Warum die Deutsche Marine die größte Verantwortung trägt

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Nord- und Ostsee sind längst keine friedlichen Regionen mehr. Russland sucht dort den Konflikt mit dem Westen, testet unentwegt Wachsamkeit und Verteidigungsbereitschaft der Anrainer, darunter die Deutsche Marine. Über beide Meere bewegen sich große Warenströme, ein Großteil des europäischen Außenhandels wird über Häfen an Nord- und Ostsee abgewickelt. Aber auch Russland führt mit Dutzenden von Tankern etwa seine Öllieferungen über diese Meere, wird mit Handelsgütern aus aller Welt versorgt. Kabel und Pipelines dienen den Anrainern als Lebensadern für Energie und Informationen; Windparks liefern Strom.

Hinzu kommt die militärstrategische Bedeutung: Ohne eine Ostseeverbindung könnte die NATO kaum ihre baltischen Verbündeten unterstützen. Über Nordseehäfen wie Antwerpen bekäme das Bündnis Verstärkung aus Amerika. Von modernen russischen Mittelstreckenraketen im hochgerüsteten Kaliningrader Gebiet geht eine permanente Gefahr aus: Berlin oder Kopenhagen könnten von dort in Minuten mit Iskander-Flugkörpern erreicht werden, die Moskau gegen internationale Abrüstungsverträge in der Exklave seit 2018 fest stationiert hat.

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Strategisch hat Russlands Präsident Wladimir Putin in der Ostseeregion mit dem Überfall auf die Ukraine eine schwere Niederlage erlitten, als Schweden und Finnland der NATO beigetreten sind. Vor 1990 war ein Großteil der Ostseeanrainer entweder neutral oder im Sowjetblock. Heutzutage sind alle Ostseeanrainer NATO-Mitglieder, mit Ausnahme Russlands. Moskau lässt keinen Zweifel daran, dass es zumindest die baltischen Staaten zurück unter seiner Kontrolle haben will. Auch gegen Finnland wird mit hoher Intensität operiert. Schweden baut seine Militärpräsenz auf der Insel Gotland wieder aus und hat eine Wehrpflicht eingeführt.

Spionage, Sabotage, militärische Provokationen, hybride Angriffe, Cyberattacken – das alles gehört zum beinahe täglichen Repertoire russischen Vorgehens in der Region. „Man testet uns, man will unsere Gesellschaft verunsichern“, sagt dazu Vizeadmiral Jan Kaack, der die Deutsche Marine seit 2022 führt. Kaack ist seit 43 Jahren bei der Marine, er wurde noch im Kalten Krieg beim damaligen Schnellbootgeschwader ausgebildet. In Berlin gilt der bescheiden auftretende Offizier als Mann mit Überblick und Plan. Kaacks Aufgabe ist es, die stark verkleinerte Marine so auszurichten und auszurüsten, dass sie im Verbund mit den Seestreitkräften der NATO-Partner Russland Paroli bieten kann.

Vizeadmiral Jan Kaack: „Man testet uns, man will unsere Gesellschaft verunsichern“
Vizeadmiral Jan Kaack: „Man testet uns, man will unsere Gesellschaft verunsichern“dpa

Im Kalten Krieg gehörte dazu auch, Russlands Atom-U-Boote am Zugang zum Atlantischen Ozean zu hindern. Wenn heutzutage ein deutsches U-Boot seinen Heimathafen Eckernförde verlässt, dauert es meist nicht lange, ehe russische Schiffe seine Verfolgung aufnehmen. Für Korvettenkapitän Johannes Nestler, den Kommandanten von U 33, und seine Besatzung zählt diese Begleitung zum Alltag. Allerdings sind es nicht mehr bloß Aufklärungsschiffe wie die Wassilyj Tatischtschew, vollgestopft mit Elektronik und Störtechnik, sondern auch russische Korvetten, die sich aggressiver verhalten als in früheren Jahren.

Zuweilen hätten die Russen schon versucht, den U-Booten beim Abtauchen das Sehrohr abzufahren, erfährt man von der Besatzung, aber auch in der Admiralität der Marine. Hinzu kommen Meldungen über gravierende Sabotageakte auf deutschen Werften, zuletzt sollen Unbekannte eimerweise Metallspäne in den Antrieb der Korvette Emden gekippt haben, bei einem Minensucher wurde auf der Rostocker Werft ein Hauptkabelbaum durchtrennt. Kaack sagte dazu kürzlich, es gebe „auf mehr als einer Einheit Zerstörung, also Sabotage“. Man habe Maßnahmen ergriffen.

Getaucht sind die deutschen U-Boote nahezu unsichtbar und unhörbar. Sechs ­U-Boote der Klasse 212A hat die Marine noch, sie gehören zum 1. U-Boot-Geschwader. Russland scheint sie zu fürchten, denn es versucht, jedes deutsche ­U-Boot so eng wie möglich zu beschatten. Die Nutzung privater Handys ist für die Seeleute dann tabu, falls ihnen Kontakt- und Bankdaten lieb sind. Und wenn Korvetten der Stereguschtschyj-Klasse auftauchen, ist Achtsamkeit geboten. Die Schiffe sind zur Jagd auf U-Boote spezialisiert und gehören zur Baltischen Flotte. Sobald U 33 abtauchte, hielt eine der Korvetten auf die Stelle zu. Mit ihrem aktiven Sonar versuchten sie zudem das U-Boot ins Visier zu bekommen.

Drastisch gestiegene Spionageaktivitäten in der Ostsee

Größere Sorgen als solche militärische Begleitung, die sich meist auf dem Niveau der professionellen Begegnungen im Kalten Krieg bewegt, machen Militärs und Sicherheitsbehörden sich über drastisch gestiegene Spionageaktivitäten in der Ostsee. Von zivil aussehenden russischen Schiffen starten Drohnen, andere fahren wochenlang im Zickzack über Unterseekabel, „verirren“ sich in Windparks oder schleppen angeblich versehentlich Anker hinter sich her. Mindestens elfmal wurden dabei Unterwasserleitungen oder -kabel wie das C-Lion 1, das als einziges Finnland direkt mit Mitteleuropa verbindet, beschädigt. Hinzu kommt die Nord-Stream-2-Sprengung, deren Hintergründe noch immer unklar sind.

Auffällig oft hatten zuletzt mit russischem Öl beladene Frachter Pannen vor Deutschlands Küsten. Vor ein paar Wochen hat Deutschland gehandelt: Der Zoll beschlagnahmte den unter panamaischer Flagge fahrenden Tanker Eventin samt Ladung, etwa 100.000 Tonnen Rohöl. Die Generalzolldirektion zog sowohl das Schiff als auch seine Ladung im Wert von schätzungsweise 40 Millionen Euro ein.

Auch Deutschland überwacht mit Verbündeten russische Einheiten

Der Fall zeigt, dass der Konflikt mit Russland in der Ostsee längst zum unfriedlichen Alltag gehört. Neben der Marine seien „weitere Sicherheitsbehörden an Maßnahmen zur Sicherung der deutschen Küstengewässer und der kritischen maritimen Infrastruktur“ beteiligt, erklärt die Bundesregierung. Dazu gehören der Zoll, die Küstenwache und die Polizeibehörden der Anrainerländer. Die Marine zeige Präsenz, so die Bundesregierung, und trage zum gemeinsamen Lagebild der Ressorts und zuständigen Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern bei. Die Zusammenarbeit erfolgt über das Maritime Sicherheitszentrum in Cuxhaven und über das neu eingerichtete Maritime Operations Center im Marinekommando Rostock, das speziell dem Informationsaustausch mit den Ostseeanrainerstaaten und der NATO dient.

Und so, wie die Russen deutsche Schiffe begleiten, die sich etwa dem Kaliningrader Gebiet nähern, sorgt Deutschland gemeinsam mit befreundeten und verbündeten Ostseeanrainern für die Überwachung und Begleitung von russischen Einheiten. Ein multinationaler Marineverband mit fünf, sechs Kriegsschiffen der NATO operiert ständig in Nord- und Ostsee, die Standing NATO Maritime Group 1. Sie wurde nach 1990 nie aufgelöst, nun aber deutlich verstärkt, ebenso wie größere Seemanöver.

Ziel der diversen reanimierten oder neu begründeten Kooperationen ist es, von allen beteiligten Behörden, aber auch von Ölfirmen, Windparkbetreibern und eventuell sogar Fischern und Freizeitkapitänen möglichst viele Daten über Geschehen und Unregelmäßigkeiten in Nord- und Ostsee zu bekommen. Dass man die Schiffsbewegungen erst nach einem Ereignis wie der Nord-Stream-2-Sprengung im September 2022 analysiert, soll nicht mehr vorkommen.

Große Kompetenz und Kampfkraft russischer Seestreitkräfte

Doch was bedeutet es für die Marine, wenn der Zustand des Nichtfriedens, von dem Vizeadmiral Kaack spricht, sich ändert? Ist die NATO zur See gegen Angriffe gewappnet? Sicher ist: Anders als die russischen Landstreitkräfte, die in der Ukraine Zehntausende Soldaten und Tausende Fahrzeuge verloren haben, sind die russischen Seestreitkräfte im Norden völlig intakt. Und niemand bei der Deutschen Marine bestreitet deren Kompetenz und Kampfkraft. Das gilt vor allem für die elektronische Kriegsführung, aber auch für maritime Operationen. Russland wäre zur See ein starker und gefährlicher Gegner.

Das kann man von der weitgehend abgerüsteten Deutschen Marine nicht uneingeschränkt sagen. Derzeit betreibt das Marinekommando in Rostock auf den Stützpunkten in Kiel und Wilhelmshaven zwei Einsatzflottillen. Derzeit zählen elf Fregatten und fünf Korvetten dazu. Das Korvettengeschwader und die Schnellboote sind in Warnemünde stationiert. Moderne Schiffe sind in Bau. NATO-Partner wie Dänemark, Schweden oder Norwegen haben kleine, oft gut ausgestattete Flotten.

Aber trotz seiner Schwächung hängt insbesondere in der Ostsee die größte Verantwortung an Deutschland. Polen etwa, das viel in seine Landstreitkräfte investiert, besitzt zur See derzeit ein U-Boot aus Sowjetzeiten und mehrere veraltete Kriegsschiffe. Das größte ist die General Pulaski, eine ehemalige amerikanische Fregatte von 1979. Zwei moderne Kriegsschiffe werden für 2026 und 2032 erwartet.

Deutsche Marine hat einen Großteil ihrer früheren Flotte abgeschafft

Die Deutsche Marine hat unterdessen einen Großteil ihrer früheren Flotte abgeschafft. Zerstörer, Landungsboote, Minenjagdeinheiten oder Schnellboote wurden ausgemustert. Statt 24 U-Booten wie 1990 gibt es nur noch sechs. Aufgelöst wurden auch drei der hoch spezialisierten Geschwader der Marineflieger mit Dutzenden Tornados. Heute führt Vizeadmiral Kaack die kleinste Marine der Nachkriegsgeschichte. Und zugleich steht diese Teilstreitkraft vor großen Umbrüchen.

Neben den alten F-123-Fregatten (Baujahre um 1995) und den älteren F-124-Fregatten, deren Lebenszyklus ausläuft, stützt die Marine sich derzeit in dieser Schiffsklasse auf vier Fregatten vom Typ 125. Das erste dieser Krisenreaktionsschiffe, die Baden-Württemberg, war in den vergangenen 17 Monaten auf Weltreise. Geplant für lange Auslandsmissionen und humanitäre Einsätze, sind diese Schiffe nur bedingt seekriegstauglich. Die Marine versucht derzeit etwa, die mangelhaften Flugabwehrfähigkeiten durch fest verzurrte Startcontainer des bewährten IRIS-T-Systems zu verbessern.

Klar ist der Marine, dass für eine Auseinandersetzung mit einer Flotte wie der russischen auch neue Seekriegsmittel gebraucht werden. In Planung und Bau sind derzeit sechs neue „Mehrzweckkampfschiffe“, die Klasse F-126. Den Wettbewerb dafür hatte 2020 eine niederländische Werft gewonnen. Ihr Erfolg wurde möglich, weil deutsche Werften bei der Vorgängerfregatte mit großer Zeitverzögerung, starker Kostensteigerung und erheblichen Baumängeln abgeliefert hatten. In Bau sind zudem neue Tankschiffe und Flottendienstboote.

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Erhebliche technische Probleme gibt es bei fünf neuen Korvetten. Die Köln etwa, im April 2022 getauft, ist bis heute nicht von der Marine abgenommen. Sie sei „nicht zulassungsfähig und anfällig gegenüber Hackerangriffen“, so das Verteidigungsministerium. Derzeit ist geplant, dieses Schiff Ende 2025 der Marine zu übergeben. Hinzuzufügen ist, dass diese Korvetten vor Jahren von zwei mächtigen Haushaltspolitikern für die heimische Werftindustrie in Auftrag gegeben wurden. Ihr militärischer Nutzen wird inzwischen bezweifelt.

Die Beispiele zeigen, dass es in Sachen Marine selbst mit Milliardenaufwand nicht gelingt, zügig das benötigte Gerät zu beschaffen. Selbst an Schlauchbooten für die Kampfschwimmer scheitern Bürokratie und Industrie. Zudem ändert sich die Seekriegsführung rasch. Das kleine Estland, dessen Marine 350 Seeleute umfasst, hat zum Schutz seiner Küste israelische Antischiffsraketen vom Typ Blue Spear angeschafft, die in einem zivil aussehenden Lastwagen entlang der Küste bewegt werden. Sie können eine gegnerische Fregatte mit einem Treffer versenken.

Dass Abschreckung sogar ohne eigene Marine funktionieren kann, beweist der Ukrainekrieg: Russlands Schwarzmeerflotte musste weiträumige Operationen aufgeben, nachdem der Ukraine einige spektakuläre Abschüsse gelungen waren, darunter die Versenkung des prestigeträchtigen Lenkwaffenkreuzers Moskwa. Genutzt wurden dazu auch Unterwasserdrohnen. Sie werden neben größeren autonomen Systemen auch für die Deutsche Marine den Weg in die Zukunft markieren.

Marine-Chef Kaack hat das Zielbild für 2035 entsprechend korrigiert. Es sollen beispielsweise bis zu 18 größere Boote beschafft werden, die sowohl mit als auch ohne Besatzung operieren können, dazu bis zu sechs unbemannte ­U-Boote. Inzwischen hat die Marine nach eigenen Aussagen erfolgreich das System „Blue Whale“ erprobt, ein Unterwasserfahrzeug von 10,9 Meter Länge, das wochenlang unterwegs sein kann. Jetzt werde es darum gehen, heißt es in Rostock, das System durch das „Tal des Todes“ zu bringen, also jenes Terrain, wo Beschaffungs- und Testbürokratie sowie die Politik das Sagen haben.

Doch allen Beteiligten ist klar: In der Nordsee und vor allem der kleineren Ostsee liegt die Zukunft nicht bei großen Kampfschiffen mit 200 Mann Besatzung. Das hat mit dem technischen Fortschritt zu tun, für Deutschland aber vor allem mit der Personallage: Von 14.600 militärischen Dienstposten in der Marine waren Anfang des Jahres nur 11.520 besetzt, auf den Fregatten der Marine fehlten 27,9 Prozent der eigentlich eingeplanten Besatzungsmitglieder. Immerhin ist es im vorigen Jahr gelungen, mehr Bewerber für die Marine zu interessieren, wo das Motto gilt: „Seefahrt ist jeden Tag Ernstfall.“