Hélène Perlant spricht mit sanfter Stimme, aber was die Tochter des französischen Premierministers erzählt, ist brutal. „Zehn Meter von uns entfernt wurden Kinder geschlagen, täglich sexuell missbraucht, in der Kälte und in der Nacht gepeinigt“, sagt sie dem Radiosender France Inter am Donnerstag.
Mehr als drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Perlant die katholische Privatschule in Notre-Dame de Bétharram in der Nähe der Pilgerstadt Lourdes besuchte. Zum ersten Mal bricht die älteste Tochter von François Bayrou jetzt ihr Schweigen und spricht in der meistgehörten Morgensendung über die auch am eigenen Körper erlebte Gewalt. Was in Bétharram vorging, „macht uns alle kaputt, unabhängig davon, ob wir direkt Opfer waren oder nicht“, sagt die 53-jährige Frau.
Die in Bordeaux tätige Lehrerin und Mutter von drei Kindern wollte lange die Öffentlichkeit meiden, doch nun ließ sie sich für das Hochglanzmagazin „Paris Match“ vor dem erhabenen hellen Schulgebäude von Bétharram am Gave-Fluss fotografieren. Eine schmale, fragile Gestalt, mit lockigen, rötlichen Haaren vor den hohen Mauern der Lehranstalt.
Sie spricht erstmals darüber, wie ein Geistlicher sie bei einem Sommercamp der katholischen Schule misshandelte. Sie war damals 14 Jahre alt. „Eines Abends, als wir gerade unsere Schlafsäcke auspackten, hat der 120 Kilo schwere Mann mich auf einmal an den Haaren gezogen, mich mehrere Meter über den Boden geschleift und mir am ganzen Körper, vor allem im Bauch, Fausthiebe versetzt und mich getreten“, schildert sie. Premierminister Bayrou sei „der Vater eines Opfers, was er bis Dienstag nicht wusste“, sagt sie im Radio. Und sie sei nur „ein Opfer unter vielen“.
Drei Kinder der Bayrous gingen auf Privatschule
Der 73 Jahre alte Regierungschef ist für den 14. Mai von einer parlamentarischen Untersuchungskommission in der Nationalversammlung vorgeladen. Er wird bezichtigt, von der brutalen Züchtigung der Schüler und den sexuellen Übergriffen in Bétharram gewusst zu haben, ohne in seinem Wahlkreis und in seiner Zeit als Bildungsminister von 1993 bis 1997 etwas unternommen zu haben.
Bayrou stammt aus der Gegend zwischen Pau und Lourdes, er wuchs auf einem Bauernhof im Pyrenäenvorland auf. Auf seine ländlich-katholischen Wurzeln ist Bayrou stolz, er hat in seiner politischen Karriere immer damit geworben, dass er eine echte politische Heimat hat. Seit mehr als elf Jahren steht er der Stadt Pau als Bürgermeister vor. Er hat das Amt nicht niedergelegt, auch wenn das eigentlich die Regel für Regierungschefs ist.
Zu seinem Selbstverständnis gehörte bislang auch, dass die Schule in Bétharram für eine zwar strikte, aber herausragende Erziehung steht. Nicht nur aus dem Béarn, auch von weiter her schickten gut situierte Eltern ihre Söhne an die von Geistlichen geführte Lehranstalt mit Internat. Drei ihrer sechs Kinder schrieben die Bayrous in Bétharram ein, Ehefrau Elisabeth Bayrou gab den Schülern Katechismusstunden. Auch deshalb stellen sich heute viele die Frage, was Bayrou wusste.
200 Schüler stellten eine Anzeige
Im Februar leitete die Staatsanwaltschaft in Pau nach einjährigen Ermittlungen und mehr als 200 Anzeigen ein Strafverfahren ein. Ein ehemaliger Aufseher wurde wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung angeklagt. Zwei weitere Verdächtige profitierten von der Verjährung der Taten. Der Skandal erschüttert Frankreich, reiht er sich doch in eine ganze Serie von verdrängten oder vertuschten Vorgängen in kirchlichen Einrichtungen ein.
2021 veröffentlichte die von der französischen Bischofskonferenz eingesetzte Kommission CIASE einen Bericht über „massive und systemische sexuelle Gewalt“. Mindestens 216.000 Kinder und minderjährige Jugendliche seien zwischen 1950 und 2020 Opfer sexueller Übergriffe durch Priester, Ordensleute und Kirchenmitarbeiter geworden, heißt es darin. Übergriffe von freiwilligen Helfern ohne Kirchenamt hinzugerechnet, beläuft sich die Zahl der Opfer auf 330.000. Im Juli 2024 enthüllte die Emmaus-Stiftung, dass der 2007 verstorbene Abbé Pierre, lange eine Ikone in Frankreich, jahrzehntelang sexuelle Übergriffe begangen hat.
„Bétharram steht für den größten Fall von Pädophilie in Frankreich“, sagt jetzt der Whistleblower Alain Esquerre. In seinem am Donnerstag erschienenen Buch „Das Schweigen von Bétharram“ zeichnet Esquerre nicht nur seine eigene Leidensgeschichte an der Schule nach, sondern beschreibt auch eindringlich die Mechanismen des Wegschauens und Verneinens, lässt viele Opfer zu Wort kommen. Auch Perlant hat mit Esquerre zusammengearbeitet. Sie mahnt an, den Aufklärungsprozess nicht politisch zu überladen: „Die Gesellschaft kann sich diesen Gewalttaten nur mit Schuldgefühlen oder wie gelähmt nähern.“ Perlant fordert, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Doch die Affäre ist längst politisch.
Esquerre beschreibt den Fall des Schülers Marc Lacoste-Séris, der bei Minusgraden von einem Aufseher zur Strafe in der Nacht im Freien ausharren musste, nackt bis auf die Unterhose. Nur durch die Umsicht eines Mitbestraften gelang es, Hilfe von außen zu holen. Marc entging nur knapp einer Amputation, in der Notaufnahme war man bestürzt. Kurze Zeit später schlug ein Aufseher dem Jungen so sehr aufs Ohr, dass dieser sein Gehör verlor. Da reichte es dem Vater, er zeigte 1996 die Schule an und ging an die Presse. Bayrou war damals französischer Bildungsminister. Sein Sohn Calixte war in der gleichen Klasse wie Marc.
Bayrou nahm Lehranstalt in Schutz
Als Minister hätte Bayrou eine Untersuchung anordnen können, schließlich hatte Bétharram wie die meisten katholischen Privatschulen einen Vertrag mit dem Staat. Aber er tat nichts. In der Regionalzeitung „Sud Ouest“ nahm er die katholische Institution sogar 1996 vor den Vorwürfen in Schutz: „Viele Bürger im Béarn empfinden diese Attacken mit Schmerzen und einem Gefühl der Ungerechtigkeit.“ Mehrere berühmte Absolventen von Bétharram wie der Modemacher Jean-Charles de Castelbajac und der Generaldirektor des Weltwährungsfonds, Michel Camdessus, kamen zum Strafprozess nach Pau, um ihre Solidarität mit ihrer ehemaligen Schule zu bekunden. Der gewalttätige Aufseher, der Marc auf einem Ohr gehörlos schlug, kam mit einer Geldstrafe von 5000 Francs davon. Die Schule ging straffrei aus.

1998 erstattete erstmals ein Schüler Anzeige gegen den Direktor – wegen Vergewaltigung. Er war ebenfalls ein Geistlicher. Der damals verantwortliche Untersuchungsrichter Christian Mirande meldete sich kürzlich aus dem Ruhestand zu Wort und schilderte, Bayrou habe ihn seinerzeit um ein Gespräch gebeten. Bayrou sei als Vater eines Schülers besorgt gewesen und habe nicht glauben wollen, was dem Direktor vorgeworfen wurde. Der Geistliche nahm sich das Leben, nachdem weitere Schüler wegen sexuellen Missbrauchs Anzeige erstattet hatten. Der ehemalige Richter Mirande sagte, Bayrou sei informiert worden.
Auch eine ehemalige Mathematiklehrerin Francoise Gullung kommt in Esquerres Buch vor. Sie habe 1996 mit Elisabeth Bayrou zusammen im Flur gestanden, als aus einem Klassenzimmer laute Schreie eines Schülers drangen, der den Lehrer anflehte, mit Schlägen aufzuhören. Madame Bayrou reagierte nach den Worten der Mathematiklehrerin nicht, sie schien den Vorgang normal zu finden. Gullung stellte die Direktion zur Rede und wurde daraufhin das Opfer von Einschüchterungsversuchen. Mal wurde ihr Auto beschädigt, täglich erhielt sie Drohanrufe. Die Mathematiklehrerin gab nicht auf und schrieb dem Bildungsminister Briefe. Eine Antwort bekam sie nie. Sie bat schließlich um ihre Versetzung.
Autor Esquerre schreibt dazu: „Alle wussten es, die Notabeln wie die Proletarier, die Politiker“. Es gebe einen Spruch im Béarn für ungezogene Kinder: „Wenn du so weitermachst, kommst Du nach Bétharamm“. Esquerre meint: „Alle haben damals versagt, und François Bayrou war nicht besser als die anderen.“