Wie Friedrich Merz Patrick Schnieder ins Kabinett holte

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Als Patrick Schnieder eines Morgens in sein Abgeordnetenbüro spazierte, sagte ihm die Sekretärin, er solle um 11.30 Uhr im Büro des Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz vorbeischauen. Das war nichts Ungewöhnliches. Schnieder ist Landesgruppenvorsitzender für Rheinland-Pfalz und einer der Parlamentarischen Geschäftsführer, da gibt es immer etwas zu besprechen.

An ein Ministeramt dachte er nicht. Mit Julia Klöckner als Bundestagspräsidentin war schon eine Rheinland-Pfälzerin in einem hohen Amt, damit war seine Landesgruppe sowieso aus dem Rennen, dachte Schnieder. Er gilt als solider, ruhiger, verlässlicher Abgeordneter. Seine Ambition war höchstens, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer zu werden, also aus der vierten Reihe in die dritte aufzusteigen.

11.30 Uhr: Merz fragt, ob Schnieder Verkehrsminister werden wolle. Einfach so, aus heiterem Himmel. Schnieder ist völlig überrascht. Er? Nun, immerhin war er mehr als zehn Jahre im Verkehrsausschuss. Er sagt, er müsse das mit seiner Frau besprechen, bedankt sich für das Vertrauen. Merz gibt ihm vier Tage.

Es ist noch früh in der Regierungsbildung, zu früh, um sicher zu sein, dass die CDU das Verkehrsministerium wirklich bekommt. Nach vier Tagen sagt Schnieder zu. Nun wird er bald vereidigt, es ist der vorläufige Gipfel seiner Karriere. Wie hat er das geschafft? Warum er? Warum jetzt?

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Schnieder weiß das auch nicht. Er hat nie etwas eingefordert. Er ist nicht einer von denen, die ständig SMS an den Vorsitzenden schreiben oder um Termine bitten. Er hat einfach seine Arbeit gemacht, Themen ohne Glamourfaktor, Geschäftsordnung, Untersuchungsausschuss. Er ist beliebt in der Fraktion, das zeigen seine Wahlergebnisse als Geschäftsführer. Wenn er dort redet, dann zur Sache, ohne Show. Das hat dem Vorsitzenden offenbar gefallen.

Als sein Ministerposten entschieden wurde, waren vielleicht fünf Leute eingeweiht. Merz, Schnieder, zwei Vertraute von Merz und Schnieders Frau. Sonst niemand. Und so blieb das viele Wochen lang. Niemand wusste es, niemand erwartete es. Wer Anekdoten von anderen Bundeskanzlern hört, merkt: Das ist in solchen Dingen keine Ausnahme und auch kein Zufall.

Nach ein paar Tagen wissen es achtzig Millionen

An einem Freitag im Oktober 2005 zum Beispiel stand Angela Merkel unter Druck. Die SPD hatte gerade ihre Ministernamen veröffentlicht, und jetzt wurde Merkel von allen gefragt, wer in ihr Kabinett kommt. Aber Merkel hatte noch nicht alle Namen beisammen. Und sie konnte niemanden um Rat fragen. Wenn drei Leute in Berlin etwas wissen, dann wissen es auch deren drei Büroleiter, dann sind es schon neun Leute, und die reden wieder mit drei Vertrauten. Wenn dann ein paar Tage vergehen, wissen es achtzig Millionen. Etwas musste also passieren.

Friedrich Merz bei der Vorstellung der Unionsminister am 28. April
Friedrich Merz bei der Vorstellung der Unionsminister am 28. Aprildpa

Merkel ließ das Büro des sächsischen Innenministers Thomas de Maizière anrufen und bat um ein Telefonat am Samstagvormittag. Normalerweise nennen Politiker ein Stichwort, worum es geht. Merkel nannte aber keins. Das bedeutet unter Politikern: Es gibt richtig Ärger. Oder: Es geht um einen Posten. Weil gerade Regierungsbildung war, ahnte de Maizière etwas, aber er dachte, Merkel wolle ihn zum Ostbeauftragten der Bundesregierung machen. An den Chef des Bundeskanzleramts dachte er nicht, da waren Norbert Röttgen und Erwin Huber im Rennen.

Samstag Vormittag, Merkel ruft an. Kein Geplänkel, kein Small Talk, sie kommt sofort zum Punkt. Ob de Maizièr­e „Chef BK“ werden wolle. Er solle sich das überlegen. De Maizière sagt, er wolle eine Nacht darüber schlafen. Merkel lehnt das ab. Eine späte Absage hätte ihr wertvolle Zeit gestohlen, einen Ersatz zu finden. Nicht alle glauben damals an Merkel. De Maizière muss sich also überlegen, worauf er sich einlässt. Er bekommt wenige Stunden Bedenkzeit. Und sagt zu.

Alle reden auf die Parteivorsitzende ein

Einen Kanzleramtschef kann eine Kanzlerin einfach so aussuchen, da sagt niemand: Du musst aber jemanden aus Nordrhein-Westfalen nehmen. Oder: Es muss aber eine Frau sein. Bei allen anderen Ministerien ist das anders. Da kommen die Landesvorsitzenden, die Ministerpräsidenten, die alten Weggefährten, die Präsidiumsmitglieder, die Abgeordneten, die Besorgten, die Aufgeregten, die Altklugen. Alle reden wochenlang auf die einzige Person ein, die allein entscheidet: die Parteivorsitzende.

Der designierte Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder
Der designierte Bundesverkehrsminister Patrick SchniederAFP

Manchmal fragte Merkel ihren Kanzleramtschef, was er von der oder dem halte. Durch den Zeitpunkt der Frage war klar, worum es ging: Merkel überlegte, jemanden zum Minister zu machen. Aber sie sagte das nicht offen, und de Maizière sprach es auch nicht aus. So heikel sind Personalfragen, dass Merkel nicht mal ihren engsten Vertrauten gegenüber offen sprach. Es passierte nur in ihrem Kopf. Der Fußballtrainer Sepp Herberger hatte immer ein schwarzes Notizbuch, in das er Namen von Spielern schrieb, die ihm auffielen. „Es ist sehr wichtig, dass man im Laufe der Zeit Menschen beobachtet“, sagt de Maizière. „Ich hatte auch so eine Art Notizbuch im Kopf mit den Namen interessanter Mitarbeiter.“

Der Trick ist: Es müssen Namen sein, auf die nicht jeder kommt. Der Parteivorsitzende wirkt sonst wie eine Marionette, die sich von Landesvorsitzenden oder Flügelvertretern ihr Kabinett diktieren lässt. Deshalb sagt Thomas de Maizière: „Ein Riegenführer, wie ich die Parteivorsitzenden mal nenne, ist immer gut beraten, ein, zwei Überraschungskandidaten zu haben, mit denen niemand gerechnet hat.“ Schnieder als Verkehrsminister zum Beispiel oder Nina Warken als Gesundheitsministerin. Dann ist das Publikum überrascht. Und ein überraschtes Publikum muss anerkennen: Der Chef entscheidet. Niemand sonst.

Keine Paradiesvögel, kein Guttenberg, kein Lauterbach

De Maizière erkennt bei Merz eine Handschrift: keine Paradiesvögel, kein Guttenberg, kein Lauterbach. „Es sind schwere Zeiten, die Deutschen mögen Paradiesvögel auf Dauer nicht“, sagt er. Und: Kaum etwas drang nach außen. Der Apparat hielt dicht. De Maizière findet das nicht trivial. In den Bundestagsbüros können andere Abgeordnete sehen, wer in das Büro des Fraktionsvorsitzenden geht und wie lange er drinbleibt. Mitarbeiter können den Terminkalender einsehen. Wenn das eine Büro mit dem anderen ein Telefonat ausmacht, wissen es gleich fünf Leute. Also muss geschickt vorgegangen werden, Gespräche am Wochenende, außerhalb des Regierungsviertels, direkte Telefonate ohne Büros. Laut de Maizière soll Merkel manchmal Vertrauten etwas erzählt haben, nur um zu testen, ob es an die Öffentlichkeit gelangt. Im Apparat von Merz haben diesen Test offenbar viele bestanden.

Der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière im März 2025
Der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière im März 2025AFP

Am 27. November 2009 war Vertraulichkeit nicht das Problem, sondern der Proporz. Franz Josef Jung trat als Arbeitsminister zurück, es war die Kundus-Affäre, Jung war vorher Verteidigungsminister gewesen. Die hessische CDU-Abgeordnete Kristina Köhler, wie sie damals noch hieß, saß in ihrem Büro und hörte von Jungs Rücktritt. Sie fand das eine interessante politische Entwicklung und fragte sich, ob der Nachfolger wie Jung auch aus Hessen kommen werde. Da kam schon ihr Büroleiter rein, Angela Merkel sei am Telefon.

Merkel erzählte, dass Familienministerin Ursula von der Leyen das Arbeitsministerium übernehmen würde. Und dass sie, Köhler, Familienministerin werden könne. Das war ein Schachzug. Merkel wollte den Regionalproporz wahren, also jemanden aus Hessen holen. Aber sie verschob die hessische Position ins weniger wichtige Familienministerium und sprach kein Wort darüber mit dem hessischen CDU-Vorsitzenden Roland Koch. Sie fragte Köhler einfach direkt. Und Köhler sagte: Nein.

Also raste Schröder ins Bundesinnenministerium

Sie hatte gerade die Einladungen für ihre Hochzeit mit Ole Schröder verschickt, einem Staatssekretär aus dem Bun­desinnenministerium. Sie wollte eine Familie gründen, Kinder kriegen. Merkel war verständnisvoll, erklärte, das könne man doch hinkriegen, und gab ihr eine Stunde Bedenkzeit. Also raste Kristina Schröder, wie sie heute heißt, ins Bundesinnenministerium und holte ihren Mann aus einer Besprechung mit dem griechischen Botschafter. Das Paar beriet. Sie hatten noch vierzig Minuten. Dann rief Schröder ihre Eltern an, die schworen, bei der Kinderbetreuung zu helfen. Da war die Zeit fast um. Sie sagte zu.

Die frühere Bundesfamilienministerin Kristina Schröder bei ihrer letzten Bundestagsrede im Jahr 2017
Die frühere Bundesfamilienministerin Kristina Schröder bei ihrer letzten Bundestagsrede im Jahr 2017dpa

Wenn Schröder auf das künftige Bundeskabinett schaut, fällt ihr auf, wie wenig Merz sich um Proporzfragen schert. Niedersachsen und Hessen haben gar keinen Minister. Sie findet das gut. „So einen Landesproporz oder Geschlechterproporz halte ich für systemwidrig. Das führt notwendigerweise zu einer schlechteren Auswahl“, sagt sie.

Es gibt nur einen Proporz, an dem kein Unionskanzler vorbeikommt: den zwischen CDU und CSU. Ohne Bayern am Kabinettstisch geht es nicht, und wenn ein Bayer geht, muss wieder einer kommen – das ist eiserne Regel. 1989 war Gerda Hasselfeldt erst seit zwei Jahren Abgeordnete im Bundestag, als an einem Mittwochmittag ihr Telefon klingelte. Theo Waigel war dran, der CSU-Vorsitzende: „Können Sie sich vorstellen, nach Bonn zu gehen, als Bauministerin?“

Das Ansehen der Regierung Kohl war im Keller, die Union in Umfragen deutlich unter 40 Prozent gefallen. Damals galt das als Katastrophe. Der Kanzler wollte sein Kabinett umbilden – da ist Politik wie Fußball: Wenn der Verein schwächelt, müssen neue Köpfe her. Neben einigen anderen sollte auch der CSU-Bauminister Oscar Schneider gehen. Es hätte einige CSU-Leute gegeben, die in Frage gekommen wären, aber Waigel wollte Hasselfeldt. Sie war erst 38 und ein Frischling in Bonn, doch dem Parteichef war sie früh aufgefallen, weil sie in den Ausschüssen gut auftrat und sich in die Themen schnell einarbeitete.

Kohl war freundlich

Hasselfeldt überlegte. Sie hatte zwei kleine Kinder und musste erst mit ihrem Mann sprechen, einem Lehrer. Waigel drängte, die Hasselfeldts besprachen sich: Ihr Mann versprach, sich zu kümmern, und sie sagte Waigel zu. Am nächsten Tag musste Hasselfeldt nach Bonn, zum Antrittsbesuch. Aufgeregt ging sie im Kanzleramt durch die langen Flure zu Kohl – sie war vorher noch nie im Bungalow gewesen. Kohl war freundlich, sie redeten über das Ministerium, die politische Lage, die Familie. Beim Rausgehen lief sie dem FDP-Vorsitzenden Otto Graf Lambsdorff in die Arme, der einen Termin beim Kanzler hatte. Lambsdorff grüßte, dann fragte er schnippisch: „Wie lange sind Sie eigentlich schon Abgeordnete?“ Das war eine paternalistische Frechheit, aber Hasselfeldt blieb ruhig: „Zwei Jahre.“ Heute, sagt sie, würde ihr eine andere Antwort einfallen: „Lange genug!“

Die frühere Bundesministerin Gerda Hasselfeldt
Die frühere Bundesministerin Gerda Hasselfeldtdpa

Wie viel Erfahrung genug ist, ist bei jedem anders. 2002 zum Beispiel hatte Gerhard Schröder die Wahl gewonnen und brauchte eine Justizministerin. Die bisherige, Herta Däubler-Gmelin, hätte wohl gern weitergemacht, galt aber als verbrannt – auch weil sie George W. Bush bei einer Diskussionsrunde angeblich mit Hitler verglichen hatte. Also griff Schröder in letzter Minute zum Telefon und rief eine alte Bekannte an: Brigitte Zypries, Staatssekretärin im Innenministerium, eine erfahrene Juristin, die er schon aus Niedersachsen kannte. „Du weißt ja, du musst das jetzt machen!“, sagte Schröder. Zypries sagte sofort Ja. Sie hatte schon vermutet, dass es auf sie hinauslaufen würde. „Ich habe Glück gehabt“, sagt sie, Glück sei wichtig in der Politik. Minister seien weniger Fachleute, eher Manager: Man müsse kein Arzt sein, um ein guter Gesundheitsminister zu werden. „Wichtig ist die Fähigkeit, aus dem Wust an Akten, die einem jeden Tag hingelegt werden, die eine rausfischen zu können, die eventuell anbrennen könnte.“

Ein Ministeramt kann eine Karriere krönen, aber auch zerstören. Deshalb zögern viele, sogar Theo Waigel. Es geschah im März 1989, vor jener Kabinettsumbildung Helmut Kohls, die auch Gerda Hasselfeldt nach Bonn spülte. Der Kanzler hatte den französischen Präsidenten François Mitterrand in die deutsche Provinz eingeladen, in Waigels baye­rischen Heimatwahlkreis. Kohl und Waigel flogen nach Günzburg, um Mitterrands Maschine auf einem Militärflugplatz zu empfangen. Auf dem Flug fragte Kohl: „Bist du bereit?“ Die Kabinettsumbildung war umfangreich, Hassel­feldt sollte Bauministerin werden, Wolfgang Schäuble Innenminister, Waigel ins Finanzressort, als Ersatz für Gerhard Stoltenberg. Waigel hatte Ahnung von Finanz- und Wirtschaftsfragen, außer­dem konnte er gut mit Kohl.

Der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel im Oktober 2022
Der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel im Oktober 2022dpa

Aber er zögerte. Er hatte sich von seiner Frau getrennt, war aber noch nicht geschieden und rechnete mit unangenehmer Presse. Kohl fürchtete das nicht. Aber Waigel war auch erst seit ein paar Monaten CSU-Vorsitzender und wollte sich nicht durch den Eintritt in eine unbeliebte Regierung beschädigen. „Alle meine Freunde haben mir abgeraten“, sagt Waigel heute. Nach ein paar Tagen sagte er Kohl trotzdem zu, weil ihn das Risiko reizte – und die Aussicht, im Ministerium so großen Namen wie Fritz Schäffer, Franz-Josef Strauß, Karl Schiller und Helmut Schmidt zu folgen.

Wenige Wochen später fiel die Mauer, und Waigel wurde zu einem der Architekten der Wiedervereinigung, der unter anderem die Währungsunion mit der DDR verhandelte. Am Ende blieb er mehr als neun Jahre im Amt, länger als alle Finanzminister vor und nach ihm. „Dass ich trotz meiner Zweifel doch Ja gesagt habe, war eine glückliche Fügung“, sagt er.

Waigel findet nicht, dass jeder jedes Ressort kann. Ein Wirtschaftsexperte könne auch Finanzen machen, und der Verteidigungsminister auch das Außenamt. Aber ohne Affinität zum Thema sei alles nichts.

In den 1980er-Jahren sagte Kanzler Helmut Schmidt, der mit Waigel befreundet war, ihm einmal: „Sie müssen mal Verteidigungsminister werden!“ Waigel tat das ab. Er hatte nicht gedient, sein Vater hatte zwei Weltkriege erlebt, sein einziger Bruder war im Krieg gefallen. „Ich wäre ganz sicher kein guter Verteidigungsminister geworden“, sagt er. Auch den Agrarminister hätte er abgelehnt. Waigel kommt vom Land. Er weiß, wie fordernd Bauern sein können. Dann doch lieber was mit Finanzen.