Katastrophenschutz. Kriegsfähig in der Klinik und als Sanitäter

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Im neunten Stock der BG Unfallklinik Ludwigshafen liegt auf dem Tisch aus Edelstahl ein für die Humanmediziner ungewöhnlicher Patient: ein halbes Schwein. Besser gesagt, ein rosiger, mehr als ein Meter langer Brustkorb, säuberlich ausgenommen und von Extremitäten und Kopf getrennt. Die Hände in blauen Einmalhandschuhen, tastet sich der Notfallsanitäter Moritz Kraft an den Rippenbögen entlang. „Bei der Thoraxdrainage ist es wichtig, immer oberhalb der Rippen zu schneiden“, erklärt der anleitende Arzt, „unterhalb der Rippen verlaufen wichtige Nervenbahnen und Blutgefäße, die man nicht verletzen sollte.“

Der Notfallsanitäter setzt das Skalpell an, schneidet mehrere Zentimeter an den Rippen entlang und bohrt dann den Zeigefinger in den klaffenden Schnitt, um das Muskelgewebe auseinanderzuschieben und das Rippenfell zu öffnen. In der Brusthöhle angekommen, macht er mit dem Finger eine routinierte kreisende Bewegung, um zu überprüfen, dass kein Lungengewebe in der Nähe des Einschnitts an der Innenseite des Brustkorbs klebt. Dann zieht er den Finger raus und schiebt einen durchsichtigen Plastikschlauch durch den Schnitt in den Brustkorb und tritt einen Schritt zurück – die Drainage sitzt und muss nur noch angenäht werden.










„Katastrophenmedizin“, so heißt es in einer Leitlinie, die Ende 2023 veröffentlicht wurde, „ist die medizinische Versorgung in Katastrophen oder Großschadensereignissen mit Mangel an Ressourcen (personell und/oder materiell) und nicht nutzbarer Infrastruktur, bei der von der Individualmedizin abgewichen wird, um das bestmögliche Behandlungsziel für die größtmögliche Anzahl von Patienten zu erreichen.“ Gefragt ist sie bei Naturkatastrophen wie dem Elbehochwasser 2002 oder der Flut im Ahrtal 2021, bei Terrorattacken und Amokläufen.

Aber – und auch darüber wird in diesen Tagen gesprochen – auch im Krieg. Die Versorgung orientiert sich dabei grundsätzlich an den in der Notfallmedizin trainierten Vorgehen: Zugänge legen, intubieren, Thoraxdrainagen legen, Blutungen mit Abbindesystemen wie Tourniquets stoppen – das meiste, was sie an diesem Tag üben, kennt Moritz Kraft aus seinem Alltag als Notfallsanitäter.








In seiner Jugend wollte Kraft Polizist werden, doch als seine Mutter 2014 mit 60 Jahren an einem Schlaganfall starb, änderte sich für ihn alles: Er zog von Österreich zurück nach Deutschland, um seinen beiden Großmüttern im Haushalt zu helfen. „Nach dem tödlichen Sturz meiner Großmutter hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit dem Rettungsdienst. Für die Polizei war ich zu diesem Zeitpunkt nicht geeignet. Da ich jedoch gerne im Blaulicht-Bereich arbeiten wollte, entschied ich mich für ein Freiwilliges Soziales Jahr beim DRK“, sagt er. Das Einzige, was er an seinem alten Berufswunsch vermisst, ist die Verbeamtung und der Rückhalt vom Staat.

Heute ist er 30 Jahre alt und arbeitet seit neun Jahren beim Deutschen Roten Kreuz. Nach der dreimonatigen Ausbildung zum Rettungssanitäter ließ er sich zum Notfallsanitäter weiterbilden. Heute fährt er den Rettungswagen oder assistiert dem Notfallarzt.



„Man konzentriert sich in der regulären Ausbildung vor allem auf das, was häufig vorkommt – doch gerade auf unerwartete Katastrophen sind viele Ärzte nicht ausreichend vorbereitet“

PAUL GRÜTZNER, Ärztlicher Direktor der BG Klinik Ludwigshafen



Was Kraft und die anderen Teilnehmer nicht kennen und was sich nur schwer simulieren lässt, ist die Arbeit unter akuter Bedrohung, mit mangelhaftem Equipment und zerstörter Infrastruktur. „Man konzentriert sich in der regulären Ausbildung vor allem auf das, was häufig vorkommt – doch gerade auf unerwartete Katastrophen sind viele Ärzte nicht ausreichend vorbereitet“, sagt Paul Grützner, Ärztlicher Direktor der BG Klinik Ludwigshafen. Die Rhein-Neckar-Tage sollen dafür das Bewusstsein schaffen. Lernen könnten die Kliniken dabei vor allem von den Ärzten der Bundeswehr: „Die Bundeswehr setzt in der Ausbildung einen anderen Schwerpunkt: Ein chirurgisch tätiger Feldarzt muss das gesamte operative Spektrum der Notfallchirurgie beherrschen – von A bis Z –, denn im Ernstfall steht er allein da.“








Den berufsgenossenschaftlichen Kliniken kommt in Deutschland eine besondere Rolle zu: Als Einrichtungen der gesetzlichen Unfallversicherung haben sie den Auftrag, Menschen nach Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten zu behandeln. Sie gehören zu den größten Traumazentren, den Kliniken, die auf die Behandlung von Schwer- und Schwerstverletzten nach Unfällen aller Art spezialisiert sind und auf diesem Gebiet über besondere Expertise verfügen.

Nach eigenen Angaben versorgen sie jedes Jahr mehr als eine halbe Million Patienten. Dass die Schulung ausgerechnet in Ludwigshafen angeboten wird, ist also kein Zufall. Die Klinik hat nicht nur eine eigene Stabsstelle für Katastrophenmedizin, sondern auch einen Bildungscampus, an dem Kurse zur Aus- und Fortbildung für medizinisches Fach- und Assistenzpersonal angeboten werden. Auch zur Notfall- und Katastrophenmedizin.

Dass die Klinik dafür mit der Bundeswehr zusammenarbeitet, ist keine Seltenheit: etwa für den „Burn Trauma Care“-Kurs, den sie regelmäßig gemeinsam mit der BG Unfallklinik Frankfurt anbietet und an dem auch regelmäßig Ärzte aus der Ukraine teilnehmen. „Sie lernen, wie man verbrannte Haut retten kann und – wenn sie nicht zu retten ist – wie man mit den Defekten umgeht“, erzählt Christoph Reimertz, Koordinator für die Unternehmenskooperation der BG Kliniken mit den Bundeswehrkrankenhäusern.

Bei der Behandlung von Verbrennungsopfern sei Zeit ein entscheidender Faktor. „Verbrannte Haut setzt Toxine frei, die die Organe schädigen.“ Dies sei ab einem bestimmten Ausmaß lebensbedrohlich, deswegen liege der Fokus der Behandlung, die in speziellen Zentren erfolgen müsse, auf den ersten 48 Stunden. Wie in Ludwigshafen üben die Ärzte dafür an Schweinefleisch, das dafür aber verbrannt wird: „Das kommt der Realität sehr nahe, so können sie bestimmte Schnittformen üben“, sagt Reimertz. Die Kliniken profitierten von dem Austausch mit den ukrainischen Ärzten, die durch den Krieg eine Expertise auf dem Gebiet entwickelt hätten.




Die Erfahrungen ukrainischer Ärzte im Umgang mit knappen Ressourcen und instabiler Infrastruktur zeigen, wie wichtig es ist, auch in deutschen Kliniken die Versorgung Schwerverletzter unter Krisenbedingungen zu trainieren. Wissen, das man lieber nicht hätte. In Deutschland gibt es rund 150 Behandlungsplätze für schwere Brandverletzungen, „angesichts der Anzahl der Verbrennungsopfer in einem möglichen Kriegsszenario ist das viel zu wenig“, warnt Reimertz. Umso wichtiger sei es jetzt, Ärzte und Pfleger auf dem Gebiet zu schulen.

In Ludwigshafen schallt aus einem Lautsprecher Musik, die Fenster sind mit Rettungsdecken abgeklebt, neben dem Eingang und hinter einem Kleiderständer mit Strahlenanzügen liegen Verletzte, eine Frau schreit. Ausgestattet mit Klemmbrett und Warnweste versuchen Moritz Kraft und seine Teamkollegen, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Musik und die Dunkelheit erinnern an Nachtclub-Atmosphäre, eine Teilnehmerin brüllt nach Hilfe. Arbeiten unter Hochdruck.





Die Organisatoren simulieren in einem Raum der Klinik einen Massenanfall an Verletzten, kurz MANV. Kraft und die anderen Teilnehmer sichten als Erste: Sie sollen die Verletzten untersuchen und einer Kategorie zuordnen, die festlegt, wie dringend und in welchem Umfang sie behandelt werden müssen. Kraft kniet sich neben den ersten Verletzten, eine lebensgroße Stoffpuppe. Was wirkt wie ein Kinderspiel, soll sie auf die womöglich extremste Situation ihres Berufslebens vorbereiten. Und weiter: „Patient kann gehen?“, ruft ihm sein Kollege mit dem Klemmbrett in der Hand zu. Kraft wendet Schild A auf dem Kopf der Puppe, liest ab, was darunter steht. „Nein“. „Tödliche Verletzungen?“ „Nein“. „Spritzende Blutungen?“

Die Untersuchung folgt einem strengen Algorithmus, der die Einsatzkräfte Schritt für Schritt durch eine festgelegte Abfolge von Fragen führt und anhand der Antworten entscheidet, welcher Kategorie ein Verletzter zugeordnet wird: Rot für akute, vitale Bedrohung und Sofortbehandlung, Gelb für schwere Verletzung und dringliche, aber aufschiebbare Behandlung, Grün für leichte Verletzung und spätere oder ambulante Behandlung und Blau für geringe oder keine Überlebenschancen und palliative oder abwartende Behandlung – Schwarz steht für Verstorbene.

Nach abgeschlossener Untersuchung hängt Kraft der Puppe eine Karte mit einem gelben Schild um den Hals. Keine Minute ist da vergangen. Während hinten im Raum die Frau weiter schreit, eilt die Gruppe zum nächsten Verletzten. Schnell muss es gehen, je Patient sollte die Untersuchung nur ein paar Augenblicke dauern. „Genau dafür ist der Algorithmus entwickelt worden“, erklärt Maik von der Forst, stellvertretender medizinischer Leiter der Stabsstelle Krisen- und Katastrophenmanagement der Universitätsklinik Heidelberg. Er leitet die Übung. „In Stresssituationen gibt er den Helfern Sicherheit.“

Doch dafür müssten sie üben – viel üben, damit die Handgriffe im Ernstfall sitzen, schließlich gehe es dann deutlich chaotischer zu als hier. Nachdem alle Verletzten untersucht und danach sortiert sind, wie dringlich sie behandelt werden müssen, sind Kraft und sein Team auf dem Flur angekommen. Mit geröteten Wangen geben sie Rettungswesten und Klemmbrett an die nächste Gruppe weiter.








Im August 2019 haben die BG Kliniken und die Bundeswehr eine gemeinsame Absichtserklärung zur stärkeren Kooperation unterzeichnet. Um die Zusammenarbeit zu strukturieren, wurden die Kliniken regional zusammengefasst. Die BG-Kliniken Frankfurt und Ludwigshafen etwa bilden mit dem Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz den Cluster Süd-West. „Innerhalb der Cluster gibt es verschiedene Kooperationsstränge, vom Personalaustausch über gemeinsame wissenschaftliche Projekte, Austausch über Materialien bis hin zu Ausbildungskonzepten“, sagt Christoph Reimertz, der Verantwortliche für die Zusammenarbeit von Klinken und Bundeswehr.

Gemeinsam wollen sie die medizinische Infrastruktur in Deutschland für Krisenlagen resilienter aufstellen. Dafür sei auch vereinbart worden, wie Bundeswehr und BG Kliniken kooperieren würden, wenn ein konkreter Bündnis- oder Verteidigungsfall eintreten sollte. „Seit 1990 ist die Anzahl der Betten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr von 127.000 – verteilt auf Lazarette und Krankenhäuser – auf 1800 in den noch verbliebenen fünf Bundeswehrkrankenhäusern zurückgegangen.“ Die Bundeswehr verfüge also über viel zu wenig Kapazitäten, um im Fall der Fälle Patienten zu versorgen.




Schließlich gehe es in diesem Fall nicht nur um die Versorgung von Kriegsverletzungen, sondern auch von einer großen Zahl an Flüchtlingen. „Doch auch wir kommen da an unsere Grenzen“, sagt Reimertz. Im Einkauf von Medikamenten und medizinischen Materialien etwa sei man abhängig von Herstellern, die es kaum noch gebe in Europa: „Entweder müssen wir diese Strukturen jetzt sehr schnell aufbauen oder die Zulieferung gemeinsam mit unseren Partnern vertraglich absichern. Und zwar so, dass die Lieferungen auch in einem Spannungs- oder Kriegsfall sicher sind.“

Bettenplanung und Arzneimittel-Einkauf: In beidem könnten die BG Kliniken nur eine Ergänzung zu Bundeswehrkrankenhäusern sein, sagt Reimertz. Besser wäre es aus seiner Sicht für ein bundesweites Netzwerk, mindestens auch Universitätskliniken und Krankenhäuser der kritischen Infrastruktur – also mit einer bestimmten Bettenanzahl – mit ins Boot zu holen. Gespräche liefen schon. „Jede Klinik muss ihre vertraglich festgelegte Position und Aufgabe haben. Dann müssen entsprechende Szenarien geübt werden – immer wieder, denn nur dann wird man routiniert“, sagt Reimertz.



„Seit 1990 ist die Anzahl der Betten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr von 127.000 – verteilt auf Lazarette und Krankenhäuser – auf 1800 in den noch verbliebenen fünf Bundeswehrkrankenhäusern zurückgegangen.“

CHRISTOPH REIMERT, Koordinator für die Unternehmenskooperation der BG Kliniken mit den Bundeswehrkrankenhäusern



Insgesamt seien Krankenhäuser noch nicht ausreichend darauf vorbereitet, sich gegen Angriffe auf ihre Computersysteme, ihre Strom- und Wasserversorgung oder gegen direkte Angriffe zu schützen. „Wir wissen aus der Ukraine, dass in so einem Krieg nicht davor haltgemacht wird, Krankenhausstrukturen anzugreifen. Das Rote Kreuz ist eher ein Fadenkreuz geworden, als dass es tatsächlich dazu führt, dass diese Dinge geschützt werden.“ Hier müssten Strukturen dringend aufgerüstet werden.

Moritz Kraft und seine Kollegen stehen nach der Übung beim Kaffee zusammen. Sie scheinen von der Debatte, wie sich das Land besser vor möglichen Angriffen schützen kann, wenig verunsichert. „Für uns als Katastrophenschützer sind das ja keine neuen Fragen“, sagt Michael Kreinest, Leiter der Stabsstelle Katastrophenmedizin an der BG Klinik in Ludwigshafen und Mitorganisator der Rhein-Neckar-Tage, „das, was wir hier machen, machen wir schließlich schon seit Jahren, doch jetzt ist das Interesse da – und das Geld.“

Eine derart umfangreiche Tagung zu medizinischem Katastrophenschutz wäre vor ein paar Jahren nicht denkbar gewesen, sagt Kreinest. „Wir mussten so was immer nachmittags oder am Wochenende anbieten – heute werden die Teilnehmer von ihrem Arbeitgeber dafür freigestellt.“ Wie viele der Teilnehmer und Referenten hofft er, dass die Debatte auch in der Gesamtgesellschaft Fahrt aufnimmt. Für resiliente Strukturen, nicht nur im Gesundheitswesen, sei es wichtig, dass die Menschen selbst Verantwortung für sich und andere übernähmen, „ob beim Thema Bevorratung oder durch ein Ehrenamt“.