm dieses wichtige Amt anvertrauen?
Spahn war einst Merz’ Gegner
Als geradezu gesetzt wurde in diesen Tagen, in denen kaum etwas gesetzt ist, allerdings meist dargestellt, dass der 44 Jahre alte Spahn einen Posten erhalten müsse. Auch wenn er ein weiterer Nordrhein-Westfale in der erste Reihe wäre. Und obwohl sein Verhältnis zu Merz nicht immer einfach war. Schon im Wettbewerb um den Parteivorsitz 2018 traten sie gegeneinander an, 2020 unterstützte Spahn Armin Laschet im Konkurrenzkampf mit Merz. Erst als Laschet scheiterte, schaffte es Merz an die Parteispitze – und sicherte sich danach auch gleich den Fraktionsvorsitz. Spahn hatte da gerade eine eher schwierige Zeit als Gesundheitsminister hinter sich, verbunden mit einer ruppigen Fahrt in der Popularitätsachterbahn.
Merz machte Spahn trotzdem zu einem seiner stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Es soll damals angeblich Gespräche im kleinen Kreis gegeben haben, um zueinanderzufinden. Spahn fand schnell wieder Tritt, er gilt als scharfer Rhetoriker und guter Netzwerker. Allerdings auch als jemand, der polarisiert, nicht zuletzt in den eigenen Reihen. Zum Beispiel mit Äußerungen wie jener gerade zur AfD, mit der man laut Spahn bei organisatorischen Fragen im Bundestag so umgehen solle wie mit anderen Oppositionsparteien. In den letzten Tagen hatte Spahn dann viel damit zu tun, klarzustellen, dass er damit nicht etwa einer Normalisierung der Partei das Wort geredet habe.
Wie wichtig Spahn offensichtlich ist, zeigte sich aber auch bei den Gesprächen mit der SPD nach der Bundestagswahl. In der ursprünglichen Sondierungsgruppe der CDU war er von Merz nicht vorgesehen. Dann ging es aber sofort um die Finanzen und die Idee der Reform der Schuldenbremse – und weil Spahn als Staatssekretär unter Wolfgang Schäuble das Finanzministerium schon einmal von innen erlebt hatte, wurde er dazugeholt. Spahn blieb dabei und schaffte es in die Runde der Hauptverhandler des Koalitionsvertrages. Schon vor der Bundestagswahl war bei der Münchner Sicherheitskonferenz aufgefallen, dass Merz Spahn bei wichtigen Gesprächen an seine Seite geholt hatte. So verfestigte sich der Eindruck, dass Merz ihn kaum würde leer ausgehen lassen.
Wenn nicht Spahn, wer dann?
Bei den Plausibilitätsüberlegungen kam hinzu, dass Merz schon einen anderen durchsetzungsstarken Fraktionsvorsitzenden würde präsentieren müssen, sollte es Spahn nicht werden. Carsten Linnemann hätte einer sein können, aber er hat schon deutlich gemacht, dass er Generalsekretär bleiben will. Thorsten Frei wiederum wird lange schon als Kanzleramtsminister gehandelt, auch wenn mit Blick auf seine Zukunft die von ihm angesprochenen Überraschungen ebenfalls nicht ausgeschlossen sind. Viel mehr Kandidaten scheinen sich zumindest nicht aufzudrängen.
Also tatsächlich Spahn? Sicher ist noch gar nichts. Die „Bild“-Zeitung berichtete kurz vor Ostern unter Berufung auf CDU- und CSU-Kreise, dass Spahn Fraktionsvorsitzender werden solle. Dies sei der Wunsch von Merz. Ebenso wie Spahn kommentiert allerdings auch das Umfeld von Merz diese Spekulationen nicht weiter. Eindeutige Zitate gibt es nicht, am Ende sind es nur Stimmen. Zu hören ist immerhin von manchen, dass all die Entscheidungen sehr bald fallen dürften – und ihr Ergebnis womöglich schon beim Bundesausschuss am Montag vorgestellt werden könnte. Das wäre dann doch noch vor der SPD, die ihre Minister erst nach Abschluss der Mitgliederbefragung vorstellen wollte. Sollte es dazu kommen, dürften am Wochenende die entscheidenden Anrufe eingehen. Auch Frei hatte gesagt, Merz werde seine Überlegungen in den kommenden Tagen abgeschlossen haben. Er mache dies nicht im stillen Kämmerlein mit sich aus, sondern beziehe auch andere Einschätzungen ein, auch aus den Ländern.
Dazu könnte passen, was am Donnerstag aus München zu hören ist. Zum einen sind zur CSU-Vorstandssitzung am Montag auch die Mitglieder der Landesgruppe hinzugeladen worden – immer ein Zeichen, dass es wichtig wird. Zum anderen hieß es am Donnerstag aus dem Umfeld von CSU-Chef Markus Söder, seine Partei würde Spahn als Fraktionschef unterstützen. Die Unterstützung aus Bayern verwundert nicht. Spahn gilt in der Partei nicht nur als Profi, sondern auch als Garant, dass künftige Kabinettsbeschlüsse zur Wirtschafts- und vor allem zur Migrationspolitik im Bundestag nicht zur Unkenntlichkeit verwässert werden. Weder in bayerischen CSU-Kreisen noch in der CSU-Landesgruppe war am Donnerstag Kritik zu hören.
Die Personalie dürfte es auch dem bisherigen CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erleichtern, an die Spitze des Bundesinnenministeriums zu wechseln. Eine Überlegung bei der CSU lautet, dass man dann Migrationspolitik aus einem Guss machen könne: mit Merz im Kanzleramt, Dobrindt als Innenminister und Spahn, der als Gegner der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel gilt, an der Spitze der Fraktion. Es ist nicht so, dass zwischen Spahn und die CSU kein Blatt Papier passen würde, insbesondere in der Pandemie hat Söder den damaligen Gesundheitsminister immer mal wieder vor sich hergetrieben. In der CSU ist aber schon im Wahlkampf registriert worden, dass Spahn sich auffällig oft in Bayern aufhält, auch, um Kontakte zu pflegen.
Er tut aber sicher gut daran zu schweigen, bis wirklich alles geklärt und von Merz verkündet ist. Schließlich hat er schon einmal erlebt, wie dramatisch die letzten Stunden verlaufen können, wenn all den Einschätzungen, Mutmaßungen und Plausibilitätsüberlegungen tatsächlich Entscheidungen folgen. 2018 durfte Spahn schon einmal kurz glauben, er werde der neue Verteidigungsminister. Bis es dann doch Annegret Kramp-Karrenbauer wurde.