Kaum hatten die ersten modernen Menschen Afrika verlassen und europäischen Boden betreten, suchten sie offenbar intensive Beziehungen zu Neandertalern. Begonnen hat das vor knapp fünfzigtausend Jahren. Etwa siebentausend Jahre lang – danach nicht mehr – mischten sich die beiden Homo-Populationen immer wieder, was durchaus vorteilhaft für Homo sapiens war. Bis heute stecken im Erbgut von jedem Europäer deshalb zwei bis drei Prozent Neandertaler-Erbgut. Vor allem Gene, die für die Pigmentierung des Körpers sorgen, für den Bau des Immunsystems und Stoffwechselgene erwiesen sich für die modernen Europäer als vorteilhaft.
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben durch Genomanalysen von Dutzenden prähistorischen Knochenresten und den Vergleich zu Hunderten heute lebenden Menschen deutliche Hinweise auf ein genetisch prägendes zentrales „Vermischungsereignis“ zwischen Neandertalern und modernen Menschen gefunden. DNA-Analysen von Knochenfragmenten mehrerer vor etwa 42.000 bis 49.000 Jahren im heutigen Thüringen sowie Tschechien lebender Individuen erbrachten demnach neue Erkenntnisse zum Kontakt zwischen den beiden Menschenarten und der Ausbreitung des Homo sapiens außerhalb Afrikas, wie das Forschungsinstitut am Donnerstag berichtete.
Demnach gab es in einem Zeitraum vor 45.000 bis 49.000 Jahren offenbar ein signifikantes „Vermischungsereignis“ zwischen modernen Menschen und Neandertalern, wobei es in diesem Zeitraum noch eine zusammenhängende Population von frühen Menschen außerhalb von Afrika gegeben haben muss.
Belege für einen konzentrierten „Genfluss“ zwischen modernen Menschen und Neandertalern etwa in dieser Zeit liefert auch eine zweite Studie, die Forschende des Max-Planck-Instituts und der Universität von Kalifornien ebenfalls am Freitag veröffentlichten. Sie analysierten die Länge von Neandertaler-Gensequenzen in Genomen von mehr als 300 modernen Menschen aus unterschiedlichen Epochen. Daraus schlossen sie darauf, dass dieser Austausch vor rund 47.000 Jahren begann und etwa 7000 Jahre andauerte.
Die Forschenden aus Leipzig untersuchten für die erste Studie gemeinsam mit Experten aus anderen Ländern die Knochen moderner Menschen aus der Ilsenhöhle bei Ranis in Thüringen und aus der rund 230 Kilometer entfernten Fundstätte Zlaty kun in der Nähe von Prag in Tschechien. Es handelt sich demnach um die ältesten Genome moderner Menschen aus dem eiszeitlichen Europa, die bisher von Wissenschaftlern sequenziert wurden.
Wenige hundert Menschen waren die Pioniere
Insgesamt handelte es sich dabei wohl um eine zusammenhängende Population von nur einigen hundert Menschen, die über einen Zeitraum von mehreren Generationen ein größeres Gebiet in dieser Region bewohnte. In ihrer DNA fanden sich Genvarianten, die auf dunkle Haut- und Haarfarbe und braune Augen hindeuten. Dies sei „wohl ein Resultat des jüngeren afrikanischen Ursprungs dieser frühen europäischen Population“, erklärten die Experten.
Hinweise auf kürzlich erfolgte Vermischung mit Neandertalern fanden sich in den Genomen aus Ranis und Zlaty kun zwar nicht. Allerdings fanden sich darin trotzdem dieselben DNA-Spuren von Neandertalern, die sich bei allen heute außerhalb Afrikas lebenden Menschenpopulationen nachweisen lassen.
Überreste moderner Menschen außerhalb Afrikas, die älter als 50.000 Jahre sind, haben diese Genüberschneidungen nach Angaben des Instituts dagegen nicht. Insgesamt folge daraus, dass es vor etwa 45.000 bis 49.000 Jahren ein „Vermischungsereignis“ zwischen Neandertalern und modernen Menschen gegeben habe, nachdem der Homo sapiens Afrika verlassen hatte. Die Menschen aus Ranis und Zlaty kun gehörten zu einer Abspaltung der Ursprungspopulation, die sich anschließend allmählich über Europa und Asien verbreitete.
Ganz ähnliche Schlüsse lässt die zweite Studie unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts zu. Die Analyseergebnisse zeigten, „dass die überwiegende Mehrheit der Neandertaler-Abstammung auf einen einzigen, gemeinsamen und langjährigen Genfluss von den Neandertalern zu den gemeinsamen Vorfahren aller heutigen nicht-afrikanischen Menschen zurückgeführt werden kann“, erklärte Priya Moorjani von der Universität von Kalifornien in Berkeley.
Aus den Daten der mehr als 300 DNA-Analysen ergeben sich den Experten aus Leipzig zufolge auch zusätzliche Informationen zur Ausbreitung des Homo sapiens außerhalb von Afrika. Demnach könnte die „Hauptmigrationswelle“ vor 43.500 Jahren oder etwas früher stattgefunden haben. Insgesamt geht die Forschung demnach davon aus, dass vor 40.000 bis 60.000 Jahren immer wieder Gruppen moderner Menschen den afrikanischen Kontinent verließen.
Diese Homo sapiens breiteten sich anschließend in Europa und Asien aus, wo sie auf die später ausgestorbenen Neandertaler trafen. Als Resultat dieser Vermischung tragen laut Max-Planck-Institut heute alle außerhalb Afrikas lebenden Menschen meist ein bis zwei Prozent von Neandertaler-DNA im Genom. Neandertaler und Homo sapiens haben gemeinsame Vorfahren, ihr evolutionärer Weg trennte sich aber vor 500.000 Jahren. Neandertaler entwickelten sich in Europa und Asien, der moderne Mensch in Afrika.
Der bekannte Anthropologe Chris Stringer hält die Befunde aus Leipzig für bemerkenswert und wichtig: „Offenbar waren die ersten modernen Menschen, die Europa erreichten, in kleinen Gruppen aus wenigen Individuen aus Afrika eingewandert und die meisten starben sicher auch aus. Sie hinterließen keine genetischen Spuren bei den späteren europäischen Populationen.“ Das bedeute auch, dass die archäologischen Funde aus Westeuropa, China oder in Ozeanien, die deutlich älter als 50.000 Jahre sind, wahrscheinlich von Gruppen stammten, die später verschwanden, ohne dass sie irgendwelche Anteile an gegenwärtigen Populationen beigetragen haben.