Palina Scharenda-Panasjuk ist zurück aus der Hölle

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Wie eine Auferstandene fühlt sich Palina Scharenda-Panasjuk, „wie jemand, der aus dem Grab zurückgekehrt ist“. Vor gut zwei Monaten ist die 50 Jahre alte Belarussin aus ihrem Heimatland nach Vilnius geflohen. Nur 40 Kilometer liegt die litauische Hauptstadt von der Grenze zu Belarus entfernt. Doch für Scharenda-Panasjuk fühlt es sich dort an wie in einer anderen Welt. Sonne, Himmel, Luft, die beiden Kinder, der Mann: In mehr als vier Jahren als Gefangene des Regimes von Machthaber Alexandr Lukaschenko gab es Momente, in denen sie daran zweifelte, all das wiederzusehen, Momente, in denen sie daran zweifelte, überhaupt am Leben zu bleiben.

Im Herbst 2023 traf die F.A.S. in Vilnius ihren Mann. Andrej Scharenda war gut zwei Jahre zuvor dorthin geflohen und konnte später die beiden Söhne aus Belarus nachholen. Seine Frau musste er in Lukaschenkos Lagern zurücklassen. So hatten sie es miteinander verabredet. „Palinas Weg ist der des Widerstands“, sagte Scharenda damals. Jetzt ist seine Frau frei und kann von ihrer Gefangenschaft berichten.

Das tut sie unablässig – auch in der Hoffnung, anderen Gefangenen zu helfen. Sie spricht schnell und mit kräftiger Stimme, wie jemand, der genau weiß, was er will. „Meine Hauptaufgabe ist es, Belarus von Lukaschenko zu befreien“, sagt Scharenda-Panasjuk. „Und die Leute herauszuholen, die noch dort sind.“ In der Hölle, wie sie die Gefängnisse des Regimes nennt.

Das Regime verfolgt auch die Unterstützer der Gefangenen

Wie viele politische Gefangene es in Belarus gibt, das Lukaschenko seit mehr als 30 Jahren beherrscht, ist unbekannt. Die knapp 1200, welche die – selbst verfolgte – Menschenrechtsorganisation Wjasna angibt, gelten nur als Spitze des Eisbergs. Denn viele Angehörige von Lukaschenkos Gefangenen schweigen aus Angst, deren Schicksal noch zu verschlimmern. Scharenda-Panasjuk sagt: „Das Regime verwendet seine ganze Kraft darauf, zu verschleiern, dass es viele politische Gefangene gibt und dass der Terror weitergeht.“ Es säe Angst, verfolge nun gar Leute, die bloß Gefangenen Geld überwiesen oder Schokolade geschickt hätten.

Dass ihr Mann an die Öffentlichkeit ging, habe das Regime geärgert. Trotzdem sagt Scharenda-Panasjuk: „Man darf auf keinen Fall schweigen.“ Dass sie selbst letztlich freikam, sieht sie als Zusammenspiel von internationaler Aufmerksamkeit, dem Kampf ihres Manns und Gesten Lukaschenkos im Zuge neuer Scheinwahlen.

Festnahmen, Bußgelder und Arrest gehörten für sie und ihren Mann von Anfang an dazu. Sie lernten einander in der Oppositionsarbeit im westbelarussischen Brest an der Grenze zu Polen kennen, setzten sich in der „Bürgerkampagne Euro­päisches Belarus“ für Demokratie und ei­ne proeuropäische Öffnung ein. In der Repression nach der Protestwelle gegen die gefälschte Präsidentenwahl von 2020 wurde auch ihre Lage immer schlimmer.

Machthaber seit 30 Jahren: Lukaschenko Ende Januar in Minsk
Machthaber seit 30 Jahren: Lukaschenko Ende Januar in MinskAP

Palina Scharenda-Panasjuk wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, bis Lukaschenkos Schergen zu ihr kommen würden. Sie war bekannt in Brest. Denn 2019 war es ihr gelungen, genug Unterschriften zu sammeln, um zu Scheinparlamentswahlen anzutreten und einen Staatsfernsehauftritt von gut fünf Minuten zu ergattern. Im Fernsehen nannte sie Lukaschenko einen Diktator. Die Rache folgte unmittelbar: Ihre Kandidatur wurde vereitelt, es begannen Verfahren, Geldbußen trafen die Familie empfindlich.

Natürlich hätten ihr Mann und sie schon damals erwogen, Belarus zu verlassen, sagt die Aktivistin. Doch zum einen wollten sie so lange wie möglich in Brest aushalten, weiterkämpfen „wie Soldaten im Hinterland des Feindes“ – dieses Bild wählt Scharenda-Panasjuk, die friedlich protestierte und allein ihr eigenes Leben einsetzte. Zum anderen durchkreuzte das Regime alle Fluchtgedanken.

Als maskierte Polizisten am 3. Januar 2021 die Wohnungstür aufbrachen und Scharenda-Panasjuk vor den Augen ihres jüngeren, damals vier Jahre alten Sohnes festnahmen, saß ihr Mann gerade eine Arreststrafe ab. Die ersten Vorwürfe gegen sie umfassten „Beleidigung des Präsidenten“, „Beleidigung von Machtvertretern“ und „Gewalt oder Drohung mit Gewaltanwendung ge­genüber einem Innenministeriumsmitarbeiter“.

270 Tage in Isolation

Stundenlanges Sitzen in winzigen, kalten Zellen, Beleidigungen und Drohungen: All das habe sofort begonnen, berichtet Scharenda-Panasjuk. Denn die Gefängniswärter wüssten: „Wenn du grau­sam mit Lukaschenkos Feinden umgehst, bekommst du Orden, Vergünstigungen und machst Karriere.“ Im Lager komme kaum ein Brief von Verwandten an, Briefe von Unterstützern erhalte man sowieso nicht, und ob der Anwalt der Familie ausrichte, was man ihm sage, sei ungewiss. Denn jeder, der die politischen Gefangenen in Belarus irgendwie unterstützt, riskiert, selbst verfolgt zu werden.

Schon im Brester Untersuchungsgefängnis habe sie als politische Gefangene ein gelbes Abzeichen an ihren Häftlingskittel nähen müssen, mit Namen, Geburtsjahr, Haftzeit und Straftatbeständen, sagt Scharenda-Panasjuk. Bei jedem Appell musste sie diese Informationen referieren. Und dazu sagen, wegen einer „Neigung zu Extremismus und destruk­tiver Tätigkeit“ in ein „prophylaktisches Register“ aufgenommen worden zu sein. Das diene der Erniedrigung. Und löse sich das Zeichen, und es löse sich oft, weil es von schlechter Qualität sei, liefere das der Anstaltsleitung einen weiteren Vorwand, den Häftling in den Karzer zu stecken, den sogenannten Strafisolator. Insgesamt 270 Tage hat Scharenda-Panasjuk ihrer Rechnung nach in solchen Zellen verbracht. Feucht und schimmlig sind die, und winzig klein.

Manche verloren im Lager den Verstand

Im Frauenstraflager im ostbelarussischen Gomel beispielsweise konnte sie entlang der Wand drei Schritte hin, drei Schritte zurück machen. Im Boden ein Loch, als Klo, keine Hygieneartikel, abends bloß eine Flasche warmen Wassers, um sich zu waschen. Zum Schlafen eine harte Pritsche, keine Matratze oder Decke – und die ganze Zeit grelles Licht. Scharenda-Panasjuk zufolge war es zeitweise so kalt, dass sie ihren Atem vor dem Mund sah.

„Vor Kälte fängst du an, dich mit einem Handtuch oder Toilettenpapier zu umwickeln. Aber sofort klopft es an der Tür und jemand sagt: Sie verstoßen gegen die Kleiderordnung, legen Sie das weg, oder es gibt einen Bericht.“ Der kann noch mehr Karzer nach sich ziehen. Die karge Kost – „Vitamine gibt es da aus Prinzip nicht“ – schwächt die Gefangenen zusätzlich. „Unter diesen Bedingungen sitzen die Frauen wochen- oder monatelang“, sagt Scharenda-Panasjuk. „Das ist Folter.“

Im Karzer gibt es keinerlei Ablenkung, keine Bücher, nichts. „Man schaut den Spinnen zu“, sagt sie. „Wenn man ein Stück Himmel oder Sonne durch ein kleines Fensterchen sehen kann, ist das schon gut.“ Es brauche „härteste Selbstdisziplin“: Stoisch müsse man sein, sich von den Dingen lösen, bloß nicht nachdenken, nur existieren. Das gelingt nicht allen. „Ich habe gesehen, wie Leute unter diesen Bedingungen anfangen, den Verstand zu verlieren.“ Ihr persönlich habe geholfen, dass sie Historikerin ist, sagt Scharenda-Panasjuk. Denn während Stalins Terror mussten viele Belarussen noch Schlimmeres überdauern.

Zurückschlagung der Massenproteste vor fünf Jahren: Szene vom 8. September 2020 in Minsk
Zurückschlagung der Massenproteste vor fünf Jahren: Szene vom 8. September 2020 in MinskAP

Als angebliche Wiederholungstäterin kam sie Mitte 2022 in ein anderes Lager. Der Vorwurf: „böswillige Nichterfüllung von Forderungen der Verwaltung einer Besserungsanstalt“. Sie war die erste Belarussin, die wegen dieses Straftatbestands verurteilt wurde. Später kamen noch zwei weitere solcher Verurteilungen hinzu. Kettenhaft.

Denn Scharenda-Panasjuk galt als unbeugsame Gefangene. „Vor Banditen stehe ich nicht auf“, hatte sie dem Mann zugerufen, der im Juni 2021 das erste Urteil gegen sie verkündet hatte. Sie bestritt, dass er ein Richter sei, und hielt ein Schild hoch, an dem an die Adresse Lukaschenkos gerichtet stand, der „Usur­pator“ solle gehen. Es habe ihr geholfen, das zu sagen, sich treu zu bleiben, an der Wahrheit festzuhalten, sagt sie. „Wenn du diesen Stab von Anfang an hältst, wird es einfacher.“

Ihre größte Sorge waren ihre beiden Söhne. Sie mussten fort aus Belarus. Auch weil das Regime einen perfiden Weg gefunden hat, um Mütter abhängig zu machen: Ein Lukaschenko-Erlass von 2006 dient vorgeblich dem Schutz von Kindern in „sozial gefährdeter Lage“. Werden Eltern die Kinder weggenommen, fordert der Staat, ihm die Unterstützungsleistungen zurückzuzahlen, die vom Gehalt einbehalten werden, von dem den Betroffenen praktisch nichts bleibt. „Diese Frauen werden zu den schmutzigsten, schwierigsten Arbeiten gezwungen“, sagt Scharenda-Panasjuk. „Sie leben wie Sklavinnen.“

Sie nahm an einem erzwungenen „Reuefilm“ teil

Im Lager für Wiederholungstäterinnen seien 95 Prozent der Insassen Frauen gewesen, die verurteilt worden seien, weil sie entsprechenden Arbeitspflichten nicht nachgekommen seien, sagt sie. Auch Scharenda-Panasjuk drohte zur Schuldnerin des Regimes zu werden, das sie bekämpft. Die Söhne waren eine Zeit lang bei der Familie ihres Mannes untergebracht, als der schon geflohen war. „Obwohl die Verwandten sagten, sie bräuchten die Leistungen nicht, wurden sie ihnen aufgezwungen und von mir zurück­gefordert.“ Erst mit der Ausreise der Kinder zu Andrej Scharenda gelang es der Familie, dem Regime diesen Hebel zu nehmen.

Scharenda-Panasjuk litt in der Haft unter Problemen mit der Bauchspeicheldrüse, hatte Suizidgedanken. Nach einem weiteren Monat im Karzer habe sie verstanden, dass sie womöglich nicht über­leben werde, wenn es so weitergehe, sagt Scharenda-Panasjuk. Solche Fälle gibt es: Mehrere politische Gefangene sind in Lukaschenkos Lagern umgekommen. Also gab sie dem Druck der Gefängnisleitung nach, die von ihr „ein Interview“ forderte, und nahm an einem sogenannten Reuefilm teil: „Ich musste, um meine Gesundheit zu wahren, taktische Spiele mit dem Regime eingehen.“

Wie sie nach Litauen kam, will sie nicht preisgeben

Sie lacht, wenn sie sich daran erinnert, wie sie in dem Film vom März vorigen Jahres gegenüber einer adret­ten Staatsfernsehmitarbeiterin Propagandaphrasen von sich geben musste. Blass wirkt sie in dem Film, geschwächt, gezwungen. „Innerlich brennst du vor Hass und verstehst, dass vor dir ein Feind sitzt, dem du ins Gesicht lächeln musst.“

Im Drehteam hatte ein Russe das Sagen. Das merkte Scharenda-Panasjuk un­ter anderem daran, dass die Frau, welche die Insassen des Straflagers in dessen Werkstatt anleitete, Uniformen für die russische Armee zu nähen, dem Mann sagte, diese Tarnfleckkleidung sei „für euch“. Spätestens seit den Protesten 2020 hält sich Lukaschenko nur noch mit russischer Unterstützung an der Macht. Scharenda-Panasjuk sieht aber ihre Heimat schon seit 1994, als Lukaschenko an die Macht kam, als Opfer einer „hybriden Besatzung“ durch Russland.

Zusätzlich zu dem Film musste Scharenda-Panasjuk Lukaschenko um Gnade bitten und eine Erklärung unterzeichnen, in der sie sich verpflichtete, dessen Geheimdienst KGB zuzuarbeiten. Damit wolle das Regime seine Gegner politisch unschädlich machen, sagt sie. Trotz allem war ihr nicht klar, ob nicht ein Polizei­wagen und neue Vorwürfe auf sie warten würden, als sie am 1. Februar endlich das Lagertor durchschreiten konnte.

Sie konnte nach Brest zurückkehren, sollte aber zwei Jahre unter Aufsicht stehen, eine ihr zugewiesene Arbeit ausüben, nachts stets zu Hause sein, die Stadt nicht verlassen. Nach wenigen Tagen floh sie nach Litauen. Wie, will sie nicht preisgeben, um anderen nicht den Weg zu verbauen.

Kurz nach der Ankunft in Vilnius sagte sich Scharenda-Panasjuk öffentlich von der erzwungenen Erklärung zur Zusammenarbeit mit dem KGB los, um dem Regime auch diesen Erpressungshebel zu nehmen. Ende März konnte sie den neunten Geburtstag ihres jüngeren Sohnes mit ihm feiern, den ersten gemeinsamen seit fünf Jahren. Womöglich würden Monate oder Jahre vergehen, bis sie wieder ganz gesund sei, sagt sie. „Aber die Luft der Freiheit bewirkt Wunder, sie heilt – und wenn du dein eigener Herr bist, liegt alles in deinen Händen.“

„Sie sind Terroristen mit Blut an den Händen“

Mitte Februar berichtete die „New York Times“, ein ranghoher amerikanischer Diplomat habe Lukaschenko in Minsk besucht, im Auto drei politische Gefangene mit zurück nach Litauen genommen und dann in Vilnius in vertrau­licher Runde davon gesprochen, ein nächster Schritt könne sein, dass Washington Sanktionen gegen belarussische Banken und Düngemittel lockere, wenn das Regime weitere Gefangene freilasse.

Scharenda-Panasjuk hält davon nichts. Sie ist fest davon überzeugt, dass nur Sanktionen des Westens gegen Lukaschenko hälfen: Sie verhinderten, dass der noch mehr Geld für seine Sicherheitskräfte und noch viel schlimmere Repressionen bekomme. Lukaschenko habe schon viele amerikanische Regierungen und ihre Un­t­erhändler überlebt und lache über solche Vorstöße bloß, sagt sie.

Nicht nur Amerika, westlichen Demokratien insgesamt fehle es an „systematischem Widerstand“ gegen Diktaturen. „Wenn ihr mit dem Regime Handel treibt, finanziert ihr Mörder“, sagt Palina Scharenda-Panasjuk. „Sie tragen Krawatten, saubere Schuhe, essen mit Messer und Gabel. Aber sie sind Terroristen mit Blut an den Händen.“