In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Ploiești zeitweilig eine der wichtigsten Städte der Welt, doch sieht man dem Ort seine einstige strategische Bedeutung nicht an. Rumäniens zehntgrößte Stadt hat nichts Grandioses an sich. Das Zentrum mit seinen lieblosen Plätzen und klotzigen Bauten aus der kommunistischen Ceaușescu-Diktatur ist bestenfalls unscheinbar. Doch im Zweiten Weltkrieg blickten West und Ost auf diese Stadt.
Die Ölfelder um Ploiești waren mit Abstand die wichtigste Lieferregion für die deutsche Kriegsmaschinerie im Zweiten Weltkrieg. Ohne Rumäniens Öl, sagte Adolf Hitler Anfang Juni 1942 in einem heimlich auf Tonband aufgezeichneten Gespräch mit dem finnischen Oberbefehlshaber Carl Gustaf Mannerheim, wäre Deutschland „verloren“ und der Angriff auf die Sowjetunion nicht möglich gewesen: „Wenn nun der Russe damals im Herbst 1940 Rumänien besetzt hätte und sich in den Besitz der Petroleumquellen gebracht hätte, dann wären wir im Jahr 1941 hilflos gewesen.“
Diese Bedeutung kannten natürlich auch die Alliierten. Die Vereinigten Staaten versuchten in mehreren Angriffen, die Ölfelder von Ploiești zu vernichten. Doch die kriegsentscheidenden Anlagen waren mit mehr als 25.000 deutschen und rumänischen Verteidigern derart gut gesichert, dass der erste amerikanische Großangriff im August 1943 zu einem Desaster für die US Air Force wurde. Von 178 amerikanischen Bombern, die im libyschen Benghasi gestartet waren, kam ein Drittel nicht und der Rest größtenteils schwer beschädigt zurück.

Hunderte amerikanische Soldaten fielen oder kamen in deutsche Gefangenschaft. Nie wieder verloren die USA anteilig so viele Piloten und Flugzeuge bei einem einzigen Fliegereinsatz wie 1943 über Ploiești. Erst spätere Angriffe hatten Erfolg.
Dass die Ardennenoffensive scheiterte und deutsche Jagdflieger gegen Kriegsende oft aus Kerosinmangel am Boden bleiben mussten, hatte maßgeblich mit dem Verlust von Ploiești im August 1944 zu tun. Im „Muzeul Național al Petrolului“, Rumäniens „Nationalem Ölmuseum“ am Rande des Stadtzentrums, wird hinter Glas an die Zeit erinnert, als die Stadt auf der Weltkarte der Militärstrategen von höchster Bedeutung war.

Matei Bogdan weiß von diesen folgenschweren Jahren natürlich, er hat Dokumentationen auf Youtube darüber gesehen. „Hitlers Tankstelle“ habe man Ploiești genannt, witzelt er. Doch dem Endzwanziger, der in der IT-Branche arbeitet, sind Gegenwart und Zukunft wichtiger.
Er engagiert sich in einer Bürgerinitiative, deren Name sich frei als „Wir aus Ploiești“ übersetzen ließe. Sie wurde erst im Februar 2024 gegründet, hat aber schon einen großen Erfolg errungen: Ein von ihr unterstützter Kandidat konnte als Unabhängiger die Bürgermeisterwahl gewinnen und damit ein Machtkartell verdrängen, das die Stadt über drei Jahrzehnte hinweg beherrscht und ausgeplündert hatte.
Zwei Parteien dominierten die Stadt lange
In Ploiești hatten, wie vielerorts in Rumänien, nach dem Zerfall des Kommunismus stets zwei Parteien den Ton angegeben: die 1992 aus dem kommunistischen Machtapparat hervorgegangene „Partidul Social Democrat“, kurz PSD, und die „Partidul Național Liberal“, oder PNL. Gemeinsam schanzten sich selbst ernannte Sozialdemokraten und vermeintliche Nationalliberale Posten und Macht zu. Das geschah bald in offiziellen Koalitionen, bald in scheinbarem Gegensatz.
Hinter den Kulissen war man durch das gemeinsame Interesse an Bereicherung und einträglichem Amtsmissbrauch geeint. In Ploiești war dieses demokratisch verbrämte Parteien-Duumvirat besonders ausgeprägt. Ploiești sei über Jahrzehnte die am schlechtesten regierte Stadt Rumäniens gewesen, glaubt Bogdan: „Es gab hier nie einen wirklichen Wandel.“
Dass die Büros der beiden Parteien am Hauptplatz der Stadt direkt nebeneinanderliegen, spricht Bände. Bestimmt existiere eine Verbindungstür dazwischen, damit die Parteibarone beim Kaffee ihre nächsten Pläne ausbaldowern können, spottet Bogdan. Er berichtet von Lokalpolitikern, die bei einer Wahl für die PNL, bei der nächsten dann für die PSD kandidierten: „So funktionierte die Politik hier 30 Jahre lang.“
Bis im vergangenen Jahr Mihai Polițeanu kam. Der Neueinsteiger in der Lokalpolitik hatte sich als Bürgerrechtsaktivist einen Namen gemacht. Er ging in die schwierigen Viertel der 180.000 Einwohner zählenden Stadt, sprach mit Anwohnern über deren Sorgen. Ob es die schlechte Busanbindung war, eine dunkle Unterführung oder eine wilde Müllkippe: Polițeanu half den Menschen dabei, Petitionen an die Stadtverwaltung zu richten und Forderungen nach besserer Regierungsführung durchzusetzen.
Bogdan war besonders beeindruckt davon, dass der neue Mann im Wahlkampf vollmundige Versprechungen mied. Da war etwa diese Wahlveranstaltung, bei der die Frage nach einer neuen Mehrzweckhalle und der Modernisierung der Krankenhäuser der Stadt auftauchte.
Die anderen Kandidaten versprachen in üblicher Manier das Blaue vom Himmel und behaupteten, in nur zwei Jahren könne man sowohl die neue Halle als auch neue Krankenhäuser bauen. „Polițeanu dagegen hat erklärt, warum das in einer einzigen Amtszeit von vier Jahren unmöglich sei. Er hat klar gesagt, was er in seiner ersten Amtszeit für diese Stadt tun könne und was nicht.“ Das habe ihn überzeugt davon, dass der Kandidat es ernst meine, erinnert sich Bogdan. Er war nicht allein, so sei es zum Wahlsieg des Außenseiters gekommen. „Die Bürger hatten die Nase voll. Sie wollten endlich echten Wandel.“
Bisher ist Bogdan zufrieden mit dem neuen Mann. Wunder könne niemand erwarten nach wenigen Monaten. „Aber er hat gesagt, er wolle nicht nur im Wahlkampf im Dialog mit den Bürgern stehen, sondern auch danach – und daran hält er sich.“ Die Botschaft des neuen Bürgermeisters laute: Wandel sei möglich.

Ähnlich sieht es der deutsche Schriftsteller Jan Koneffke, der mit seiner rumänischen Frau Cristina, einer Architektin, im Sommerhaus der Familie bei Ploiești empfängt. Am Rand der südlichen Karpaten hat sich das Paar hier ein Refugium geschaffen, das zur Entschleunigung einlädt. In einem Blumenkasten am Balkongeländer döst ein Kater. Im Teich müsste irgendwo ein Karpfen dümpeln, zeigt sich aber nicht.
Koneffke ist vorsichtig optimistisch, was die Entwicklungen in Rumänien betrifft, auch wenn er die Fehlentwicklungen nicht kleinredet. „Die herrschenden Parteien in Rumänien waren mehr als drei Jahrzehnte lang sehr gut darin, das Wahlvolk zu manipulieren.“ Besonders die „Staatspartei“ PSD habe es in dieser Disziplin zur Meisterschaft gebracht.
Nur oberflächlich von kommunistisch auf sozialdemokratisch umlackiert, trugen die Postkommunisten zu Beginn der Neunzigerjahre das alte System in die neue Zeit und retteten den Genossen die Macht. Die PNL als zweite große Partei sei mit den Jahren ebenfalls systematisch unterwandert worden von alten Seilschaften, auch aus dem Sicherheitsapparat. „Die liberale Partei ist im Grunde seit mittlerweile 15 Jahren eine Art Annex der PSD, sodass die Wähler das Gefühl haben müssen, dass bei Wahlen in Rumänien nur Kulissen verschoben werden.“
Das sei auch ein Teil der Erklärung für den vollkommen überraschenden Ausgang der später annullierten Präsidentenwahl im vergangenen Jahr. In deren erster Runde hatte sensationell der unbekannte Außenseiter Călin Georgescu gesiegt, ein prorussischer Schwadroneur und Faschismusverherrlicher, den im Wahlkampf weder Demoskopen noch politische Beobachter beachtet hatten. Eine hochgradig manipulative Kampagne auf Tiktok und anderen sozialen Medien hatte zu Georgescus Erfolg beigetragen. Die Rumänen seien „von den Algorithmen überrumpelt worden“, sagt Koneffke dazu.
Der Kulissen überdrüssig
Doch er sieht auch andere Gründe. Nach all den Enttäuschungen der Vergangenheit hätten die Wahlberechtigten endlich mehr als Kulissenschieberei und Etikettenwechsel gewollt. Sie hätten genug gehabt von den machttaktischen Spielchen von PNL und PSD. Auch deshalb seien die manipulativen Einmischungen zugunsten Georgescus auf fruchtbaren Boden gefallen.
Doch wenn das so ist – war die Annullierung der gesamten Präsidentenwahl, die mancherorts in Europa als „Sieg der Demokratie“ gefeiert wurde, dann wirklich angemessen? Koneffke tut sich nicht leicht mit einer Antwort. „An sich ist dieser Vorgang höchst problematisch und bedenklich, und eigentlich kann man dieser Annullierung nicht zustimmen“, beginnt er seine Antwort, die er dann aber einschränkt. Er erwähnt Falschaussagen Georgescus zu seiner Wahlkampffinanzierung und andere Vorwürfe, die inzwischen ans Licht kamen.

Dass Georgescu von zwielichtigen Paramilitärs unterstützt wurde und bei Razzien im Kreis seiner Anhänger Waffen gefunden wurden, wiegt schwer. Dass Behörden und Regierung all dies erst nach Georgescus Wahlsieg auffiel, allerdings auch. „Ich würde schluckend sagen: Die Annullierung war richtig“, fasst Koneffke seine Haltung zusammen. Vor der neuerlichen Wahl an diesem Sonntag sieht er trotz allem Gründe für Optimismus. Den meisten Menschen in Rumänien gehe es von Jahr zu Jahr besser, die alte Allianz zwischen PSD und PNL sei angeschlagen. Das seien gute Nachrichten, resümiert Koneffke unter dem huldvoll-schläfrigen Blick seines Katers.
Bürgermeister Polițeanu erwartet uns in einem Hochhaus aus verspiegeltem Glas mit Blick auf die Stadt, die ihre Hoffnungen in ihn gesetzt hat. Der Bau war bis vor einigen Jahren die rumänische Zentrale des österreichischen Mineralölkonzerns OMV, der in Ploiești eine Raffinerie betreibt. Zwar hängt am Öl aus Ploiești nicht mehr das Schicksal der Welt, doch für rumänische Verhältnisse sind die schrumpfenden Vorkommen noch bedeutsam. Fast ein Drittel des rumänischen Verbrauchs wird aus heimischen Quellen gedeckt. Außer OMV besitzen auch der kasachische Konzern „Kazmunaygas“ und – erstaunlicherweise – Putins „Lukoil“ in Ploiești große Raffinerien.
Doch wir wollen mit Mihai Polițeanu nicht über die Irrungen und Wirrungen der Weltpolitik reden, auf die er als Provinzbürgermeister ohnehin keinen Einfluss hat. Polițeanu berichtet stattdessen von seinen Kämpfen mit den alten Kräften der Stadt. Der Bürgermeister hat im Stadtrat keine eigene Mehrheit und muss sich die Stimmen für seine Reformen von Fall zu Fall zusammenverhandeln. Manchmal scheitert er dabei. „Ploiești hat eine Geschichte von Korruption, Inkompetenz, Visionslosigkeit und verpassten Chancen“, fasst er die Lage zusammen, die er bei seinem Einzug ins Rathaus vorfand.
Polițeanu erzählt von seinem Kampf gegen korrupte Machenschaften in der lokalen Abfallwirtschaft. „Als ich versucht habe, das für die Müllabfuhr zuständige Unternehmen zu wechseln, gab es einen riesigen Skandal, und bis heute ist es nicht gelungen.“ Auch die Modernisierung der städtischen Fernwärme stockt. „Wir arbeiten noch mit sowjetischer Technik aus den Siebzigerjahren. Das schafft enorme Verluste.“ Eine Modernisierung würde durch Effizienzgewinne viel Geld sparen. Das Problem: „Banken weigern sich, mit der Stadt zu kooperieren, da wir von früher her als schlechte Zahler gelten.“

Wohin Polițeanu auch blickt, überall sieht er Baustellen. Die Straßenbahnen der Stadt sind ein halbes Jahrhundert alt, da zur Modernisierung des Nahverkehrs vorgesehene Mittel versickerten und europäische Fördergelder nicht abgerufen wurden. Weil Ploiești selbst für rumänische Verhältnisse als überdurchschnittlich korrupt galt, kann die Stadt zudem ihre Nähe zu Bukarest nicht als Vorteil ausspielen. Nur etwa 35 Minuten dauert es mit dem Zug in die Hauptstadt. Für Pendler, die sich die Millionenmetropole mit ihren teuren Mieten nicht mehr leisten können oder wollen, müsste Ploiești eigentlich attraktiv sein. Ist es aber nicht.
Bei jungen Leuten gilt die Stadt als uncool. „Niemand wird hier Geld investieren, wenn er weiß, dass er keine hoch qualifizierten Leute anziehen kann. Wir müssen in öffentliche Räume investieren, in Schulen und Parks, in das Zentrum, in Festivals und Veranstaltungen“, beschreibt der Bürgermeister seine Aufgabenliste. Doch der Fortschritt ist eine Schnecke. Oft wird Polițeanu ausgebremst.
Die früheren Machthaber wollen ihn scheitern sehen, um wieder selbst an die Töpfe zu gelangen. In Polițeanus Büro hängt eine gerahmte Reproduktion von Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“. Der Bürgermeister schätzt die deutsche Romantik und besonders das Bild von dem Mann, der von einem Berggipfel auf nebelverhangene Tiefen blickt, unter denen sich Unbekanntes verbirgt. Polițeanus Lage ist ähnlich.

„Ich weiß nicht, ob ich Erfolg haben werde. Ich hoffe es“, antwortet er auf die Frage, ob er glaube, dass die Menschen ihm am Ende seiner ersten Amtszeit immer noch vertrauen werden. „Aber ich bin ziemlich optimistisch, dass sich die Stadt in drei bis fünf Jahren dramatisch verändern kann.“ Das gelte auch für Rumänien insgesamt. Das Erschrecken darüber, dass ein radikaler Wirrkopf wie Georgescu bei der Präsidentenwahl die meisten Stimmen erhielt, sitzt bei Polițeanu noch tief, ebenso wie das Unbehagen über die äußerst heikle Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Annullierung der Abstimmung.
Der Politiker glaubt nicht, dass seine Landsleute Georgescu wegen seiner radikalen Aussagen gewählt haben. „Aus meiner Sicht war das kein ideologisches Votum – prorussisch, Anti-LGBT oder so. Die meisten Menschen interessiert das nicht. Es war ein Votum gegen das System. Die Leute sind die Korruption, die alten Politiker und die politischen Lügen leid.“ Der Bürgermeister scheint auf ein weiseres Urteil seiner Landsleute bei der neuerlichen Wahl zu hoffen. „Wir sind zu Recht sehr unzufrieden mit der Qualität der politischen Klasse in Rumänien, mit der Korruption, mit der Art, wie dieses Land jahrzehntelang regiert wurde. Und dennoch leben wir in der besten Zeit von Rumäniens Geschichte: sicherheitspolitisch, wirtschaftlich, bildungspolitisch.“
Tatsächlich leben die Rumänen freier und wohlhabender als je zuvor in ihrer Geschichte. Die Kommunisten sind nicht mehr da. Ihre sozialdemokratischen Nachfolger und deren nationalliberale Scheinwidersacher sind angeschlagen. Jedes Jahr geht es dem Land ein wenig besser. Was bleibt, ist der Kampf für eine bessere Gesellschaft, der nie beendet sein wird. Weder in Ploieşti noch anderswo.